Kapitel Schahko Matto -10-



„Die habe ich allerdings; aber sie ist nicht eine Frucht der Ueberlegung, sondern die Folge einer Stimme, welche ich schon früher in meinem Innern gehört habe und auch noch heute höre. Will mein Bruder Apanatschka mir Antwort geben?“


„Wenn Old Shatterhand fragt, werde ich antworten, auch ohne zu begreifen, warum er gesprochen hat. Die Squaw, von welcher wir reden, ist meine Mutter; ich habe das nie anders gewußt, und ich liebe sie.“

„Und ist sie wirklich die Squaw des Medizinmannes?“

Er erwiderte abermals im Tone der Verwunderung:

„Auch diese Frage verstehe ich nicht. Man hat beide, so lange ich es weiß, für Mann und Weib gehalten.“

„Auch du?“

„Ja.“

„Und du liebst ihn nicht?“

„Ich habe dir bereits gesagt, daß ich ihn hasse.“

„Und bist doch überzeugt, daß er dein Vater ist?“

„Man hat ihn stets meinen Vater genannt.“

„Er selbst auch? Denk genau darüber nach!“

Er senkte den Kopf, schwieg eine Weile, hob ihn dann mit einer raschen Bewegung und sagte:

„Uff! Jetzt fällt es mir zum erstenmal auf, daß er mich niemals, kein einziges Mal Schi Yeh genannt hat.“

„Aber deine Mutter hat Se Tseh zu dir gesagt?“

„Auch nicht!“

Die Ausdrücke für „mein Sohn“ sind nämlich bei den meisten Indianerstämmen verschieden, je ob sie von dem Vater oder der Mutter angewendet werden. In dem vorliegenden Falle wird Schi Yeh vom Vater, Se Tseh aber von der Mutter gebraucht. Apanatschka fuhr fort:

„Beide haben stets nur Omi 12) zu mir gesagt, und nur die Mutter nannte mich allerdings zuweilen Se Tseh, aber nur dann, wenn sie mit andern von mir sprach.“

„Sonderbar, höchst sonderbar! Nun möchte ich nur noch wissen, ob er sie Ivo Uschingwa 13) und sie ihn Iwuete 14) zu nennen pflegt.“

Er sann wieder eine Weile nach und antwortete dann:

„Es ist mir, als ob sie, als ich noch jung, noch sehr jung war, sich so genannt hätten; seit jener Zeit aber habe ich diese Worte nicht wieder von ihren Lippen gehört.“

„So hat sie also seit jener Zeit stets nur die Namen Tibo taka und Tibo wete gebraucht?“

„Ja.“

„Und du hältst diese Worte für Medizinausdrücke?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil der Vater stets sagte, daß sie Medizin seien. Sie müssen es auch sein, denn es giebt keinen einzigen roten oder weißen Mann, welcher weiß, was das Wort Tibo zu bedeuten hat. Oder sollte mein Bruder Shatterhand es wissen?“

Ich wußte es allerdings auch nicht. Zwar mußte ich an die französischen Namen Thibaut und Thibault denken, aber es schien mir doch zu gewagt, das freilich fast gleichklingende Wort Tibo damit in Beziehung zu bringen. Ich wollte eine dieses sagende Antwort geben, kam aber nicht dazu, weil mir, und zwar zu gleicher Zeit und mit gleicher Eile, zwei Personen zuvorkamen, welche dem ersten Teile unseres Zwiegespräches keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten, dann aber, sobald sie von mir die Namen Tibo taka und Tibo wete hörten, sich uns mit um so größerem Interesse zuwendeten.

Es wird noch erinnerlich sein, daß ich damals im Llano estacado Apanatschka versprechen mußte, die geheimnisvollen Worte keinem Menschen mitzuteilen; ich hatte mein Versprechen so treu gehalten, daß ich sogar gegen Winnetou verschwiegen gewesen war. Darum erregte es meine Verwunderung, als er uns jetzt in die Rede fiel:

„Tibo taka und Tibo wete? Diese Worte kenne ich!“

Und noch hatte er nicht ganz ausgesprochen, so rief auch der Häuptling der Osagen: „Tibo taka und Tibo wete kenne ich! Sie sind im Lager der Osagen gewesen und haben uns viele Felle und die besten Pferde gestohlen.“

Apanatschka war natürlich ebenso erstaunt wie ich. Er wendete sich zunächst an Winnetou:

„Woher kennt der Häuptling der Apatschen diese Worte? Ist er, ohne daß ich es erfahren habe, im Lager der Naiini gewesen?“

„Nein; aber Intschu tschuna, mein Vater, hat einen Mann und ein Weib getroffen, welche Tibo taka und Tibo wete hießen. Er war ein Bleichgesicht, sie eine Indianerin.“

