Im Kerker der Hoffnungslosen.

Aus: Die Gartenlaube, Illustriertes Familienblatt. Nr. 1. 1864. – Herausgeber Erst Keil.
Autor: Rasch, Gustav (1825-1878) Journalist und Reiseschriftsteller, Erscheinungsjahr: 1864

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Frankreich, Franzosen, Attentat, Hochverrat, Todesstrafe, Hinrichtung, Bastille, la Roquette, Gefängnis, Gefangener, Orsini, Girondisten, Schafott, Henker, Pierri, Sträfling
Wenn man in Paris auf dem Bastilleplatz neben der Julisäule steht, so führt links von der breiten, jetzt auch makadamisierten Straßenader, welche die Vorstadt St. Antoine bis zur Barriere du Trône durchschneidet, eine ziemlich schmale Straße von unbedeutendem Aussehen nach Nordost. Es ist die Straße de la Roquette. Der ganze Charakter dieser Straße ist wesentlich verschieden von dem Charakter der andern Straßen, welche die in allen Pariser Revolutionen so berühmt gewordene Vorstadt durchschneiden. Sie ist einsamer, stiller und ruhiger; die Cafés, Läden und Werkstätten verschwinden bereits noch vor der Stelle, wo die Straße den neuen Boulevard „Prinz Eugen" kreuzt; dann wird das Aussehen derselben von Schritt zu Schritt sogar ärmlich und schmutzig. Die Asphalttrottoire hören auf, das Pflaster wird unregelmäßig, die hohen Pariser Häuser schrumpfen zu einstöckigen, kleinen Gebäuden zusammen. Noch wenige Minuten, und das ganze große, glänzende und geräuschvolle Paris ist verschwunden; man sieht sich mit einem Male an die äußere Grenze der Vorstadt versetzt. Der Wechsel ist um so plötzlicher, da die Straße Roquette in ihrer ganzen Länge kaum eine Viertelstunde misst. Jenseits des Boulevard „Prinz Eugen" wird der Charakter der Straße völlig traurig. Grabsteine, Steinkreuze, Totenkränze, Bilder, welche den Tod und das Grab darstellen, Zypressensträuße, Epheu- und Immortellenkränze bilden die Staffage der Erdgeschosse der ärmlichen Häuser; der Fremde, der die Straße zum ersten Male durchwandert, kann nicht mehr im Zweifel sein — die Straße de la Roquette muss zu einem Friedhofe führen. Und so ist es auch. Sie führt gerade zu der berühmten Begräbnisstätte der Stadt Paris, dem Friedhofe „Pere Lachaise".

Aber sie führt noch an einer anderen Begräbnisstätte vorüber, die vielleicht die Wenigsten von den vielen Tausenden, welche die Straße zum Friedhofe des „Pere Lachaise" wandern, kennen oder beachten. Kurz bevor die Straße den äußern Boulevard kreuzt, erheben sich zur rechten und zur linken Seite derselben zwei kolossale Gebäude von düsterem, unheimlichem Aussehen. Halb schauen sie wie Gefängnisse, halb wie befestigte Forts aus. Hohe Mauern schließen sie in ihrem ganzen Umfange ein. An den Ecken und über den vergitterten Eingangstoren sind die hohen Mauern mit Türmen gekrönt, und aus dem inneren Raum dieser düsteren Umfassung blicken uns die Giebel kolossaler Gebäude an, welche auf der linken Seite der Straße eine sternförmige Gestalt haben. Zu welchem Zwecke dienen diese beiden finstern Gebäude? Das Gebäude links mit den hohen, sternförmig sich ausbreitenden Häusergiebeln ist das Gefängnis für junge Verbrecher von sechs bis zwanzig Jahren. Es ist der einzige Pariser Kerker, welcher einen vollständig inhumanen Charakter trägt; denn in seinen Gängen und Zellen ist die Isolierhaft in ihrer äußersten Strenge eingeführt. Das Gebäude rechts ist nur in den Menschen, welche in demselben detiniert werden, und in dem Schicksale, dem diese Menschen entgegengehen, fürchterlich; in seinen Räumen und in der Behandlungsweise der Verbrecher, welche diese Räume füllen, waltet die humane Behandlungsweise, welche ich in allen französischen Gefängnissen gefunden habe und welche niemals den Zweck der Haft überschreitet. Es ist das Gefängnis; der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurteilten, der Lagerplatz des Ausschusses der Bevölkerung des Seinedepartements, bis sie in die Bagnos und nach den Deportationsplatzen in Cayenne abgeführt werden — oder bis sie die Guillotine besteigen. Aus diesem Gefängnisse erlösen nur zwei Dinge, die schrecklichsten im Menschenleben: das Bagno oder der Tod durch Henkershand. Das Gefängnis führt den Namen nach der Straße, welche an seinem finstern, vergitterten Eisentore vorüberführt. Es heißt „la Prison de la Roquette." Sein Ursprung ist ganz neueren Datums. Es ist erst im Jahre 1851 erbaut.

