Abschnitt 3

Die Bäder von Lucca


Kapitel IX


„Welche Schwärmerei!“ – rief Hyazinth – „das Große Los, 100.000 Mark!“

„Ja, lieber als das Große Los“ – fuhr Gumpelino fort – „wär mir so eine Nacht, und ach! sie hat mir schon oft eine solche Nacht versprochen, bei der ersten Gelegenheit, und ich hab mir schon gedacht, daß sie dann des Morgens deklamieren wird, ganz wie die Crelinger:

‚Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern.
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub, Lieber, mir, es war die Nachtigall.‘“

„Das Große Los für eine einzige Nacht!“ – wiederholte unterdessen mehrmals Hyazinth und konnte sich nicht zufriedengeben – „Ich habe eine große Meinung, Herr Marchese, von Ihrer Bildung, aber daß Sie es in der Schwärmerei so weit gebracht, hätte ich nicht geglaubt. Die Liebe sollte einem lieber sein als das Große Los! Wirklich, Herr Marchese, seit ich mit Ihnen Umgang habe, als Bedienter, habe ich mir schon viel Bildung angewöhnt; aber soviel weiß ich, nicht einmal ein Achtelchen vom Großen Los gäbe ich für die Liebe! Gott soll mich davor bewahren! Wenn ich auch rechne fünfhundert Mark Abzugsdekort, so bleiben doch noch immer zwölftausend Mark! Die Liebe! Wenn ich alles zusammenrechne, was mich die Liebe gekostet hat, kommen nur zwölf Mark und dreizehn Schilling heraus. Die Liebe! Ich habe auch viel Umsonstglück in der Liebe gehabt, was mich gar nichts gekostet hat; nur dann und wann habe ich mal meiner Geliebten par complaisance die Hühneraugen geschnitten. Ein wahres, gefühlvoll leidenschaftliches Attachement hatte ich nur ein einziges Mal, und das war die dicke Gudel vom Dreckwall. Die Frau spielte bei mir, und wenn ich kam, ihr das Los zu renovieren, drückte sie mir immer ein Stück Kuchen in die Hand, ein Stück sehr guten Kuchen; – auch hat sie mir manchmal etwas Eingemachtes gege ben und ein Likörchen dabei, und als ich ihr einmal klagte, daß ich mit Gemütsbeschwerden behaftet sei, gab sie mir das Rezept zu den Pulvern, die ihr eigner Mann braucht. Ich brauche die Pulver noch bis zur heutigen Stunde, sie tun immer ihre Wirkung – weitere Folgen hat unsere Liebe nicht gehabt. Ich dächte, Herr Marchese, Sie brauchten mal eins von diesen Pulvern. Es war mein erstes, als ich nach Italien kam, daß ich in Mailand nach der Apotheke ging und mir die Pulver machen ließ, und ich trage sie beständig bei mir. Warten Sie nur, ich will sie suchen, und wenn ich suche, so finde ich sie, und wenn ich sie finde, so müssen sie Ew. Exzellenz einnehmen.“

Es wäre zu weitläuftig, wenn ich den Kommentar wiederholen wollte, womit der geschäftige Sucher jedes Stück begleitete, das er aus seiner Tasche kramte. Da kam zum Vorschein: 1. ein halbes Wachslicht, 2. ein silbernes Etui, worin die Instrumente zum Schneiden der Hühneraugen, 3. eine Zitrone, 4. eine Pistole, die, obgleich nicht geladen, dennoch mit Papier umwickelt war, vielleicht, damit ihr Anblick keine gefährliche Träume verursache, 5. eine gedruckte Liste von der letzten Ziehung der großen Hamburger Lotterie, 6. ein schwarzledernes Büchlein, worin die Psalmen Davids und die ausstehenden Schulden, 7. ein dürres Weidensträußchen, wie zu einem Knoten verschlungen, 8. ein Päckchen, das mit verblichenem Rosataffet überzogen war und die Quittung eines Lotterieloses enthielt, das einst fünfzigtausend Mark gewonnen, 9 ein plattes Stück Brot, wie weißgebackner Schiffszwieback, mit einem kleinen Loch in der Mitte, und endlich 10. die obenerwähnten Pulver, die der kleine Mann mit einer gewissen Rührung und mit seinem verwundert wehmütigen Kopfschütteln betrachtete.