„Wo hat er sie getroffen? Wo ist das gewesen?“

„Am Rande des Estacado. Sie und ihre Pferde waren dem Tode des Verschmachtens nahe, und die Frau hatte einen kleinen Knaben in ihr Tuch gewickelt. Mein Vater, der Häuptling der Apatschen, hat sich ihrer angenommen und sie zum nächsten Wasser geführt, um sie zu speisen und zu tränken, bis sie sich erholten. Dann wollte er sie zur nächsten Ansiedelung der Bleichgesichter bringen; sie aber baten ihn, ihnen lieber zu sagen, wo die Komantschen zu finden seien. Er ritt mit ihnen zwei Tage weit, bis er die Spuren der Komantschen entdeckte. Da diese seine Todfeinde waren, mußte er umkehren, gab ihnen aber Fleisch und einen Kürbis voll Wasser mit und erteilte ihnen eine so genaue Anweisung, daß sie die Komantschen finden mußten.“

„Wann hat sich das ereignet?“

„Vor langer Zeit, als ich noch ein kleiner Knabe war.“

„Was hat mein Bruder sonst noch über diese beiden Personen und ihr Kind erfahren?“

„Daß die Frau ihre Seele verloren hatte. Ihre Reden sind verworren gewesen, und wo es ein Gebüsch gab, da nahm sie einen Zweig, um ihn sich um den Kopf zu winden.“

„Weiter weiß Winnetou nichts von ihnen?“

„Weiter nichts; es ist das alles, was mein Vater mir über diese Begegnung erzählt hat.“

Der Apatsche bekräftigte durch eine Handbewegung, daß er nichts mehr zu sagen habe, und fiel dann in seine frühere Schweigsamkeit zurück. Da ergriff Schahko Matto eifrig das Wort:

„Aber ich kann noch mehr sagen; ich weiß mehr von diesen Dieben, als Winnetou, der Häuptling der Apatschen, wissen kann!“

Apanatschka wollte weiter sprechen; ich winkte ihm aber, zu schweigen. Jedenfalls war er der kleine Knabe gewesen, und da der Mann und die Frau, welche als seine Eltern galten, von dem Osagen des Diebstahls geziehen wurden, wollte ich eine voraussichtliche direkte und große Beleidigung dadurch verhüten, daß ich an seiner Stelle das Wort ergriff:

„Schahko Matto, der Häuptling der Osagen, mag uns erzählen, was wir über die Personen, welche wir meinen, von ihm hören können! Es wird wahrscheinlich nicht viel Gutes sein.“

„Old Shatterhand hat recht; es ist nichts Gutes,“ nickte er. „Hat er vielleicht einen Mann gekannt, welcher Raller hieß und bei den Bleichgesichtern das war, was sie einen Offizier nennen?“

„Es ist mir kein Offizier dieses Namens bekannt.“

„Dann ist es so, wie ich mir später gedacht habe: er hat uns damals einen falschen Namen genannt und ist nur in der Absicht, uns zu betrügen, zu uns gekommen. Wir haben überall nach ihm geforscht; ich bin sogar in den Forts und auch in den großen Städten der Weißen gewesen, mich nach ihm zu erkundigen, aber nirgends hat es einen Offizier gegeben, welcher Raller hieß.“

„Es sind da wahrscheinlich zwei Fälle möglich: Entweder war er Offizier und hieß nicht Raller, oder er hieß so und war nicht Offizier. Was wollte er bei den Kriegern der Osagen?“

„Er kam ganz allein zu uns; er trug die Kleidung der Offiziere und sagte, daß er der Bote des großen, weißen Vaters in Washington 15) sei. Es war ein neuer weißer Vater gewählt worden, der diesen Boten zu uns schickte, um uns sagen zu lassen, daß er die roten Männer liebe, daß er Frieden mit ihnen hegen und besser für sie sorgen wolle als die frühern weißen Väter, welche nicht gut und ehrlich gegen sie gewesen seien. Das gefiel den Kriegern der Osager wohl, und sie nahmen den Boten als Freund und Bruder auf und behandelten ihn mit größerer Ehrfurcht und Aufmerksamkeit, als sie selbst ihrem größten und ältesten Häuptling zu erweisen gewohnt waren. Er schloß einen Vertrag mit ihnen ab; sie sollten ihm Felle und Häute liefern, wofür er ihnen schöne Waffen, Pulver, Blei, Messer, Tomahawks, fertige Anzüge und auch prächtige Kleider und Schmucksachen für die Squaws versprach. Er gab ihnen zwei Wochen Zeit, diesen Vertrag zu überlegen, und ritt fort. Er kehrte schon vor dieser Frist zurück und brachte einen weißen Mann, eine sehr schöne, junge, rote Squaw und einen kleinen Knaben mit. Der Weiße trug den Arm in der Binde; er war durch einen Schuß verwundet worden, doch zeigte die Untersuchung, daß die Wunde in guter Heilung stand. Das junge Weib war seine Squaw und der Knabe sein Sohn. Der schöne Körper der Squaw war leer, denn der Geist hatte ihn verlassen. Sie sprach von Tibo taka, von Tibo wete und wand sich Zweige um den Kopf. Auch von einem Wawa Derrick redete sie zuweilen. Wir wußten nicht, was sie damit meinte, und auch der Weiße, dessen Squaw sie war, sagte, daß er ihre Reden nicht verstehe. Sie wurden bei uns aufgenommen, als ob sie Bruder und Schwester der Osagen seien; dann ging Raller wieder fort.“