Zwanzig Schritte vor dem vergitterten Eingangstore, immer noch an der linken Seite der Straße de la Roquette, bemerkt der Vorübergehende im Pflaster fünf größere Steine von Heller Farbe. Sie bilden ein großes Quadrat, der fünfte Stein liegt in der Mitte, wo die beiden Diagonalen des Quadrats sich schneiden. Diese fünf fast unscheinbaren Steine bezeichnen den fürchterlichsten Platz in Paris. Sie sind die Verkörperung schrecklicher Erinnerungen, welche bis in das vorige, Jahrhundert zurückreichen. Die Erinnerungen triefen von Blut, Schmerz und Tränen. Wir stehen, mit einem Worte, hier auf dem Platze, wo bei jeder Hinrichtung in Paris die Guillotine aufgestellt wird. Nachdem dieses fürchterliche Instrument im verflossenen Jahrhundert bald auf dem Grêveplatze, bald auf dem St. Antonsplatze, bald auf dem Revolutionsplatze, welcher heute der Eintrachtsplatz heißt, gehaust hatte und in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts rund um die Barrieren von Paris herumgewandert ist, hat es endlich hier seit zehn Jahren seine bleibende Stätte gefunden. Aber es steigt auch hier nur während der Finsternis; der Nacht aus der Erde, um nach dem ersten Morgengrauen wieder zu verschwinden. Die Guillotine erfüllt ihr schauerliches Handwerk, bevor sich die Sonne über den Baumgruppen des Boulogner Holzes am Himmel erhebt, und verschwindet, ehe sie der Sonne in das strahlende Feuerauge blickt. Das fürchterliche Instrument schämt sich seines Daseins vor dem Jahrhundert, welches die Menschen mit Recht das Jahrhundert der Zivilisation und der Humanität getauft haben. Oder schämen sich die Mörder, welche die Todesstrafe in diesem Jahrhundert der Bildung und der Humanität über den Häuptern ihrer Brüder aussprechen? Nein, diese Mörder haben das Gefühl der Scham lange verloren. Das ist der heutige Hinrichtungsplatz für Paris und für das Seinedepartement. Der zum Tode Verurteilte bringt seine letzte Nacht auf der Erde entweder in den im hintern Hofe des Gefängnisses befindlichen Zellen für die Hinzurichtenden, in welche ich die Leser sogleich führen werde, zu, oder er wird aus dem andern Gefängnisse, in dem er bis dahin detiniert war, wenige Minuten vor seiner Hinrichtung in den vorderen Hof der „Prison de la Roquette" geführt, wo ihn der Henker in Empfang nimmt.

