Abschnitt 2

Reise von München nach Genua


Kapitel III


„Und des ist der Demagog des neuen Athens?“ frug spottlächelnd der Berliner. „Du juter Jott, des ist ja ein Landsmann von mich! Ich traue kaum meinen leiblichen Augen – des ist ja derjenige, welcher – Nee, des ist die Möglichkeit!“

„Ja, ihr verblendeten Berliner“, sprach ich, nicht ohne Feuer, „ihr verkennt eure heimischen Genies und steinigt eure Propheten. Wir aber können alles gebrauchen!“

„Und wozu braucht ihr denn diese unglückliche Fliege?“

„Er ist zu allem zu gebrauchen, wozu Springen, Kriechen, Gemüt, Fressen, Frömmigkeit, viel Altdeutsch, wenig Latein und gar kein Griechisch nötig ist. Er springt wirklich sehr gut übern Stock, macht auch Tabellen von allen möglichen Sprüngen und Verzeichnisse von allen möglichen Lesarten altdeutscher Gedichte. Dazu repräsentiert er die Vaterlandsliebe, ohne im mindesten gefährlich zu sein. Denn man weiß sehr gut, daß er sich von den altdeutschen Demagogen, unter welchen er sich mal zufällig befunden, zu rechter Zeit zurückgezogen, als ihre Sache etwas gefährlich wurde und daher mit den christlichen Gefühlen seines weichen Herzens nicht mehr übereinstimmte. Seitdem aber die Gefahr verschwunden, die Märtyrer für ihre Gesinnung gelitten, fast alle sie von selbst aufgegeben und sogar unsere feurigsten Barbiere ihre deutschen Röcke ausgezogen haben, seitdem hat die Blütezeit unseres vorsichtigen Vaterlandsretters erst recht begonnen; er allein hat noch das Demagogenkostüm und die dazugehörigen Redensarten beibehalten; er preist noch immer Arminius den Cherusker und Frau Thusnelda, als sei er ihr blonder Enkel; er bewahrt noch immer seinen germanisch-patriotischen Haß gegen welsches Babeltum, gegen die Erfindung der Seife, gegen Thierschs heidnisch-griechische Grammatik, gegen Quinctilius Varus, gegen Handschuh’ und gegen alle Menschen, die eine anständige Nase haben; – und so steht er da als wandelndes Denkmal einer untergegangenen Zeit, und wie der letzte Mohikan ist auch er allein übriggeblieben von einer ganzen tatkräftigen Horde, er, der letzte Demagoge. Sie sehen also, daß wir im neuen Athen, wo es noch ganz an Demagogen fehlt, diesen Mann brauchen können, wir haben an ihm einen sehr guten Demagogen, der zugleich so zahm ist, daß er jeden Speichelnapf beleckt und aus der Hand frißt, Haselnüsse, Kastanien, Käse, Würstchen, kurz, alles frißt, was man ihm gibt; und da er jetzt einzig in seiner Art, so haben wir noch den besonderen Vorteil, daß wir späterhin, wenn er krepiert ist, ihn ausstopfen lassen und als den letzten Demagogen mit Haut und Haar für die Nachwelt aufbewahren können. Ich bitte Sie jedoch, sagen Sie das nicht dem Professor Lichtenstein in Berlin, der ließe ihn sonst für das zoologische Museum reklamieren, welches Anlaß zu einem Kriege zwischen Preußen und Bayern geben könnte, da wir ihn auf keinen Fall ausliefern werden. Schon haben die Engländer ihn aufs Korn genommen und zweitausendsiebenhundertsiebenundsiebenzig Guineen für ihn geboten, schon haben die Östreicher ihn gegen die Giraffe eintauschen wollen; aber unser Ministerium soll geäußert haben: ‚Der letzte Demagog ist uns für keinen Preis feil, er wird einst der Stolz unseres Naturalienkabinetts und die Zierde unserer Stadt.‘“

Der Berliner schien etwas zerstreut zuzuhören, schönere Gegenstände hatten seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, und er fiel mir endlich in die Rede mit den Worten: „Erlauben Sie gehorsamst, daß ich Sie unterbreche, aber sagen Sie mir doch, was ist denn das für ein Hund, der dort läuft?“

„Das ist ein anderer Hund.“

„Ach, Sie verstehen mich nicht, ich meine jenen großen, weißzottigen Hund ohne Schwanz?“

„Mein lieber Herr, das ist der Hund des neuen Alkibiades.“

„Aber“, bemerkte der Berliner, „sagen Sie mir doch, wo ist denn der neue Alkibiades selbst?“

„Aufrichtig gestanden“, antwortete ich, „diese Stelle ist noch nicht besetzt, und wir haben erst den Hund.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Dritter Teil