Können wir richtig sehen und hören? - Eine Mahnung an jedermann.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1900
Autor: A. Berthold., Erscheinungsjahr: 1900

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hören, Sehen, Ohren, Augen, Gehör, Hörvermögen, Sehvermögen, Fähigkeiten,
Wenn man jemand, der über gesunde Sinne verfügt, fragen wollte: „Können Sie richtig sehen und hören?“ so würde er sicherlich entrüstet antworten: „Selbstverständlich! Ich bin doch nicht blind und nicht taub!“

Das Erstaunen und vielleicht die Entrüstung werden dann aber noch steigen, wenn man weiter fragt? Haben Sie denn sehen und hören gelernt?“

Wird man dann überhaupt noch einer Antwort gewürdigt, so lautet diese jedenfalls: „Das braucht man doch nicht zu lernen, das ist ja jedem Menschen angeboren!“

Das ist jedoch, wie hier nachgewiesen werden soll, ein sehr großer Irrtum, und leicht kann man den Gefragten überzeugen, dass er sich irrt.

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Wenn der Gefragte ein Städter ist, der selten aus den Mauern der Großstadt herauskommt, so braucht man ihn nur durch einen gutbestandenen Wald zu führen und ihn zu fragen, ob er dies und jenes sehe. Er wird sich dann bald überzeugen, dass er im dichten Walde sehr wenig und das Wenige noch undeutlich wahrnimmt. Zwischen den Gegenstand, den er sehen soll drängen sich andere Gegenstände, Bäume, Sträucher, Zweige, auch herrscht im Walde eine ganz andere Beleuchtung als in den Straßen einer Stadt, und bewegt sich der „Prüfling“, wie wir den Mann nennen wollen, bei der Beobachtung im Walde weiter fort, so sieht er zu seiner Rechten und Linken und ebenso vor sich die Bäume sich immer anders gruppieren. Das Bild, das er betrachtet, verschiebt sich fortwährend, und schließlich hat er das Gefühl, dass die Bäume um ihn „herumtanzen“. Er wird so verwirrt, so unsicher, dass er Gegenstände, Menschen, große Tiere auf kurze Entfernung gar nicht sieht; dagegen glaubt er viele Dinge zu gewahren, die in Wirklichkeit nicht da sind. Er ist den schwersten Irrtümern ausgesetzt, weil seine Sicherheit im Sehen vollständig geschwunden ist.

Warum das alles? Der Prüfling hat eben keine Übung im Sehen, wie sie für die eigenartigen Verhältnisse des Waldes notwendig sind.

Nun wollen wir den Prüfling, der aus der Großstadt stammt, in die weite freie Ebene hinausführen, etwa in die Lüneburger Heide oder in die Tiefebene, die sich vom Fuße der Karpaten an der Oder entlang zieht. Hier wird sich unser Prüfling bald davon überzeugen, dass er selbst mit Hilfe eines guten Krimstechers auf größere Entfernungen nicht gewahrt, was der Landmann aus dieser Ebene, der Jäger, der Gendarm, der Grenzaufseher u. f. m. mit größter Deutlichkeit ohne jedes Glas sehen. Dort, wo der Großstädter nur einen sich bewegenden Punkt wahrnimmt, erkennt der Mann aus der Ebene auf das deutlichste eine Person und kann bestimmen, ob sie männliche oder weibliche Kleidung trägt, ob sie rasch oder langsam geht, ob sie eine Last trägt oder nicht. Gegenüber dieser Leistungsfähigkeit versagt das Auge des Großstädters vollständig, weil ihm eben die Übung fehlt. Würde sich der Großstädter nur genügend lange in der Ebene aufhalten, dann könnte sich, wenn auch vielleicht erst nach Jahren, sein Auge durch die Übung so in seinem inneren Bau umformen und eine solche Fertigkeit erreichen, dass er dann genau so scharf sieht, wie der in der Ebene geborene und aufgewachsene Bewohner.