Ich zog die Klingel an dem vergitterten Eisenthor, welches auf die Straße de la Roquette hinausführt. Das Tor und der kleine Hof, in den ich von außen hineinblickte, schauten so finster aus. Und draußen lachte die Erde im Blumenschmuck und Sonnenschein. Es war ein strahlender Oktobertag. Dann öffnete sich das finstere Tor, Turcos im arabischen Burnus und buntfarbigen Turban empfingen mich und führten mich zu dem Greffier [Schreiber/Justizbeamter]. Ich zeigte ihm meine von dem Polizeipräfekten an alle Gefängnisdirektoren im Departement der Seine lautende Vollmacht vor, mich überall umherzuführen und in allen ihren Diensten und Funktionen so genau und so weit zu unterrichten, wie es ihre Pflichten irgend gestatteten. Der Befehl des Polizeipräfekten erschloss mir auch das Gefängnis de la Roquette, welches sehr schwer zugänglich ist. Der Greffier klingelte. Es erschien ein Beamter des Gefängnisses. Ich bat mir als Führer einen der Brigadiers aus, welche bei Felix Orsini, dem fanatischen Gegner Napoleons, die letzte Nacht, bevor er das schöne Haupt auf das Brett der Guillotine legte, gewacht hatten. Der Greffier sagte mir die Erfüllung meines Wunsches zu. Der Brigadier kam. „Haben Sie bei Orsini die Nacht vor seinem Tode gewacht?" fragte ich ihn.
„Ja wohl, mein Herr", sagte der Brigadier. „Ich habe sowohl bei Orsini, wie bei Pierri und auch bei Rudio manche Nacht die Wache gehabt. Wie Sie wissen werden, brachten sie einundzwanzig Tage in la Roquette zu."

Wir gingen. Der erste kleine Hof schloss mit einem großen, mehrstöckigen Gebäude ab. Es dient zu Beamtenwohnungen, zum Aufenthalt für die Wachen — und zum Aufenthalt des Henkers, welcher hier das Opfer der Guillotine in Empfang nimmt. Heute füllten ihn die afrikanischen Soldaten in ihren malerischen Trachten. Ein zweites, mit eisernen Stäben vergittertes Tor führte in das Hauptgebäude des Gefängnisses von la Roquette. Es dient zum Aufenthalte und zu den Arbeitssälen der Bagnosträflinge und der Deportierten. Nach einigen Schritten standen wir in seiner Mitte. Die vier Seiten des dreistöckigen Gebäudes umgeben einen großen inneren Hof. Ein Brunnen mit beständig fließendem Wasser bildet das Zentrum desselben. Der weite Hof dient den Sträflingen als Aufenthaltsort und Spazierplatz für die Erholungszeit, wozu selbst in diesem Gefängnisse der schwersten Verbrecher zwei Stunden täglich bewilligt sind.

Da la Roquette durchschnittlich 800—900 Sträflinge enthält, welche ihre Abführung in die Bagnos oder nach den Deportationsorten erwarten, so lösen sich dieselben für die Freistunden abteilungsweise nach den einzelnen Divisionen ab. Auch zur Zeit, als ich den Hof besuchte, waren viele der Gefangenen in demselben anwesend. Sie gingen und sprachen miteinander, wo und wie sie wollten. Den berüchtigten Gänsemarsch, der in deutschen Zuchthäusern eingeführt ist, um dem Gefangenen die einzige Erholungsstunde des Tages zu einer Stunde der Langeweile und der Ermüdung zu machen, und den ich auch in den meisten englischen Gefängnissen gefunden habe, kannte das Gefängnis la Roquette nicht. „Was für Strafen wenden Sie denn gegen die Gefangenen an, welche sich wir ersetzen?" fragte ich meinen Begleiter, als wir zwischen den plaudernden und umhergehenden Gruppen der Bagnosträflinge hindurchgingen.

„Entziehung der Freistunden, der warmen Kost, auch nötigenfalls Entziehung des Bettes und Einsperrung in eine dunkle Zelle", antwortete er.

„Nicht die Prügelstrafe?" erwiderte ich.

Der Mann blieb stehen und blickte mich verwundert an. „Prügel?" sagte er, „Prügel? Sie meinen doch Prügel mit dem Stock oder mit der Peitsche?"

„Allerdings, diese meine ich."

Der Brigadier schwieg einen Moment. Dann fuhr er auf. „Herr", rief er, „in Frankreich prügelt man keine Menschen, auch keine Bagnosträflinge! Prügelt man denn in Ihrem Vaterlande Menschen? Sie sind wohl aus Russland, wo man die Knute gebraucht?"

