Modernes und Merkwürdiges in der Vergangenheit - Gesundheit und Medizin

Aus: Kultur-Kuriosa. Band 1.
Autor: Kemmerich, Max Dr. (1876-1932) Philosoph, Kunsthistoriker, Privatgelehrter, Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1910
Themenbereiche
Vegetarianer gab es ebenfalls schon im alten Rom. Seneca und Plutarch gehörten nachweisbar zu ihnen, und letzterer hat sogar mit allen Künsten der Dialektik seine Lebensweise verteidigt bzw. die der Fleischesser angegriffen (Moralia „de carnium esu“).

Ebenso sind Antialkoholiker- und Temperenzlervereine bereits im Altertume bekannt. Schon ein Ramses II. (ca. 1350 v. Chr.) hat eine Antialkoholliga gegen die Trunkenboldigkeit der alten Ägypter gegründet, wie im Jahre 1902 aus Malereien und Inschriften in der France Médicale nachgewiesen wurde. Allerdings trieb man es auch toll, und die Ägypterinnen des neuen Reiches — von den Männern ganz zu schweigen — fanden so wenig Anstößiges an der Trunkenheit, dass sich sogar Damen in dem Augenblick des Übelwerdens an der Wand ihres Grabes verewigen ließen. Dazu sei bemerkt, dass bereits das alte Reich vier verschiedene Biersorten und mindestens sechs Weinsorten, darunter weißen, roten, schwarzen und nördlichen unterschied und wohl auch ein Palmbranntwein bekannt war 13).

Radikalen Erfolg mit seiner Antialkoholpropaganda hatte ein gewisser Decaeneus kurze Zeit vor Strabon. Während die Geten bisher dem Bacchus im Übermaße geopfert hatten, gewannen seine Brandreden auf sie so großen Einfluss, dass sie nach und nach alle Weinstöcke im Lande freiwillig ausrotteten und fortan ohne Wein lebten (Strabo VII, 3, 11 und Jordanis 11).

Bekanntlich werden heute noch in einigen Staaten des freien Amerika alkoholische Getränke nur in Apotheken auf Grund von ärztlichen Rezepten, die zu bekommen allerdings nicht allzu schwer ist, verabreicht. Als ob erzwungene Abstinenz eine geringere Barbarei als Völlerei wäre!

Die Elektrizität wurde, wie Scribonius Largus (11) und Dioscorides beweisen, schon im Altertum zu Heilzwecken angewandt, wenn auch noch in recht primitiver Weise. Bei langwierigen Kopfschmerzen legte man nämlich den Zitterrochen auf, bis an der behandelten Stelle Taubheit entstand. Genügte ein Fisch nicht, dann wurde die Prozedur wiederholt.

Behandlung durch Massage kannte bereits Hippokrates um 400 v. Chr., und zwar noch nicht einmal als Erster. Bekanntlich ist sie nach verschiedenen Ansätzen 1575, 1650 und 1853 erst wieder durch den holländischen Arzt Mezger in die offizielle Medizin eingeführt worden 14).

Ebenso wurde eine Art Kneippkur angewandt, und zwar von Asclepiades von Prusa, einem Arzt, der im 1. vorchristlichen Jahrhundert in Rom großen Zulauf hatte. Er war ein Feind vielen Medikamentierens, ließ seine Patienten fasten, verordnete Bewegung und Massage und verschrieb Kaltwassergüsse, wie sein Kollege in Wörishofen. Ferner verordnete er Regenbäder und Waten im Sande mit nassen Füßen. Antonius Musa hat 23 v. Chr. den Augustus mit dieser Therapie geheilt.

Auch Vivisektionen zu wissenschaftlichen Zwecken kommen im Altertum vor, und zwar außer an Tieren auch an Verbrechern, zuerst — nach Celsus (Prooemium ed. Daremberg p. 4, Zeile 37 ff.) und Tertullian (de anima 10) durch Herophilus, den der Kirchenvater Arzt, oder besser „Fleischhacker“ nennt. Leichensektionen kommen (nach Plinius hist. nat. XIX, 86) erst unter den alexandrinischen Ärzten auf, während Aristoteles wohl aus religiösen Gründen noch davor zurückschreckte. Das ganze frühe Mittelalter hindurch war die Leichenöffnung — auch bei den sonst so aufgeklärten Arabern — verpönt. Mondino de Liucei (ca. 1275—1326) hat seit anderthalb Jahrtausenden als Erster wieder menschliche Kadaver seziert. Seit dem 15. Jahrhundert aber war erst der Bann gebrochen und Anatomie ein ordnungsmäßiges Lehrfach auf den Universitäten 15).

Während der Star noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts durch Versenkung der aus der Pupille geschobenen Linse in den Glaskörperraum geheilt wurde, ist die Operation, d. h. die Entfernung nach außen durch Eingriff bereits dem 4000 Jahre alten Papyrus Ebers bekannt und wurde, wie Antyllus bezeugt, in der Antike geübt, um wie so vieles im Mittelalter in Vergessenheit zu geraten.

Ein Vorläufer Harveys, der im Jahre 1619 den Blutkreislauf entdeckte, war schon Erasistratos von Keos, um 300 v. Chr. Leibarzt des Königs Seleucos I. Ebenso ist Galen, bis auf die Venenklappen, der Entdeckung des berühmten Engländers sehr nahe gekommen. Aber auch er hatte Vorläufer in den alten Ägyptern, die bereits eine rudimentäre Kenntnis des Blutkreislaufes besaßen. Beginnende Herzklappenerkrankungen suchten sie, wie die heutigen Ärzte, durch Ruhe zu beseitigen 16).