Versetzen wir andrerseits nun einmal einen Menschen, der bisher auf dem Lande lebte und dort vortrefflich auf weite Entfernungen sah, in den Trubel einer großstädtischen Straße. Hier sieht er plötzlich sehr ungenau; er ist zum Beispiel nicht im Stande, eine Person mit den Augen zu verfolgen, die sich durch das Gewühl der Straße hindurchbewegt. Er verliert diese Person immerfort aus den Augen. Er ist auch nicht fähig, aus der Fülle von Einzelheiten, die sich seinem Auge hier aufdrängen, etwas Bestimmtes genau zu beobachten. Es fehlt ihm eben die Übung, gerade diejenigen Eindrücke aufzunehmen, die er braucht und die er sehen will. Hat dieser Mann aber genügend lange Zeit in der Großstadt gelebt, so sieht er ebenso sicher und genau, beobachtet er im tollsten Trubel ebenso scharf, wie jeder in der Großstadt Aufgewachsene.

Wir erkennen also daraus: das „Sehen“ ist abhängig von dem Aufenthaltsort eines Menschen und von der Übung, die er für den betreffenden Aufenthaltsort sich angeeignet hat. Die Menschen in der Großstadt, im Gebirge, an der Seeküste, in der Ebene, im Walde usw. eignen sich ganz verschiedene Fähigkeiten an, zu sehen, und unzweifelhaft wird ein Mensch, der sich nicht fortwährend in der gleichen Gegend aufhielt, sondern längere Zeit bald an der See, im Wald, bald im Gebirge und dann in der Großstadt gelebt hat, im Sehen eine größere Übung haben. Er wird auch leistungsfähiger im Sehen unter verschiedenen Verhältnissen sein, als der Mensch, der zeitlebens auf derselben Scholle geblieben ist. —

Wir begegnen auf der Straße einem guten Bekannten! Er geht dicht an uns vorüber, sieht uns aber nicht. Warum? Er sieht gewohnheitsmäßig sehr schlecht und ist im Stande, auf der Straße seine nächsten Angehörigen über den Haufen zu rennen, ohne sie zu erkennen. Dabei ist er nicht etwa kurzsichtig, nein, er hat ganz gesunde und gute Augen, aber er hat eben nicht sehen gelernt. Er ist nicht geübt, die Eindrücke, die durch die Netzhaut des Auges seinem Gehirn übermittelt werden, im Gehirn in Denktätigkeit umzugestalten. Einem solchen Menschen können wir nun leicht einen anderen gegenüberstellen, der nicht nur sehr genau sieht, sondern der auch alle Kleinigkeiten wahrnimmt, der es beispielsweise sofort entdeckt, wenn auf dem Wege, den er täglich geht, an einem Hause ein kleines Schild an unauffälliger Stelle neu angebracht worden ist! Sogar an Orten, wo er noch nie vorher war, pflegt er sich mit wenigen Blicken nicht nur über die allgemeine Lage zu orientieren, sondern — sozusagen auf den ersten Blick — auch eine Menge von Kleinigkeiten wahrzunehmen und sich einzuprägen. Ein solcher Mensch besitzt eben Übung im Sehen, er hat sehen gelernt.

Wo wird denn nun aber das Sehen gelehrt?

Die Antwort ist recht betrübend. Man bekommt nirgendwo Unterricht darin, sondern muss es von selbst lernen. Eben deshalb ist der Erfolg bei manchen Menschen auch so mangelhast, dass sie trotz ihrer offenen guten Augen wie Blinde in der Welt herumlaufen. Vernünftigerweise müssten die Kinder bereits in der Schule systematisch im Sehen und Hören ausgebildet werden, das geschieht aber nicht. Auch in der Schule nimmt man eben leider an, dass jeder Mensch von selbst sehen lernt. Das ist aber keineswegs der Fall.

Der menschliche Körper ist mit äußerst wunderbaren Apparaten ausgestattet, allein diese funktionieren nur gut durch Übung. Und zwar bedürfen diese Apparate einer doppelten Übung.