„Nein, ich bin nicht aus Russland, wo man die Menschen mit der Knute züchtigt, ich bin aus Deutschland."

Der Brigadier sah mich noch erstaunter an. Es schien ihm unerklärlich, dass es außer Russland noch ein Land in Europa gebe, wo man Menschen mit dem Stock oder mit der Peitsche züchtige. Endlich erholte er sich von seinem Erstaunen. „Sagen Sie", wiederholte er, „ist es wahr, dass man in deutschen Gefängnissen prügelt?"

„Sicherlich", sagte ich ihm nochmals, „mit einer so fürchterlichen Sache scherzt man nicht. In den meisten deutschen Zuchthäusern wird die Prügelstrafe nicht selten diktiert und ausgeführt."
„Prügelt man denn auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen?" fragte er weiter. Auf seinem Gesichte zeigte sich ein Ausdruck, als wenn er bestimmt ein „Nein" erwarte.

„Allerdings", sagte ich, „man prügelt auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen, man legt sie zu diesem Zweck auf einen Bock, den man „Fuchs" nennt und auf dem ihnen Arme und Beine mit ledernen Riemen festgeschnallt werden. Die einzige Rücksicht, die man bei dieser Operation auf ihr Geschlecht nimmt, ist, dass man ihnen dabei leinene Hosen anzieht."

Das wollte meinem braven Brigadier nicht einleuchten. Kopfschüttelnd murmelte er ein „Impossible!“ zwischen den Zähnen, während wir unsere Wanderung fortsetzten.

Wir betraten nun zunächst die Arbeitsssäle der Sträflinge, welche sich in den verschiedenen Etagen des dreistöckigen Gebäudes befinden. Sie waren hoch, reinlich und luftig, enthielten aber sonst nichts Bemerkenswertes, als die Verbrecher, welche hier ihren Fähigkeiten oder dem früher betriebenen Handwerke gemäß beschäftigt wurden. Da arbeiten Schuster, Schneider, Lederzubereiter, Pantoffelmacher, Schmiede, Schlosser, Tischler in den hierzu eingerichteten Werkstätten bis zu dem Tage, wo sie die Reihe der Deportation über das Meer trifft. Aber in diesen grauen, wollenen Jacken und Hosen steckte das gefährlichste Gesindel Frankreichs. Jeder der Gesellschaft war wenigstens ein viel bestrafter Dieb. Wie mancher hatte unter der Anklage des Mordes, der Fälschung und des Straßenraubes gestanden! Während wir durch die verschiedenen Werkstätten gingen, erzählte mir mein Begleiter, indem er mich hier und da auf einzelne Galgenphysiognomien aufmerksam machte, eine lange Reihe haarsträubender Geschichten, in denen Diebstahl und Giftmischerei, Notzucht und Mord die Hauptrolle übernommen hatten. Ich sah junge Sträflinge, die kaum das zwanzigste Jahr überschritten hatten, mit sanften, weichen Gesichtszügen, und doch hatten sich ihre Hände bereits mit den schändlichsten Verbrechen befleckt, und alte Männer mit weißen Haaren, auf deren Gesichtern - die Galeere tiefe Furchen gezogen; ich sah ausgemergelte Gestalten, Augen voll Bosheit und niederträchtiger Tücke und Stirnen, ans denen die Gemeinheit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Aber wozu diese lange Galerie von Laster und Verbrechen schildern? Es wurde mir unheimlich zu Mute, wenn ich im Vorübergehen ihre Kleider streifte, und noch heute überläuft mich, während ich schreibe, in der Erinnerung ein Gefühl des Ekels und des Widerwillens. Doch selbst diese Kerle wurden nicht geprügelt, sie wurden in ihrer Verpflegung auf das Menschlichste behandelt, wenn sie auch vom Menschen oft nur die Gestalt behalten hatten. Sie arbeiteten nur von Morgens acht bis Abends acht Uhr, und diese zwölfstündige Arbeitszeit umschloss noch zwei Freistunden. Sie erhielten zu ihrer Nahrung nicht jene wenig schmackhafte Gemüsesuppe, welche man in deutschen Zuchthäusern austeilt, sondern nahrhafte und gut zubereitete Speisen, wenn sie auch nur zweimal die Woche, am Donnerstag und am Sonntag, Fleisch bekamen. Morgens und Abends, zum Frühstück und zum Mittagsessen, erhielt Jeder einen Labetrunk. Die Freistunden und die Stunden von Abends acht Uhr an gehörten ihnen. Sic konnten mit dieser Zeit machen, was sie wollten. Sie konnten arbeiten, spazieren gehen oder lesen.