Schahko Matto machte hier eine Pause, welche ich benutzte, ihn zu fragen:

„Wie war das Verhalten der beiden Weißen zueinander? Ließ es auf Freundschaft oder nur auf gewöhnliche Bekanntschaft schließen? Es kommt wahrscheinlich sehr viel darauf an.“

„Sie waren Freunde, so lange sie glaubten, beobachtet zu sein; hielten sie sich aber für unbemerkt, so zankten sie sich.“

„Hatte der Mann der Squaw vielleicht ein Merk-oder Kennzeichen an seinem Körper?“

„Nein, aber der Offizier, welcher sich Raller nannte, hatte eins; es fehlten ihm zwei Zähne.“

„Wo?“ fragte ich rasch.

„Oben vorn, rechts und links einer.“

„Ah! Etters!“ rief ich aus.

„Uff! Das war Dan Etters!“ ließ sich auch der sonst so stille Winnetou schnell hören.

„Etters?“ fragte der Häuptling der Osagen. „Ich glaube nicht, diesen Namen je gehört zu haben. Hat der Mann so geheißen?“

„Ursprünglich wohl nicht. Er war oder ist ein großer Verbrecher, welcher viele falsche Namen getragen hat. Wie wurde denn der andere, der verwundete Weiße von ihm genannt? Raller muß doch einen Namen genannt haben, wenn er mit ihm sprach oder ihn gar rief.“

„Wenn sie einig waren, nannte er ihn Lo-teh; aber wenn sie glaubten, allein zu sein, und sich zankten, sagte er sehr oft zornig E-ka-mo-teh zu ihm.“

„Ist das kein Irrtum? Hat der Häuptling der Osagen sich diese beiden Namen gut gemerkt? Haben sie sich während der langen Zeit, welche inzwischen vergangen ist, vielleicht in deinem Gedächtnisse verändert?“

„Uff!“ rief er aus. „Schahko Matto pflegt sich die Namen von Menschen, welche er haßt, so zu merken, daß sie bis zu seinem Tode ihm unverändert im Kopfe bleiben.“

Ich stemmte unwillkürlich den Ellbogen auf das Knie und legte den Kopf in die Hand. Es war mir ein Gedanke gekommen, so kühn und doch so naheliegend; ich zögerte, ihn auszusprechen. Winnetou sah mich an, ließ ein Lächeln um seine Lippen gleiten und sagte:

„Meine Brüder mögen Old Shatterhand genau betrachten! Grad so wie jetzt pflegt er auszusehen, wenn er eine wichtige Fährte entdeckt hat. Ich kenne ihn.“

Ich war mir gar nicht bewußt, ein besonders geistreiches Gesicht gemacht zu haben; ich weiß vielmehr, daß ich, wenn sich die Seele zum Nachdenken zurückzieht, eigentlich eine recht dumme Physiognomie zu zeigen pflege. Dies mochte Dick Hammerdull auch finden, denn er sagte zu Winnetous Bemerkung:

„Es scheint grad das Gegenteil der Fall zu sein: Mr. Shatterhand sieht aus, als ob er eine wichtige Spur nicht gefunden, sondern sie soeben ganz und gar verloren hätte. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?“

„Hm!“ brummte der Lange, indem er in seiner trockenen Weise meine Partei ergriff; „wenn du denkst, daß dein Gesicht gescheiter aussieht als das seinige, so bist du der leibhaftige Hornfrosch, der sich für ein lebendiges Götterbild hält!“

„Schweig!“ fuhr ihn der Dicke an. „Was verstehst denn du von den Göttern und ihren Bildern? Mich mit einem Hornfrosch zu vergleichen! Das ist eine Majestätsbeleidigung, für welche du wenigstens zehn Jahre Eastern penitentiary 16) bekommen solltest!“