Betrachten wir irgend eine Muskelgruppe des menschlichen Körpers, zum Beispiel die Beinmuskeln Jedermann weiß, dass man durch besondere Übung seine Muskeln außerordentlich kräftigen kann, ebenso wie ja durch mangelnde Anwendung und Übung ein Muskel immer schwächer wird, um schließlich ganz zu degenerieren. Nehmen wir an, die Beinmuskeln seien also durch die erste Art der Übung sehr groß und kräftig geworden. Will ich nun aber mit diesen starken Muskeln einen besonders hohen Sprung ausführen, so geht das nicht ohne weiteres an. Ich bedarf vielmehr erst einer zweiten allmählichen Übung für diesen Sprung, zu dem die schon geübten Muskeln verwendet werden sollen. Es handelt sich also erstens um Kräftigung und Stärkung, zweitens um Anwendung der in solcher Weise gekräftigten Muskeln.

Auge und Ohr des Menschen enthalten ja auch Muskeln, in ihrer Zusammensetzung sind sie jedoch nicht allein Muskeln, sondern außerordentlich feine und komplizierte Apparate. Das Auge: eine photographische Kamera; das Ohr: ein Mikrophon. Aber auch diese Apparate bringt man zur höchsten Leistungsfähigkeit nur durch doppelte Übung, indem man nämlich schon das Kind anleitet, durch Übung scharf zu sehen und zu hören, zweitens aber das Gesehene und Gehörte im Gehirn zu Gedanken zu verarbeiten.

Das bloße Hören und Sehen macht es eben nicht, man muss auch denken dabei, und das lernen sehr viele Menschen nicht genügend, weil ihnen eben keine Anleitung irgend welcher Art dazu gegeben wird, weder in der Schule noch in der Familie.

Wer Soldat gewesen ist, weiß, wie verschiedenartig die jungen, fast gleichalterigen und durchweg auch gleich gesunden Leute, die in das Heer eintreten, im Sehen und Hören ausgebildet sind. Es gibt Leute, die als Patrouille und Posten gar nicht zu verwenden sind, weil sie mit offenen Augen nichts sehen. Das heißt, sie sehen wohl im gewöhnlichen Sinne des Wortes, denn sie sind ja nicht blind, aber ihr Hirn ist vollständig ungeübt, das Gesehene in Gedanken umzuwandeln. Genau wie mit dem Sehen geht es ihnen mit dem Hören. Andere junge Soldaten dagegen sind vortrefflich auf Sehen und Hören geschult und gelten deshalb als „aufgeweckte Leute“.

Ohne Zweifel würden fast alle, die jetzt als Dummköpfe und Träumer gelten und wirklich in trauriger Weise „herumdösen“ ohne Auge und Ohr entsprechend gebrauchen zu können, ebenfalls aufgeweckte Menschen geworden sein, wenn man ihnen nur Anleitung im Sehen und Hören gegeben hätte. Aber niemand ist es eingefallen, daran zu denken, dass das bei vielen Menschen sehr notwendig ist; man hat das Individuum eben sich selbst überlassen, und es ist wirklich nur ein Zufall, wenn dieses Individuum trotz der Vernachlässigung seine Sinneswerkzeuge richtig und gut gebrauchen lernt.

Man gibt sich beim Militär die größte Mühe, die Leute im richtigen Sehen und Hören zu üben, denn für den Felddienst, für einen Krieg ist das von außerordentlicher Wichtigkeit. Durch die Unachtsamkeit eines einzigen Postens kann das größte Unglück verursacht werden; umgekehrt kann ein aufmerksamer Posten, ein einziger Mann, großes Unheil verhüten. Die Erfolge aber, die man heim Militär mit solchen Übungen erreicht, sind verhältnismäßig gering, und zwar deshalb, weil die Leute nicht mehr jung genug sind. Sie sehen bereits gewohnheitsmäßig schlecht und hören gewohnheitsmäßig schlecht und sind von dieser Gewohnheit schwer abzubringen, denn sie ist bereits zu tief eingewurzelt. Die Hauptsache ist eben, dass die üble Gewohnheit überhaupt nicht entsteht, und das kann nur in der Schule durch systematischen Unterricht im Sehen und Hören erreicht werden.

