Abschnitt 1

Der Kampf mit dem Mondmann.


Auf dem Monde war eigentlich alles sonderbar und wunderlich; aber auf dem Gipfel des Mondberges war es doch am allerseltsamsten. Bäume standen da, die gar nicht wie Bäume, sondern wie Baumgespenster aussahen. Grauweiß waren sie und ganz gebeugt unter der Last einer uralten Asche, die wohl einst nach großen Stürmen auf dem Monde wie Schnee auf ihre Zweige niedergefallen sein mochte. Jeder Baum warf einen langen Schatten. Pechschwarz, gleich dicken Tintenstrichen lagen diese Schatten auf dem geistergrauen Boden und sahen sehr unheimlich aus. Hin und wieder standen große, grünliche Pilze, die gewiß sehr giftig waren, zwischen den Wurzeln der Gespensterbäume, und uralter, eisgrauer Schimmel hatte alle Steine am Boden dick überzogen. Kein Ton war zu hören; kein Vogel sang, kein Lufthauch regte einen Zweig in diesem toten Walde, eisekalt war es und grabesstill ringsum. Die Kinder hätten sich gewiß sehr gefürchtet, wenn sie Zeit dazu gehabt hätten; aber sie hatten so viel zu tun mit dem Suchen nach dem Maikäferbeinchen, daß sie gar nicht merkten, wie unheimlich es eigentlich hier oben war. Man fürchtet sich wirklich nur, wenn man nichts zu tun hat. Das hatten sie jetzt schon öfter gemerkt. Sie froren nicht einmal, trotzdem sie doch nur in ihrem Nachthemdchen waren, so emsig sprangen sie von einem Baume zum anderen und suchten nach der Birke mit dem Beinchen. „Hurra!“ schrie Peterchen plötzlich; „da hängt das Beinchen - ich sehe es, ich sehe es!“


Richtig! In der Mitte eines kleinen, mit Mondstaub und Schimmel überzogenen Platzes stand einsam ein Bäumchen, das wirklich aussah wie eine tief zugeschneite kleine Birke. Im Stamm dieser Birke steckte ein langer, rostiger Nagel, und an einem roten Bändchen hing daran ein einzelnes Maikäferbeinchen totenstill in der dunklen Luft. Hellauf jubelten die Kinder, und selbst den Sumsemann, dem das Maikäferherz schon wieder beim Anblick dieses unheimlichen Waldes in das unterste Rockschlippchenende gerutscht war, packte die Freude bei dieser Entdeckung so, daß er die Flügel entfaltete, selig zu brummen anfing und den Kindern noch vorausfliegen wollte, trotzdem sie so schnell liefen, als sie konnten. - Da ereignete sich etwas Unerwartetes: Hinter einem großen Stein, der neben der Birke lag, sprang plötzlich der Mondmann zähnefletschend und brüllend hervor. Die Kinder blieben auf der Stelle stehen und faßten sich bei der Hand.

Greulich sah der Mondmann aus! Riesengroß war er, hatte ein graues, verhungertes Gesicht, so voller Falten und Runzeln wie ein alter Stiefel. Schauderhaft häßlich war sein Mund; eine Schnauze war es fast, mit langen, gelben Zähnen; um seinen Kopf starrte verfilztes schmutziges Haar, und der Bart hing in wüsten Zotteln auf seine lange, eisgraue Kutte; auf dem Rücken baumelte ihm an einem Strick ein großes Reisigbündel, und in der einen Hand trug er eine mächtige, blanke Axt. So stand er vor den beiden kleinen, mutigen Hemdenmätzen. Mutig waren sie, das muß man sagen; denn, trotzdem sie einen tüchtigen Schreck bekommen hatten, nahmen sie nicht Reißaus, wie das gewiß viele andere Kinder getan hätten, sondern blieben tapfer stehen. Peterchen machte sogar eine schöne Verbeugung und, obwohl ihm das Herz gewaltig klopfte, fragte er den wilden Mann höflich, ob er hier oben wohl ein Maikäferbeinchen in Verwahrung habe. Der Mondmann fletschte die gelben Zähne und brüllte:

„Was wollt ihr winzigen Würmer hier?
Was wollt ihr in meinem Waldrevier?
Ein Maikäferbein, ein Maikäferbein,
Soll hier auf meinem Mondberg sein?“

Peterchen erzählte ihm nun unerschrocken alles, was er von der Beinchengeschichte wußte, und Anneliese nickte immer zur Bestätigung mit dem Kopfe, denn sprechen konnte sie nicht vor Herzklopfen. Der Mondmann aber stand dabei grimmig grinsend vor ihnen, schaukelte immer von einem Bein auf das andere und schnüffelte mit seiner Schnauze nach den kleinen Äpfelchen, die sie bei sich hatten. Als Peterchen ihn dann am Schluß seiner Erzählung bat, das Beinchen herzugeben, fauchte er:

