Abschnitt 2

Die Bäder von Lucca


Kapitel I


„Genug, genug, Doktor. Es ist wenigstens gut, daß wir Zeitgenossen sind und in demselben Erdwinkel uns gefunden mit unseren närrischen Tränen. Ach des Unglücks! wenn Sie vielleicht zweihundert Jahre früher gelebt hätten, wie es mir mit meinem Freunde Michael de Cervantes Saavedra begegnet, oder gar, wenn Sie hundert Jahre später auf die Welt gekommen wären als ich, wie ein anderer intimer Freund von mir, dessen Namen ich nicht einmal weiß, eben weil er ihn erst bei seiner Geburt, Anno 1900, erhalten wird! Aber erzählen Sie doch, wie haben Sie gelebt, seit wir uns nicht gesehen?“

„Ich trieb mein gewöhnliches Geschäft, Mylady; ich rollte wieder den großen Stein. Wenn ich ihn bis zur Hälfte des Berges gebracht, dann rollte er plötzlich hinunter, und ich mußte wieder suchen, ihn hinaufzurollen – und dieses Bergauf- und Bergabrollen wird sich so lange wiederholen, bis ich selbst unter dem großen Steine liegenbleibe und Meister Steinmetz mit großen Buchstaben darauf schreibt: ‚Hier ruht in Gott‘ –“

„Beileibe, Doktor, ich lasse Ihnen noch keine Ruhe – Sein Sie nur nicht melancholisch! Lachen Sie, oder ich –“

„Nein, kitzeln Sie nicht; ich will lieber von selbst lachen.“

„So recht. Sie gefallen mir noch ebensogut wie in Ramsgate, wo wir uns zuerst nahekamen –“

„Und endlich noch näher als nah. Ja, ich will lustig sein. Es ist gut, daß wir uns wiedergefunden, und der große deutsche... wird sich wieder ein Vergnügen daraus machen, sein Leben bei Ihnen zu wagen.“

Myladys Augen lachten wie Sonnenschein nach leisem Regenschauer, und ihre gute Laune brach wieder leuchtend hervor, als John hereintrat und mit dem steifsten Lakaienpathos Seine Exzellenz den Marchese Christophoro di Gumpelino anmeldete.

„Er sei willkommen! Und Sie, Doktor, werden einen Pair unseres Narrenreichs kennenlernen. Stoßen Sie sich nicht an sein Äußeres, besonders nicht an seine Nase. Der Mann besitzt vortreffliche Eigenschaften, z.B. viel Geld, gesunden Verstand und die Sucht, alle Narrheiten der Zeit in sich aufzunehmen; dazu ist er in meine grünäugige Freundin Julie Maxfield verliebt und nennt sie seine Julia und sich ihren Romeo und deklamiert und seufzt – und Lord Maxfield, der Schwager, dem die treue Julia von ihrem Manne anvertraut worden, ist ein Argus –“

Schon wollte ich bemerken, daß Argus eine Kuh bewachte, als die Türe sich weit öffnete und, zu meinem höchsten Erstaunen, mein alter Freund, der Bankier Christian Gumpel, mit seinem wohlhabenden Lächeln und gottgefälligem Bauche, hereinwatschelte. Nachdem seine glänzenden breiten Lippen sich an Myladys Hand genugsam gescheuert und übliche Gesundheitsfragen hervorgebrockt hatten, erkannte er auch mich – und in die Arme sanken sich die Freunde.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisebilder Dritter Teil