Es soll damit keineswegs der Schule und den Lehrern eine neue Last aufgebürdet werden. Kinder, die richtig Sehen und Hören gelernt haben, lernen auch im Übrigen viel besser und rascher als Kinder, die stumpf im Sehen und Hören sind. Die Mühe, die man sich zuerst mit dem Unterricht im Sehen und Hören gibt, belohnt sich somit reichlich während der ganzen ferneren Schulzeit. Und man wird sicherlich noch dazu kommen, einen solchen Unterricht einzuführen, ebenso wie man bereits längst eingesehen hat, dass in der Schule auch der Körper ausgebildet werden muss, und zu diesem Zweck das Turnen einführte. Es muss dem Staate ja schon im Allgemeinen daran liegen, nicht stumpfsinnige, sondern aufgeweckte und intelligente Bürger zu haben; es handelt sich aber außerdem um unsere Wehrkraft und vor allem, wie wir nachher zeigen werden, um unsere Rechtspflege. Bevor wir aber die kriminalistische Seite des Themas betrachten, wollen wir noch über das Hören einige Andeutungen machen, nachdem wir uns bisher mehr mit dem Sehen beschäftigt haben.

Die Behandlung, die dem Ohr zu Teil wird, ist im Allgemeinen eine recht schlechte. Wenige Körperteile werden so vernachlässigt, wie das Ohr! Durch falsche Behandlung, durch unpraktische Kopfbedeckungen nimmt man ihm seine Bewegungsfähigkeit, und es gibt wenig Menschen, welche ihre Ohren bewegen können, obgleich die Beweglichkeit des Ohres für „feines“ Hören sehr wichtig ist. Man frage nur einen vielbeschäftigten Ohrenarzt danach, wie die meisten Menschen mit ihren Ohren umgehen. Man wird dann Wunderdinge erfahren. Man wird sich davon überzeugen, dass die weitaus meisten Menschen das Ohr zwar äußerlich reinigen, aber nicht im tieferen Inneren, obgleich dies wegen des sich dort ansammelnden und leicht in Gärung übergehenden Ohrenschmalzes dringend nötig ist.

Der Ohrenarzt wird uns ferner mitteilen, dass die Leute Schmerzen im Ohr meist wenig Aufmerksamkeit schenken, dass sie monatelang mit Entzündungen im Ohr herumlaufen, ohne einen Arzt zu Rate zu ziehen, bis es zu einer ernsthaften Ohrenkrankheit kommt. Fast niemand lässt die Ohren seiner Kinder regelmäßig vom Arzt untersuchen, obgleich dies sehr nötig wäre; oft genug werden die Kinder auch durch Ohrfeigen an den Kopf bestraft, dass ihnen dieser „brummt“, obgleich dadurch der ganze Gehörapparat arg gefährdet wird. Gibt es wohl eine Mutter, sei sie noch so zärtlich, die nicht einmal im Ärger ihrem Kinde eine tüchtige Ohrfeige versetzt hat? Durch eine einzige solche Ohrfeige aber kann der Gehörapparat des Kindes auf Lebenszeit Schaden leiden.

Wir gehen also erwiesenermaßen viel zu rücksichtslos mit unserem Gehörapparat um, sowohl bei Kindern als bei uns selbst, wenn wir erwachsen sind. Die Folge ist, dass eine erschreckende Zahl von Menschen eine geschwächte Hörfähigkeit besitzt, sei es auf beiden Ohren, sei es nur rechts oder linksseitig. Dazu kommt, dass wir in keiner Weise unser Ohr üben und schärfen! Selbst die Leute, die Musik treiben, üben ihr Ohr nur einseitig auf die Unterscheidung höherer und tiefer, lauter und leiser Töne.

