Abschnitt 1

Englische Fragmente


XI Die Befreiung


Wenn mir mal die Zeit der müßigen Untersuchungen wiederkehrt, so werde ich langweiligst gründlich beweisen, daß nicht Indien, sondern Ägypten jenes Kastentum hervorgebracht hat, das seit zwei Jahrtausenden in jede Landestracht sich zu vermummen und jede Zeit in ihrer eigenen Sprache zu täuschen wußte, das vielleicht jetzt tot ist, aber, den Schein des Lebens erheuchelnd, noch immer bösäugig und unheilstiftend unter uns wandelt, mit seinem Leichendufte unser blühendes Leben vergiftet, ja, als ein Vampir des Mittelalters, den Völkern das Blut und das Licht aus den Herzen saugt. Dem Schlamme des Niltals entstiegen nicht bloß die Krokodile, die so gut weinen können, sondern auch jene Priester, die es noch besser verstehen, und jener privilegiert erbliche Kriegerstand, der in Mordgier und Gefräßigkeit die Krokodile noch übertrifft.

Zwei tiefsinnige Männer deutscher Nation entdeckten den heilsamsten Gegenzauber wider die schlimmste aller ägyptischen Plagen, und durch schwarze Kunst – durch die Buchdruckerei und das Pulver – brachen sie die Gewalt jener geistlichen und weltlichen Hierarchie, die sich aus einer Verbündung des Priestertums und der Kriegerkaste, nämlich der sogenannten katholischen Kirche und des Feudaladels, gebildet hatte und die ganz Europa weltlich und geistlich knechtete. Die Druckerpresse zersprengte das Dogmengebäude, worin der Großpfaffe von Rom die Geister gekerkert, und Nordeuropa atmete wieder frei, entlastet von dem nächtlichen Alp jener Klerisei, die zwar in der Form von der ägyptischen Standeserblichkeit abgewichen war, im Geiste aber dem ägyptischen Priestersysteme um so getreuer bleiben konnte, da sie sich nicht durch natürliche Fortpflanzung, sondern unnatürlich, durch mameluckenhafte Rekrutierung, als eine Korporation von Hagestolzen, noch schroffer darstellte. Ebenso sehen wir, wie die Kriegerkaste ihre Macht verliert, seit die alte Handwerksroutine nicht mehr von Nutzen ist bei der neuen Kriegsweise; denn von dem Posaunentone der Kanonen werden jetzt die stärksten Burgtürme niedergeblasen, wie weiland die Mauern von Jericho, der eiserne Harnisch des Ritters schützt gegen den bleiernen Regen ebensowenig wie der leinene Kittel des Bauers; das Pulver macht die Menschen gleich, eine bürgerliche Flinte geht ebensogut los wie eine adlige Flinte – das Volk erhebt sich.

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Die früheren Bestrebungen, die wir in der Geschichte der lombardischen und toskanischen Republiken, der spanischen Kommunen und der freien Städte in Deutschland und andren Ländern erkennen, verdienen nicht die Ehre, eine Volkserhebung genannt zu werden; es war kein Streben nach Freiheit, sondern nach Freiheiten, kein Kampf für Rechte, sondern für Gerechtsame; Korporationen stritten um Privilegien, und es blieb alles in den festen Schranken des Gilden- und Zunftwesens. Erst zur Zeit der Reformation wurde der Kampf von allgemeiner und geistiger Art, und die Freiheit wurde verlangt, nicht als ein hergebrachtes, sondern als ein ursprüngliches, nicht als ein erworbenes, sondern als ein angeborenes Recht. Da wurden nicht mehr alte Pergamente, sondern Prinzipien vorgebracht; und der Bauer in Deutschland und der Puritaner in England beriefen sich auf das Evangelium, dessen Aussprüche damals an Vernunft Statt galten, ja noch höher galten, nämlich als eine geoffenbarte Vernunft Gottes. Da stand deutlich ausgesprochen, daß die Menschen von gleich edler Geburt sind, daß hochmütiges Besserdünken verdammt werden muß, daß der Reichtum eine Sünde ist und daß auch die Armen berufen sind zum Genusse, in dem schönen Garten Gottes, des gemeinsamen Vaters.