„Wenn ich bedenke“ – seufzte er –, „daß mir vor zehn Jahren die dicke Gudel dies Rezept gegeben und daß ich jetzt in Italien bin und dasselbe Rezept in Händen habe und wieder die Worte lese: Sal mirabile Glauberi, das heißt auf deutsch extra feines Glaubensalz von der besten Sorte – ach, da ist mir zumut, als hätte ich das Glaubensalz selbst schon eingenommen und als fühlte ich die Wirkung. Was ist der Mensch! Ich bin in Italien und denke an die dicke Gudel vom Dreckwall! Wer hätte das gedacht! Ich kann mir vorstellen, sie ist jetzt auf dem Lande, in ihrem Garten, wo der Mond scheint und gewiß auch eine Nachtigall singt oder eine Lerche –“

„Es ist die Nachtigall und nicht die Lerche!“ seufzte Gumpelino dazwischen und deklamierte vor sich hin:

„Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort;
Glaub, Lieber, mir, es war die Nachtigall.“

„Das ist ganz einerlei“ – fuhr Hyazinth fort –, „meinethalben ein Kanarienvogel, die Vögel, die man im Garten hält, kosten am wenigsten. Die Hauptsache ist das Treibhaus und die Tapeten im Pavillon und die Staatsfiguren, die davorstehen, und da stehen, zum Beispiel, ein nackter General von den Göttern und die Venus Urinia, die beide dreihundert Mark kosten. Mitten im Garten hat sich die Gudel auch eine Fontenelle anlegen lassen – Und da steht sie vielleicht jetzt und pult sich die Nase und macht sich ein Schwärmereivergnügen und denkt an mich – Ach!“

Nach diesem Seufzer erfolgte eine sehnsüchtige Stille, die der Marchese endlich unterbrach, mit der schmachtenden Frage: „Sage mir auf deine Ehre, Hyazinth, glaubst du wirklich, daß dein Pulver wirken wird?“

„Es wird auf meine Ehre wirken“, erwiderte jener. „Warum soll es nicht wirken? Wirkt es doch bei mir! Und bin ich denn nicht ein lebendiger Mensch so gut wie Sie? Glaubensalz macht alle Menschen gleich, und wenn Rothschild Glaubensalz einnimmt, fühlt er dieselbe Wirkung wie das kleinste Maklerchen. Ich will Ihnen alles voraussagen: Ich schütte das Pulver in ein Glas, gieße Wasser dazu, rühre es, und sowie Sie das hinuntergeschluckt haben, ziehen Sie ein saures Gesicht und sage: ‚Prr! Prr!‘ Hernach hören Sie selbst, wie es in Ihnen herumkullert, und es ist Ihnen etwas kurios zumut, und Sie legen sich zu Bett, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sie stehen wieder auf, und Sie legen sich wieder und stehen wieder auf und so fort, und den andern Morgen fühlen Sie sich leicht wie ein Engel mit weißen Flügeln, und Sie tanzen vor Gesundeswohlheit, nur ein bißchen blaß sehen Sie dann aus; aber ich weiß, Sie sehen gern schmachtend blaß aus, und wenn Sie schmachtend blaß aussehen, sieht man Sie gern.“

Obgleich Hyazinth solchermaßen zuredete und schon das Pulver bereitete, hätte das doch wenig gefruchtet, wenn nicht dem Marchese plötzlich die Stelle, wo Julia den verhängnisvollen Trank einnimmt, in den Sinn gekommen wäre. „Was halten Sie, Doktor“ – rief er –, „von der Müller in Wien? Ich habe sie als Julia gesehen, und Gott! Gott! wie spielt sie! Ich bin doch der größte Enthusiast für die Crelinger, aber die Müller, als sie den Becher austrank, hat mich hingerissen. Sehen Sie“ – sprach er, indem er mit tragischer Gebärde das Glas, worin Hyazinth das Pulver geschüttet, zur Hand nahm –, „sehen Sie, so hielt sie den Becher und schauderte, daß man alles mitfühlte, wenn sie sagte:

‚Kalt rieselt matter Schau’r durch meine Adern,
Der fast die Lebenswärm’ erstarren macht!‘

Und so stand sie, wie ich jetzt stehe, und hielt den Becher an die Lippen, und bei den Worten:

‚Weile, Tybalt!
Ich komme, Romeo! Dies trink ich dir‘,

da leerte sie den Becher –“

„Wohl bekomme es Ihnen, Herr Gumpel!“ sprach Hyazinth mit feierlichem Tone; denn der Marchese hatte in nachahmender Begeisterung das Glas ausgetrunken und sich, erschöpft von der Deklamation, auf das Sofa hingeworfen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Dritter Teil