Diese mangelnde Übung und systematische Ausbildung des Ohres macht die meisten Leute einerseits unfähig, ihren Hörapparat richtig zu gebrauchen, und noch mehr, das Gehörte im Gehirn zu verarbeiten. Sieh dich nur einmal unter deinen Bekannten um, lieber Leser! Da findest du Leute, die gar kein „musikalisches Gehör“ haben, das heißt, sie können hohe und tiefe, reine und unreine Töne überhaupt nicht unterscheiden, und wenn sie singen, so hört sich das gräulich an. Dieses mangelnde musikalische Gehör ist nicht etwa erblich, denn es zeigt sich bei Kindern, deren Geschwister und Eltern ein vortreffliches musikalisches Gehör haben; es ist lediglich mangelhafte Übung und Ausbildung des Ohres. Anstatt aber daran zu denken, dass man jedes Ohr erziehen und zu tüchtigen Leistungen „trainieren“ kann, nimmt man den Mangel an musikalischem Gehör eben als etwas Unvermeidliches hin.

Wie viele deiner Bekannten, lieber Leser — eine Prüfung wird sehr interessant sein — sind in der Lage, mit Sicherheit zu bestimmen, woher ein ziemlich lautes Geräusch kommt, ob von oben, von unten, von rechts oder von links? Beobachte nur dich selbst und deine Bekannten, so wirst du finden, dass einzelne Leute gewisse Geräusche sehr gut hören und „verstehen“, dass sie aber für andere Geräusche, selbst wenn sie ebenso laut sind, wie die ersten, ganz taub sind. Du wirst entdecken, dass es Leute gibt, die dumpfe und helle, klingende und rasselnde Töne nicht unterscheiden können, und du wirst schließlich zu der Überzeugung gelangen, dass nur wenige Menschen wirklich „gut“ hören! Diese Wenigen verdanken aber ihre Leistungsfähigkeit lediglich dem Zufall.

Betrachten wir nun zum Schlusse auch noch die Wichtigkeit des guten und richtigen Sehens und Hörens für die Rechtspflege. Da stehen zum Beispiel zwei Zeugen in einer großen Kriminalsache vor dem Richtertisch und machen Aussagen, die einander vollständig widersprechen Beide Zeugen sind glaubhafte Personen; sie befinden sich im Vollbesitz ihrer Geisteskräfte (nach dem landläufigen Begriff, wonach jeder, der nicht ein Idiot oder Verrückter ist, für „im Vollbesitz der Geisteskräfte“ befindlich gilt), ebenso im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte. Sie sind nach juristischen Begriffen infolgedessen „klassische Zeugen“. Wer aber von ihnen spricht die Wahrheit?

In Wirklichkeit gewöhnlich beide, das heißt: jeder erzählt das, was er glaubt gesehen und gehört zu haben. Wie gut ein Zeuge aber sieht und hört, danach fragt kein Mensch.

Wahrscheinlich sieht und hört, wenn sich glaubhafte Zeugen derartig widersprechen, der eine gut, der andere schlecht. Es fällt aber keinem Richter, Staatsanwalt oder selbst Verteidiger ein, zu sagen: „Wir wollen doch einmal die Zeugen auf ihre Fähigkeit und Übung im Sehen und Hören prüfen!“ Geschähe das, so wäre der Widerspruch sofort gelöst und mit Sicherheit festgestellt, welche Zeugenaussage als richtig anzunehmen ist. Jetzt ist die Entscheidung, welchem der sich widersprechenden Zeugen geglaubt werden soll, rein zufällig. Ein solcher Zufall kann aber dem Angeklagten den Hals kosten. Ein unschuldig Angeklagter kann durch einen Zeugen, der nicht ordentlich hören und sehen kann und infolgedessen ganz falsche Aussagen macht, um Leben oder Ehre und Zukunft kommen, lediglich durch den Zufall. Umgekehrt kann der schwerste Verbrecher auf solche Weise freigesprochen werden.

Es kommt dazu, dass sich bei Gerichtsverhandlungen oft weder Richter noch Geschworene, weder Staatsanwalt noch Verteidiger darüber klar sind, was Zeugen in gewissen Fällen überhaupt gesehen haben können und was nicht! Alle diese maßgebenden Faktoren schließen von sich auf die anderen Menschen, was aber grundfalsch ist. Wenn der Gerichtspräsident selbst recht schlecht hört und sieht, kann er es sich kaum vorstellen, dass andere Leute sehr gut sehen und hören, obgleich sie keine Gelehrten sind. Umgekehrt wird ein Staatsanwalt, der gut sieht und hört, mit Unrecht sich über einen Zeugen entrüsten, der wahrheitsgetreu aussagt, er habe gewisse Dinge nicht gehört oder gesehen, die er nach Ansicht des Staatsanwalts hätte sehen müssen, weil sie dieser selbst in dem betreffenden Falle nach seiner Überzeugung gesehen oder gehört haben würde.

