Licht und Schatten in Indien. Mit drei Bildern von R. Sennecke

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Otto Merz, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Indien, England, Kolonie, Ghandi, Weltreich, Aufstand,
Wir sind in Deutschland wieder einmal so weit, dass wir mit dem Bürger in Goethes Faust sprechen können:

  „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
  Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
  Wenn hinten, weit, in der Türkei
  Die Völker aufeinander schlagen ...“


In der Weltpolitik gilt unsere Stimme nicht mehr, aber deshalb wäre es doch verkehrt, sich nicht mehr um Vorgänge zu kümmern, die sich „draußen“ abspielen. Denn die nächsten Völkerschicksale, mit denen trotz allem auch unser Wohl und Wehe verknüpft ist, werden in fernen Weltteilen entschieden. Kürzlich lenkten wir die Aufmerksamkeit auf Englands Sorgen in Ägypten und Indien*). Inzwischen hat England dem Protektorat über Ägypten entsagt und dem zum König erhobenen Sultan durch den Marschall Allenby seine Glückwünsche aussprechen lassen. Das sieht nach Edelmut aus, aber Großbritannien hat sich die Sicherung der Verbindungswege des britischen Reiches in Ägypten und die Verteidigung Ägyptens gegen jeden direkten oder indirekten Angriff oder Eingriff von außen her vorbehalten. Man verstand es in England bisher, mit Schattenkönigen zu wirtschaften, und wird die erprobten Künste weiter anwenden.

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Der Transvaalaufstand ist beendet, nur in Indien scheint es nicht ganz geheuer zu sein, denn die Millionenmassen in Asien sind in dauernder Unruhe. Ein neues Geschlecht ist herangewachsen, indische Akademiker, die in Oxford und Cambridge studiert haben; diese Männer wünschen, in ihrer Heimat zu höherer Geltung zu gelangen. Wie kürzlich ein guter Kenner Indiens schrieb, sind die Zeiten vorbei, wo man die indischen Studenten an englischen Universitäten durch rege Beteiligung am englischen Sportsleben von der Politik fernhalten konnte. Die überwiegende Mehrzahl dieser Leute entstammt seit den letzten zwanzig Jahren nicht mehr der Aristokratie, sondern kommt aus dem kaufmännischen Stande, studiert ernstlich und mit bestem Erfolg und ist trotz aller künstlichen Hindernisse bestrebt, dem eigenen Vaterlande zu dienen und zu nützen. Man hat in Oxford subventionierte Pensionats gegründet, in denen alles geboten wurde, um diese Studenten zu einem leichteren Leben zu verlocken! Der Erfolg blieb aus, denn man war sich über die Absichten Englands klar. Dieselben Versuche scheiterten auch bei den ägyptischen Studenten. Nun stützt man sich weiter in Indien auf die einheimischen Fürsten, die der englische Thronfolger, der Prinz von Wales, besucht. Aller Pomp und Glanz wird aufgeboten, Einzüge und Feste folgen einander, aber die „Aufmachung“ wirkt befremdend, fast kinoartig. Es scheint, als sei auch für Indien die Stunde vorbei, in der diese Schaustellungen noch zogen — Theatereffekte aus einem Weltteil, dessen Millionenmassen vielleicht doch seelisch nicht mehr so geartet sind wie zur Zeit des verstorbenen Königs Eduard. Die Masse hört heute mehr auf die Worte Gandhis und der zwei Brüder Mohammed Ali und Saukat. Und es ist fraglich, ob es englischen Machenschaften gelingen wird, Hindu und Mohammedaner wieder gegeneinander zu hetzen, um, wie gewohnt, im trüben zu fischen. Japan und Russland bereiten der britischen Macht in Indien schwere Sorgen, und man wird in Genua oder anderswo an Russland einen nicht geringen Preis für die Neutralität zahlen, für den Fall eines japanisch-amerikanischen Krieges, wo es England schwerfallen dürfte, Amerika zu unterstützen. Einstweilen feiert man in Indien aber Feste, wobei hinter den blendenden Kulissen Stimmen der Empörung laut werden und Blut fließt. Wenn der Brahmans Gandhi auch für den unblutigen Widerstand eintrat und lehrte, „sich für das Recht einzusetzen, ohne ein Schwert oder ein Bajonett in Händen zu haben“, so vermutet man in England doch hinter jedem Aufstand die Hand des „Heiligen“. Gandhi verlangt von seinem Volke: „Macht mit Engländern keine Geschäfte! Tragt keine englischen Kleider. Bleibt den englischen Gerichten fern. Lasst eure Kinder nicht in englische Schulen gehen. Verzichtet auf alle Titel und Ehren, die euch die englische Regierung verliehen hat, und zahlt keine Steuern!“ Wird dieser passive Widerstand Erfolg haben? Kann das Ziel des indischen Nationalkongresses: die Errichtung einer Selbstregierung durch das indische Volk, auf friedlichem Wege und durch gesetzliche Mittel erreicht werden? Prophezeien ist eine fragwürdige Kunst. Auf jeden Fall aber ist die von Gandhi angefachte nationale Bewegung eine der bedeutsamsten geistigen Revolutionen der Neuzeit. Die Bedeutung Gandhis für England geht daraus genugsam hervor, dass man ihn in Sabarmati, vier Meilen von Ahmedabad verhaftete und zu sechs Jahren Kerker verurteilte. Wie diese Behandlung des geistig bedeutendsten Führers der indischen Nationalisten in Indien wirken wird, muss die Zeit ergeben. Auf den prunkhaft theatralischen Glanz der Feste zum Empfang des künftigen Königs von Großbritannien fallen dunkle Schatten. Die England ergebenen indischen Fürsten werden allein, ohne ein Volk von Millionen hinter sich zu haben, nicht stark genug sein, den Geist der Erhebung zum Schweigen zu bringen, den Gandhi erweckt hat.

*) Buch für Alle 1922, Heft 13, S. 204-205
Der englische Königssohn beim Besuch der indischen Fürstenhöfe: Empfang durch den Maharadscha von Gwalior.
Ghandi, der von den Engländern zu sechsjähriger Kerkerstrafe verurteilte indische Nationalist.
Der Palast des indischen Maharadschas in Mysore wurde zu Ehren des Prinzen von Wales illuminiert.

Indien, Der englische Königssohn beim Besuch der indischen Fürstenhöfe, Empfang durch den Maharsdscha von Swalior

Indien, Der englische Königssohn beim Besuch der indischen Fürstenhöfe, Empfang durch den Maharsdscha von Swalior

Indien, Ghandi, der von den Engländern zu sechsjähriger Kerkerstrafe verurteilte indische Nationalist

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Indien, Der Palast des indischen Maharadschas in Mysore wurde zu Ehren des Prinzen von Wales illuminiert

Indien, Der Palast des indischen Maharadschas in Mysore wurde zu Ehren des Prinzen von Wales illuminiert