Zu diesem Zwecke enthielt la Roquette eine nicht unbedeutende Bibliothek, aus welcher sich jeder Sträfling, wöchentlich ein Bus, entnehmen konnte. Ich ließ mir die Bibliothek zeigen, der ein Sträfling als Bibliothekar vorstand. Die Bücher, welche ich aus den Fächern zog, waren belletristischen, historischen oder wissenschaftlichen Inhalts; ich fand manche Reisebeschreibung, manches naturwissenschaftliche Buch; religiöse oder kirchliche Schriften sind mir weniger zu Gesicht gekommen. Abends war es den Sträflingen gestattet, bis zehn Uhr in ihren Schlafstuben zu lesen. Jeder besaß eine eigene Zelle zum Schlafen, die sich in langen Galerien nebeneinander an der äußeren Seite des Gefängnisses herum jagen. Jede Zelle hatte die Aussicht auf die hohe Mauer, welche, wie ich schon erwähnte, das Gefängnis; der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurteilten in einem ungeheuren Quadrate umschloss. Es fiel mir auf, als ich mit meinem Brigadier diese langen Gänge durchschritt und mir einige Zellen öffnen ließ, dass die Eisengitter nicht dicht vor den Fenstern, sondern in einer Entfernung von vielleicht einem halben Fuß vor den Öffnungen angebracht waren. Als ich den Kopf hinaussteckte, fand ich, dass es möglich war, mit dem Gefangenen in der Nachbarzelle, wenn derselbe ebenfalls den Kopf aus dem Fenster steckte, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ich äußerte mich hierüber zu meinem Begleiter, und er erwiderte mir: „Das ist richtig; es geschieht dies auch allabendlich von 9 ½ bis 10 Uhr. Diese halbe Stunde vor dem Schlafengehen ist den Unglücklichen zu einer Unterhaltung gestattet. Wenn die Uhr des Gefängnisses zehn Uhr schlägt, rufen die, wie Sie bemerken, dort unten an der Mauer aufgestellten Schildwachen, die Lichter auszulöschen. Dann ist die Unterhaltung zu Ende."

Was sagen die Zuchthausverwalter einiger deutschen Staaten zu einer solchen die Individualität des Menschen berücksichtigenden Maßregel im Pariser Gefängnis der Bagnosträflinge, sie, in deren Gefängnishöfen die Schildwachen den Befehl erhalten, nach dem Kopfe des Gefangenen zu schießen, der sich an den Fenstern zeigt?

Das Mittelgebäude des großen Hofes hat einen zweiten Durchgang. Dieser führt in einen kleineren Hof. Ein Springbrunnen steht in der Mitte desselben, von einigen Rasenplätzen und Baumen umgeben. Der Hof ist von zweistöckigen Gebäuden eingefasst. Es ist hier gar still und einsam und der Kontrast um so auffallender, wenn man aus dem Geräusch und Geschwirr des großen Hofes mit seinen ihn umschließenden Werkstätten kommt. Auch ich empfand diesen Kontrast, als ich mit meinem Begleiter eintrat; ich hörte nichts, als das Rauschen des in ein weites steinernes Becken zurückfließenden Wasserstrahls.

„Wozu dient dieser Hof?" fragte ich den Brigadier.

„Es ist der Hof der zum Tode Verurteilten", erwiderte er.