„Schweig du selbst!“ entgegnete Pitt Holbers. „Die Majestätsbeleidigung wurde nicht von mir, sondern von dir begangen, indem du das Gesicht Old Shatterhands mit dem deinigen verwechseltest. Nicht er, sondern du siehst grad so aus, als ob du nicht nur eine Spur verloren, sondern überhaupt niemals eine gefun den hättest. Du bist zwar mein Freund, aber Mr. Shatterhand lasse ich auch von dir nicht ungestraft beleidigen!“

Es war ihm Ernst mit dieser Reprimande, sonst hätte er nicht ganz gegen seine Gewohnheit eine so lange Rede gehalten. Ich belohnte ihn mit einem dankenden Blicke, obgleich ich Dick Hammerdull nicht ernst genommen hatte, und sagte, zu Winnetou und Schahko Matto gewendet:

„Ich befinde mich wahrscheinlich im Irrtum, aber es ist mir ein Gedanke gekommen, den ich nicht so ohne alle Prüfung von mir weisen möchte. Ich glaube nämlich jetzt zu wissen, was das geheimnisvolle Wort Tibo bedeutet. Es kommt dabei nur darauf an, daß der Häuptling der Osagen die beiden Namen, welche er vorhin nannte, richtig behalten hat. Der erste hieß Lo-teh. Es ist eine Eigentümlichkeit der Sprache Schahko Mattos, daß er den ersten Laut dieses Wortes halb wie L und halb wie R aussprach. Wahrscheinlich hat er ‚Lothaire‘ gemeint, ein Wort, welches ein französischer Vorname ist.“

„Ja, ja!“ fiel der Osage ein. „So, grad so klang dieser Name, wenn er von Raller ausgesprochen wurde.“

„Gut! Dann bedeutet der zweite Name E-ka-mo-teh jedenfalls das auch französische Wort Escamoteur, welches einen Juggler, einen Taschenspieler bedeutet, der große Gewandheit darin besitzt, Gegenstände auf unbegreifliche Weise verschwinden und wieder erscheinen zu lassen.“

„Uff, uff, uff!“ rief Schahko Matto aus. „Ich höre, daß Old Shatterhand sich auf der richtigen Spur befindet!“

„Wirklich?“ fragte ich erfreut. „Hat der verwundete Weiße vielleicht die Dummheit begangen, damals die Osagen mit derartigen Künsten zu unterhalten?“

„Ja, das hat er gethan. Er ließ alles, alles kommen und verschwinden, wie es ihm gefiel. Wir haben ihn für einen so großen Zauberer gehalten, wie bei den roten Männern keiner gefunden werden konnte. Alle Männer und Frauen, alle Knaben und Mädchen haben ihm mit Erstaunen, oft mit Entsetzen zugesehen.“

„Gut! So will ich den Häuptling der Apatschen an einen Mann erinnern, von dem auch er erzählen hörte. Ich weiß, daß in seiner und meiner Gegenwart von einem einst hochberühmten und dann plötzlich verschollenen Escamoteur erzählt worden ist, von dessen Tricks; man behauptete, daß sie nicht nur unvergleichlich, sondern geradezu unerreichbar seien. Er wurde, wie Winnetou sich erinnern wird, nicht anders als Mr. Lothaire, the king of the conjurers genannt.“

„Uff!“ stimmte der Apatsche bei. „Von diesem haben wir wiederholt erzählen hören, in den Forts und an den Lagerfeuern.“

„Und weiß mein Bruder noch, weshalb dieser Mann verschwinden mußte?“

„Ja. Er hatte falsches Geld gemacht, sehr, sehr viel falsches Geld, und, als er arretiert werden sollte, zwei Polizisten niedergeschossen und einen verwundet.“

„Nicht bloß das!“ fiel da Treskow ein. „Ich kenne, wenn auch nicht die Person, so doch den Fall genau; er wurde in Beamtenkreisen oft erwähnt, weil er höchst lehrreich für jeden Polizisten ist. Dieser Lothaire hat sich nämlich der Verfolgung wiederholt auf eine so raffinierte Weise entzogen und dabei noch weitere Mordthaten verübt, daß sein Fall uns als Unterrichtsgegenstand zur Belehrung dienen mußte. Er stammte, ich weiß nicht mehr, aus welcher französischen Kolonie, wo er sich auch nicht mehr sehen lassen durfte. Wenn ich mich nicht irre, war er ein Kreole aus Martinique und ist zuletzt in Bents Fort oben am Arkansas gesehen worden.“




12) „Du“.
13) Meine Squaw.
14) Mein Mann.
15) Präsident der Vereinigten Staaten.
16) Sehr strenges Isoliergefängnis in Philadelphia.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Old Surehand III