Sogar eine mit Mandragora(Alraun)wurzel vorgenommene Narkose war den Alten wohl bekannt. Dioskurides behauptet, dass die mit diesem Mittel beim Patienten hervorgerufene Gefühllosigkeit drei bis vier Stunden angehalten habe. Bilsenkraut lässt sich bereits bei Homer als Narkotikum nachweisen. Im 12. und 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde es allgemein zur Schmerzlinderung verwandt und von Guy de Chauliac um 1300 sogar bei Amputationen benützt. Bereits 1460 beschreibt Heinrich von Pflospeundt in seiner „Bündt-Ertzney“ die Inhalationsnarkose vor Operationen mit Mohn (Opium), Bilsenkraut und Alraun 17).

Im Altertum verstand man bereits künstliche Glieder anzufertigen. Schon bei den alten Indern waren Nasen, Ohren und Lippen aus Gips etwas ganz Gewöhnliches, was sich aus der Häufigkeit des strafweisen Abschneidens dieser Körperteile erklärt. Griechische und römische Soldaten, denen im Kriege ein Arm oder Bein abhanden kam, wussten sich Ersatz zu beschaffen. Das Royal College of Surgeons in England besitzt in seinem Museum ein solches in einem Grabe in Capua gefundenes Bein von etwa 300 v. Chr. Es wird im Katalog folgendermaßen beschrieben: „Das künstliche Glied stellt genau die Form des Beines dar; es ist aus Stücken dünner Bronze hergestellt, die mit Bronzenägeln an einemhölzernen Kern befestigt sind. Zwei Eisenstangen, die an ihren freien Enden Löcher haben, sind an dem obersten äußersten Ende der Bronze befestigt . . . 18)“

Auch künstliche Augen und künstliche Zähne kommen damals schon vor. Der erste, der im christlichen Mittelalter die Einsetzung eines künstlichen Auges in die Augenhöhle eines lebenden Menschen, beschrieb, war der berühmte französische Chirurg Ambroise Pare. Im Jahre 1561 stellte er ein solches aus emailliertem Gold her, und zwar in den natürlichen Farben. Pare gibt sich aber nicht als Erfinder dieses Verfahrens aus und erklärt noch nicht einmal, dass die Sache neu wäre 19).

Götz von Berlichingens berühmte eiserne Hand, die ihm der Schmied von Olnhausen anfertigte, nachdem er seine Rechte 1504 bei der Belagerung von Landshut eingebüßt hatte, besaß nicht nur eine Vorläuferin in der eines Ritters, der etwa 100 Jahre vor Götz im Rhin ertrank, und dessen Hand man 1834 in Alt-Ruppin nebst Schwert, Sporen usw. im Rhinbett fand, sondern ein wackerer Römer war bereits auf dasselbe Auskunftsmittel verfallen. M. Sergius Silus (d. h. Stülpnase) hieß der verwegene Held, der z. Z. des Zweiten Punischen Krieges seine verlorene Hand durch eine eiserne ersetzte, mit der er Meisterstücke der Tapferkeit vollführte. Plinius, der die Heldentaten dieses kühnen Urgroßvaters des berüchtigten Katilina überliefert (nat. hist. VII, 105f. und Livius XXXII, 27 ff.), meint, andere seien Sieger über Menschen gewesen, aber Sergius habe selbst das Schicksal überwunden 20).

Von Bazillen als Urhebern der Malaria hatte bereits Varro eine Vorstellung, wenn er (R. r. I, 12) schreibt, dass an sumpfigen Orten kleinwinzige Lebewesen entstehen, die man mit dem Auge nicht wahrnehmen kann und die vermittelst der Luft durch Mund und Nase eindringen und geschwächte Personen infizieren. Erst 1726 kommt der niederländische Arzt Dr. Knott auf den gleichen Gedanken, und zwar spricht er von Kleinwesen als Erregern der Lungen-Schwindsucht und nimmt ebenfalls an, dass sie eingeatmet werden. Vermutlich seien sie auch die Ursachen anderer Krankheiten und daher als ansteckend zu betrachten. Der Erste, der Bakterien sah, und zwar im menschlichen Speichel, war Leewenhoek 1683 21).

004 Schädel. Hans Holbein

004 Schädel. Hans Holbein

001 Arzt und Tod. Hans Holbein Totentanz (1538)

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033 Die Anatomie des Doktors. Von Thomas de Keyser. Amsterdam 1619

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044 Die Anatomie des Cornelis Gravesande. Von Cornelis de Man (1621-1706) Delft, Krankenhaus

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050 Die Anatomie des Sir Charles Scarborough. Von Greenbury (1649). London, Barbershall

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066 Nicolas Manuel Deutsch. Basel

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084 Miniatur aus dem Prachtkodex der Chirurgie des Bischof Theoderich

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134 Die Heilung des blinden Tobias. Von Petrus Brandel (1668-1739)

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139 Ignatius von Loyala Besessene und Kranke heilend. Von Peter Paul Rubens

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122 Die Werkstatt des Malers Jan Molenar

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127 Die Krüppel. Cornelius Matsys c. 1570

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128 Amputierte und Krüppel

128 Amputierte und Krüppel

109 Titelblatt aus Jos. Grünpeck. (Zweite Ausgabe mit veränderter Handstellung der Toten) Kranke mit wilden Wartzen

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103 Aus der Versuchung des heiligen Antonius. Ausschnitt. Von Matthias Grünewald (um 1515)

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