Ich schauderte einen Augenblick. „Der Hof der zum Tode Verurteilten!" wiederholte ich mechanisch. „Hier sahen Orsini und Pieri zum letzten Male den blauen Himmel und die grüne Erde." Wenn ich auch die Tat der fanatischen Italiener nicht billigen konnte, so wollte mich doch ein Gefühl der Wehmut beschleichen, wenn ich an die letzten Augenblicke dieser Männer dachte, denen im schönsten Lande der Erde der blaue Himmel zum ersten Male lachte.

„Sie fragten nach Orsini und Pieri," sagte mein Begleiter. „Hier ist der Hof, wo sie einen Teil des Tages zubrachten."

Schweigend ging ich durch die Gänge des kleinen Gärtchens. Die Mittagssonne blickte so golden aus dem azurblauen Himmel hinein, der Rasen war von seltener Frische. Ringsum Alles still. Nur das Wasser plätscherte in Millionen silberner Tropfen über den Stein.
„Ich werde Ihnen nun die Gefängnisse der zum Tode Verurteilten zeigen", sprach der Brigadier.

Er schloss eine starre mit Eisen beschlagene Türe auf, welche aus dem Gebäude in den Hof führte. Wir traten durch dieselbe auf einen Gang, welcher im Innern des Hauses den Hof von drei Seiten umgab. Auf den Gang öffneten sich eine Menge Zimmer, die zur Apotheke, zum Sektionssaale, zur Totenkammer, zu einem Konsultationszimmer für die Ärzte und zu anderen administrativen Zwecken des Gefängnisses dienten. Der Brigadier schloss zwei anstoßende Zimmer auf. Ich trat ein. Ich befand mich im Gefängnis Orsinis und Pierris während ihrer einundzwanzigtägigen Haft in ,,Prison de la Roquette".

Die Zimmer waren nicht unfreundlich. Sie waren groß und hoch. Das Zimmer Orsinis hatte eine fast viereckige Gestalt. Das Zimmer Pierris war um die Breite des Ganges länger. Die Wände hatten einen gelben, ockerfarbigen Anstrich; das von außen mit starken Eisenstangen vergitterte Fenster war ziemlich groß und in der oberen Hälfte der Wand. In der Ecke jedes Zimmers stand eine eiserne Bettstelle, wahrend sich ein kleiner, weißer Porzellanofen in der Mitte befand. Außer einigen Rohrstühlen waren keine Möbel im Zimmer. Der Fußboden war gedielt. In ihrem Äußeren hatten beide Zimmer also nichts, was an ihre schreckliche Bestimmung erinnerte.

„Die Zimmer auf diesem Gange und im zweiten Stock dienen den zum Tode Verurteilten zum Aufenthalte, bis sie zur Hinrichtung vor das Gefängnis hinausgeführt werden", sagte der Brigadier. „Augenblicklich ist Niemand in la Roquette, dem die Guillotine bevorstände. Die Zimmer werden erst möbliert, wenn sie bezogen werden. Dort links wohnte Pierri, hier rechts Orsini. Sie sehen, beide Zimmer trennt nur eine Wand. Rudio befand sich im oberen Stock."

„Hatten Sie häufig die Nachtwache bei Orsini und Pierri, Brigadier?" fragte ich.
„Mehrere Male. Sie wissen, Beide brachten einundzwanzig Tage hier zu. Bei Orsini wachte ich die Nacht vor seinem Tode."

„Wird bei allen zum Tode Verurteilten die Nächte vor ihrem Tode gewacht?"

„Bei Allen; Sie sehen dort die zwei Stühle, dem Bette gegenüber. Auf dem einen sitzt der Gefängnisbeamte, auf dem andern ein Soldat, das Auge auf das Bett des Verurteilten gerichtet."

„Waren Orsini und Pierri heiter und ruhig während der Zeit, wo sie hier detiniert waren?"