Ein in dieser Beziehung sehr lehrreicher Fall hat sich vor gar nicht langer Zeit vor dem Schwurgericht in Breslau abgespielt. Dort befand sich ein Mann wegen Mordes auf der Anklagebank. Er sollte einen Bekannten in die Oder gestoßen haben, um ihn zu ertränken. Es gab einen einzigen Zeugen, einen Fährmann, der behauptete, vom Fenster seines Fährhauses aus gesehen zu haben, wie der Ertrunkene freiwillig und absichtlich in das Wasser gesprungen sei. Diesem Zeugen wurde jedoch nicht geglaubt, weil man annahm, er sei so weit vom Tatort entfernt gewesen, dass er den Vorgang nicht deutlich genug habe sehen können. Es kam wohl dazu, dass der Zeuge eben ein Entlastungszeuge war, um ihn weniger glaubwürdig erscheinen zu lassen. Warum aber ist nicht wenigstens der Verteidiger aufgetreten und hat erklärt: „Der Zeuge ist Fährmann in der Ebene, er ist gewohnt, auf weite Entfernungen zu sehen, sein Auge ist besonders geschult, und er sieht wahrscheinlich mehr und besser, als wir alle hier im Saale. Wir wollen doch den Mann prüfen, ob er auf so weite Entfernung wirklich sehen kann, dann wissen wir, was von seiner Aussage zu halten ist!“ Nichts Derartiges geschah, und der Angeklagte wurde verurteilt.

Es gab zu Anfang des Jahrhunderts in Süddeutschland einen Kriminalprozess, der ganz Deutschland jahrelang in Aufregung versetzte, weil es unmöglich schien, die Wahrheit zu ermitteln. Es war in einer süddeutschen Stadt Jahrmarkt, und am Abend bekamen in einer Wirtschaft zwei Hausierer miteinander Streit. Der eine stand in der Nähe der Tür und aß Brot und Käse, wobei er die Esswaren mit einem Taschenmesser schnitt. Der Hausierer, mit dem er sich zankte, saß an einem Tische in einiger Entfernung. Dieser wurde wütend und stürzte auf den Gegner an der Tür los. Plötzlich schrie er auf und sank tot zu Boden; er hatte einen Stich in das Herz erhalten. Der Hausierer an der Tür wurde als Mörder verhaftet. Er erklärte aber, er habe nichts getan, der Gegner sei ihm ins Messer gelaufen und habe sich selbst dadurch getötet! So sagte auch eine Anzahl anwesender Zeugen aus. Andere Zeugen behaupteten dagegen, sie hätten gesehen, wie der Hausierer mit dem Messer den tödlichen Stoß gegen die Brust des Gegners geführt habe. Die berühmtesten Rechtsgelehrten wurden in diesem Falle um Rat angegangen, fanden aber keinen Ausweg aus dem Dilemma. Der Hausierer wurde infolge einiger Zufälligkeiten nur wegen Totschlags verurteilt. Hätte man die Zeugen auf ihre Fähigkeit und Übung im Sehen und Beobachten geprüft, so wäre man der Wahrheit sicher auf den Grund gekommen.

Solcher Fälle ließen sich Dutzende anführen. Hier ist jedoch nicht der Ort dazu! Die vorstehenden Zeilen sollten nur eine Anregung dazu geben, schon die Kinder im Sehen und Hören systematisch zu unterrichten. Ferner wollten wir die Notwendigkeit dartun, zumal in schwierigen und wichtigen Rechtsfällen die Zeugen sowohl daraufhin zu prüfen, wie sie sehen und hören, wie darauf, was sie sehen und hören können.

Manches Unrecht wird dann ungeschehen bleiben.