„Du bittest mich sehr? - Was gibst du mir,
Wenn ich es dir gebe, denn wieder dafür?“

Anneliese hielt ihm schnell ihr letztes Äpfelchen hin. Rapps! - hatte er es gefressen und schnüffelte nach Peterchens Körbchen, in dem auch noch einiges übrig war. Höflich gab es Peterchen - fort war's! Und während der Unhold noch diesen zweiten Apfel schmatzend verschlang, roch er schon die Pfefferkuchen, die der Weihnachtsmann ihnen mit auf die Reise gegeben hatte. Gierig wollte er sie haben. Es war gewiß für die Kinder ein schwerer Entschluß, aber sie gaben ihm auch die schönen Pfefferkuchen. Man mußte sich wirklich ekeln und entsetzen; denn mit dem bunten Einwickelpapier und mit dem Bindfaden fraß der wüste Mann die Päckchen, wie ein Ochse, der Heu frißt. Währenddessen aber schielten seine grünen Augen schon nach dem Hampelmann, den Peterchen unter dem Arm hatte. Er wollte ihn durchaus haben, und als Peterchen ihn zögernd reichte - nein, das war wirklich toll - da biß er ihn mitten durch und schluckte ihn herunter, etwa wie unsereiner eine Erdbeere!

Peterchen war noch ganz starr von dem Schreck über diesen Hunger, da griff der Mondmann schon nach Annelieses Püppchen. Das war nun sehr schlimm!

Anneliese wollte ihr Püppchen durchaus nicht hergeben und fing bitterlich zu weinen an.

„Immer her, immer her mit dem Puppenkind!
Sonst geb' ich das Beinchen nicht raus! - geschwind!“

brüllte der wilde Mann. Ja, um den Preis mußte auch das liebe, kleine Püppchen geopfert werden. Es war furchtbar!

Anneliese hielt sich beide Augen fest zu und weinte schrecklich, als er ihm den Kopf abbiß, daß die Porzellansplitter nur so knisterten zwischen seinen scheußlichen Zähnen. Nicht einmal in die Schnauze schnitt er sich dabei! Das hatte sie nämlich im stillen gehofft. Dann war auch dies Püppchen verschlungen, das letzte, was sie hatten. Der Mondmann strich sich den Bauch und leckte sich die Schnauze vor Behagen; die Kinder aber dachten: „Nun ist er zufrieden und gibt uns endlich das Beinchen heraus“, denn es hatte ihm doch alles, auch das Porzellanköpfchen vom Püppchen und der Sägespäneleib vom Hampelmann, prächtig geschmeckt. Nein, der Unhold lief schon wieder schnüffelnd herum, als hätte er noch immer nicht genug!

Das war doch eigentlich toll! Peterchen war sehr entrüstet über solche Gierigkeit und Unbescheidenheit und verlangte jetzt energisch das Beinchen, denn Äpfelchen, Pfefferkuchen, Hampelmann und Püppchen waren gewiß ein sehr ansehnlicher Kaufpreis. Die Kinder hatten nichts mehr zu verschenken. Mit glimmrigen Augen guckte der Mondmann sie an - von oben bis unten -, zog langsam ein riesenlanges Messer aus seinem Kittel, wetzte es sorgfältig an einem großen Stein vor ihnen und schmunzelte und schmatzte dazu vor sich hin:

„Zwei Menschlein kamen zu mir herauf.
Mit Haut und Haaren freß' ich sie auf!
Tausend Jahr' hab' ich nichts gegessen!
Tausend Menschen könnte ich fressen!
Schlachten will ich sie, langsam braten
Am Spieß; sie werden mir wohl geraten!
Ich lasse sie backen hundert Stunden;
Dann sollen mir ihre Gliederlein munden!“

Und damit wollte er sich auf die Kinder stürzen. Was sollten sie nun tun?

Anneliese klammerte sich an Peterchen, und dieser zog mutig sein kleines Holzschwert. Niemand konnte denken, daß der kleine Junge damit den wilden Menschenfresser besiegen würde; aber in diesem Augenblick, als er das Schwert hob, geschah etwas ganz Unerwartetes:

Pechfinster wurde es, ein lohender Blitz zuckte, und mit himmelerschütterndem Donnerschlag sprang der Donnermann aus der Weltnacht auf den Berggipfel, stürzte sich auf den Mondmann, schlug ihn - Krach! - krach! - krach! - über den Kopf und stieß ihn mit einem so fürchterlichen Fußtritt vor den Bauch, daß der widerwärtige Menschenfresser wie ein Sack auf dem Boden herumkollerte. Dann war der Donnermann wieder in der Nacht verschwunden, und nur ein fernes Rollen hörte man noch, das bald verklang. So schnell war das alles geschehen, daß die Kinder kaum Zeit hatten, es richtig zu begreifen.

„O weh, mein Bauch! - O weh, mein Bein!
Verfluchte Pein! - verfluchte Pein!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Peterchens Mondfahrt