„Bis zum letzten Augenblick waren sie heiter und sogar fröhlich. Wenn sie von dem Attentat sprachen, bedauerten sie nur, dass es nicht gelungen sei. Pierri sang zuweilen in seinem Zimmer die Marseillaise oder den Gesang der Girondisten. Dann saß er oft stundenlang da auf dem Mauervorsprung an der Tür und schaute zum Fenster hinaus nach dem Himmel, oder er unterhielt sich mit der Wache, oder er klopfte einmal an die Wand und rief „Orsini", der in ähnlicher Weise antwortete. Sie hielten sich auch mehrere Stunden des Tages in dem kleinen Gärtchen auf dem Hofe auf, von wo wir eingetreten sind, natürlich nach einander. Erst am Morgen ihrer Hinrichtung sahen sie sich wieder, hier auf dem Gange, als sie aus dem Zimmer traten. „Eh bien", rief Orsini, „wo ist denn Rudio?"
Pierri lachte. „Ich habe es mir gedacht, dass wir Beide den Gang allein machen würden", erwiderte er."

„Und Orsinis letzte Stunden, Brigadier? Schlief er ruhig in der letzten Nacht?"

„Ganz ruhig, sechs Stunden. Ich habe nicht bemerkt, dass er erwachte. Nach vier Uhr stand er auf. Er frühstückte und war ganz heiter. Von Neuem sprach er von dem Attentat und bedauerte abermals, dass es nicht gelungen war. Dann kam der Priester. Orsinis Haltung blieb ganz dieselbe, fest, ruhig und heiter. Hier auf dieser Stelle sah er Pierri wieder, wie ich Ihnen schon sagte. Sie begrüßten sich Beide in herzlichster Weise. Wenn es Ihnen beliebt, so gehen wir nun. Sie haben Alles gesehen. Ich werde Sie nun den Weg führen, den Beide zum Tode gingen. Oder wollen Sie erst noch Rudios Zimmer sehen? Sie wissen, er wurde auf Verwendung seiner Frau begnadigt, nach Cayenne deportiert und ist von dort entkommen."

„Ich weiß. Rudios Zimmer interessiert mich nicht. Gehen wir, Brigadier."

Der Gefängnisbeamte verschloss die Zimmer Orsinis und Pierris von Neuem. Am Ende des Ganges stiegen wir eine kleine hölzerne Treppe hinauf. Wir befanden uns im oberen Stock des Gebäudes. An demselben schloss sich der lange Gang, an dessen beiden Seiten die Schlafzellen der Sträflinge liegen und der wieder zum vorderen Hofe des Gefängnisses führt.

„Hier gingen sie Beide zum Tode", sagte mein Begleiter, als wir in dem Gange dahin schritten; „Pierri ging voran, Orsini drei Schritte hinter ihm, der Priester neben Orsini. Auf dem ganzen Wege sang Pierri mit lauter, tönender Stimme den Gesang der Girondisten. Orsini sang nicht; er wiederholte mir zuweilen die Worte „du calme". (Ruhig!) Beide sahen stolz und, ich möchte sagen, fröhlich aus."

Ich las auf dem Gesichte meines Begleiters ganz deutlich die Empfindung, welche die Erinnerung noch heute in ihm wach rief. Er schwieg einen Moment.

„Weiter, Brigadier", sagte ich, „weiter."

„Nun, draußen im kleinen Hofe wurden Beide dem Henker übergeben. Der Henker wartet immer im vorderen Hofe, er kommt nur in den Hof der zum Tode Verurteilten, wenn der Verurteilte sich zu gehen weigert und sich widersetzt."

„Hat Orsini den bekannten Brief an Napoleon geschrieben?" fragte ich im Weitergehen.

„Das kann ich nicht wissen", sagte mein Begleiter. „Der Direktor des Gefängnisses hielt sich oft längere Zeit bei den drei Gefangenen auf."

Wir waren während dem wieder in den vorderen Hof von la Roquette gelangt. „Es war ein grauer Wintermorgen," erzählte mir der Brigadier noch, bevor ich ihn verabschiedete, „vor sechs Uhr. Da draußen war die ganze Vorstadt auf den Beinen, So weit man sehen konnte, erblickte man Kopf an Kopf. Man hörte ein lautes Weinen und Schluchzen unter der Menge, als Orsini und Pierri das Schafott betraten. Pierri sang noch den Refrain des Girondistenliedes, als er die Stufen des Schafott hinanstieg, „mourir pour la, patrice, mourir pour la, patrie!" „Vive la, France, vive l'Italie!" rief Orsini, als er von dem Schafott die Menge Überblicke, bevor er das Haupt auf das Brett legte."