Mit der Bibel in der einen Hand und mit dem Schwerte in der anderen zogen die Bauern durch das südliche Deutschland, und der üppigen Bürgerschaft im hochgetürmten Nürnberg ließen sie sagen, es solle künftig kein Haus im Reiche stehenbleiben, das anders aussähe als ein Bauernhaus. So wahr und tief hatten sie die Gleichheit begriffen. Noch heutigentags, in Franken und Schwaben, schauen wir die Spuren dieser Gleichheitslehre, und eine grauenhafte Ehrfurcht vor dem heiligen Geiste überschleicht den Wanderer, wenn er im Mondschein die dunkeln Burgtrümmer sieht aus der Zeit des Bauernkriegs. Wohl dem, der, nüchternen Sinns, nichts anderes sieht; ist man aber ein Sonntagskind – und das ist jeder Geschichtskundige –, so sieht man auch die hohe Jagd, die der deutsche Adel, der roheste der Welt, gegen die Besiegten geübt, man sieht, wie tausendweis die Wehrlosen totgeschlagen, gefoltert, gespießt und gemartert wurden, und aus den wogenden Kornfeldern sieht man sie geheimnisvoll nicken, die blutigen Bauernköpfe, und drüber hin hört man pfeifen eine entsetzliche Lerche, rachegellend, wie der Pfeifer vom Helfenstein.

Etwas besser erging es den Brüdern in England und Schottland; ihr Untergang war nicht so schmählich und erfolglos, und noch jetzt sehen wir dort die Früchte ihres Regiments. Aber es gelang ihnen keine feste Begründung desselben, die sauberen Kavaliere herrschen wieder nach wie vor und ergötzen sich an den Spaßgeschichten von den alten, starren Stutzköpfen, die der befreundete Barde zu ihrer müßigen Unterhaltung so hübsch beschrieben. Keine gesellschaftliche Umwälzung hat in Großbritannien stattgefunden, das Gerüste der bürgerlichen und politischen Institutionen blieb unzerstört, die Kastenherrschaft und das Zunftwesen hat sich dort bis auf den heutigen Tag erhalten, und obgleich getränkt von dem Lichte und der Wärme der neuern Zivilisation, verharrt England in einem mittelalterlichen Zustande oder vielmehr im Zustande eines fashionablen Mittelalters. Die Konzessionen, die dort den liberalen Ideen gemacht worden, sind dieser mittelalterlichen Starrheit nur mühsam abgekämpft worden; und nie aus einem Prinzip, sondern aus der faktischen Notwendigkeit sind alle modernen Verbesserungen hervorgegangen, und sie tragen alle den Fluch der Halbheit, die immer neue Drangsal und neuen Todeskampf und dessen Gefahren nötig macht. Die religiöse Reformation ist in England nur halb vollbracht, und zwischen den kahlen vier Gefängniswänden der bischöflich anglikanischen Kirche befindet man sich noch viel schlechter als in dem weiten, hübsch bemalten und weich gepolsterten Geisteskerker des Katholizismus. Mit der politischen Reformation ist es nicht viel besser gegangen, die Volksvertretung ist so mangelhaft als möglich: wenn die Stände sich auch nicht mehr durch den Rock trennen, so trennen sie sich doch noch immer durch verschiedenen Gerichtsstand, Patronage, Hoffähigkeit, Prärogative, Gewohnheitsvorrechte und sonstige Fatalien; und wenn Eigentum und Person des Volks nicht mehr von aristokratischer Willkür, sondern vom Gesetze abhängen, so sind doch diese Gesetze nichts anderes als eine andere Art von Zähnen, womit die aristokratische Brut ihre Beute erhascht, und eine andere Art von Dolchen, womit sie das Volk meuchelt. Denn wahrlich, kein Tyrann vom Kontinente würde aus Willkürlust soviel Taxen erpressen, als das englische Volk von Gesetz wegen bezahlen muß, und kein Tyrann war jemals so grausam wie Englands Kriminalgesetze, die täglich morden, für den Betrag eines Schillings und mit Buchstabenkälte. Wird auch seit kurzem manche Verbesserung dieses trüben Zustandes in England vorbereitet, werden auch der weltlichen und geistlichen Habsucht hie und da Schranken gesetzt, wird auch jetzt die große Lüge einer Volksvertretung einigermaßen begütigt, indem man hie und da einem großen Fabrikorte die verwirkte Wahlstimme von einem rotten borough überträgt, wird gleichfalls hie und da die harsche Intoleranz gemildert, indem man auch einige andere Sekten bevorrechtet – so ist dieses alles doch nur leidige Altflickerei, die nicht lange vorhält, und der dümmste Schneider in England kann voraussehen, daß über kurz oder lang das alte Staats kleid in trübseligen Fetzen auseinanderreißt.

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Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Vierter Teil