Wieder stand ich allein vor dem schrecklichen Tore von la Roquette auf der Stelle, wo das Schafott aufgestellt wurde. Vor dem Auge meiner Seele erschien das geisterbleiche Antlitz Felix Orsinis, wie ich es in einem vortrefflichen Bilde bei meinem Freunde Karl Blind in London sah. Und als ich die Straße la Roquette aufwärts nach dem Bastillenplatz ging, da sang ich unwillkürlich mit halblauter Stimme den Gesang der Girondisten. Da war er ja, der Platz, wo das Volk von Paris einst die Bastille stürmte; da sind noch alle die Straßen, welche in die aufrührerische Vorstadt St. Antoine führen. Da weiß ja jeder Stein von den Revolutionen zu erzählen, welche seit siebzig Jahren fast immer von diesem denkwürdigen Platze ausgingen und ihre Erschütterungen über Europa trugen. Wer vermag zu bestimmen, ob der Tag nicht nahe ist, wo hier wieder das alte ,Allons enfants de la, patrie" erbraust? Wer kann sagen, ob es vor oder in den Tuilerien ausklingt?

Die Gartenlaube 1864. Nr. 1

Die Gartenlaube 1864. Nr. 1

Exekution 1870

Exekution 1870

Exekution 1870__

Exekution 1870__

Exekution 1870_

Exekution 1870_

Orsini, Felice Graf (1819-13. März 1858 in Paris hingerichtet) italienischer Rechtsanwalt. Attentat auf Napoleon III

Orsini, Felice Graf (1819-13. März 1858 in Paris hingerichtet) italienischer Rechtsanwalt. Attentat auf Napoleon III

Prison de la Roquette

Prison de la Roquette

Das Schloss Funtainbleau

Das Schloss Funtainbleau

Die Tuilerien

Die Tuilerien

Das Souvre

Das Souvre

Das Palais Royal

Das Palais Royal

Das Pantheon oder die Kirche der St. Genovefa

Das Pantheon oder die Kirche der St. Genovefa

Der Tempel

Der Tempel

Die Bastille

Die Bastille

Notre Dame

Notre Dame

Das Innere der Notre Dame im Augenblick der Fahnenweihe den 12. Sept. 1789

Das Innere der Notre Dame im Augenblick der Fahnenweihe den 12. Sept. 1789

Die Catacomben

Die Catacomben

Die Börse

Die Börse

Die Münze

Die Münze

Platz Ludwig des XV.

Platz Ludwig des XV.

Die St. Sulpiciuskirche

Die St. Sulpiciuskirche

Der Justizpalast

Der Justizpalast

Paris Stadtansicht

Paris Stadtansicht

Paris Blick auf den Louvre

Paris Blick auf den Louvre

Paris Blick auf den Pont-Neuf

Paris Blick auf den Pont-Neuf

Paris Blick auf die Dächer der Stadt

Paris Blick auf die Dächer der Stadt

Paris Blick vom Trocadéro

Paris Blick vom Trocadéro

Paris Boulevard

Paris Boulevard

Paris Hôtel de Ville

Paris Hôtel de Ville

Paris Innenstadt

Paris Innenstadt

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Kanal Saint-Martin

Paris Kanal Saint-Martin

Paris Notre-Dame 2

Paris Notre-Dame 2

Paris Notre-Dame

Paris Notre-Dame

Paris Omnibus auf dem Pigalle

Paris Omnibus auf dem Pigalle

Paris Palais Royale

Paris Palais Royale

Paris Place Chlichy

Paris Place Chlichy

Paris Quai Herry IV.

Paris Quai Herry IV.

Paris Rue Neuve Notre Dame

Paris Rue Neuve Notre Dame

Paris Rue Saint-Denis

Paris Rue Saint-Denis

Paris Seine-Hochwasser Januar 1910

Paris Seine-Hochwasser Januar 1910