Idole

Geschichte einer Liebe
Autor: Rosa Mayreder (1858-1938) österreichische Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Kulturphilosophin, Librettistin, Musikerin und Malerin, Erscheinungsjahr: 1899
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Ein einziges Wort hat Alles wieder lebendig gemacht! Ich fühle, die Zeit, die darüber hingegangen ist, war nur ein Verband auf einer ungeheilten Wunde. Er, an den ich gebunden bin, hat mich nicht freigegeben; er ist nur im Hintergrunde gestanden, stumm, aber dennoch gegenwärtig.

Ich habe ihn nicht vergessen, ich kann ihn nicht vergessen! Ich kann ihn nicht vertreiben aus meinem Herzen! Es gibt eine schauerlich geheimnisvolle Bezeichnung dafür, für dieses Unzertrennlichsein, für dieses Ineinandergewachsensein, für dieses Besessensein, eine pathetische Bezeichnung, die aus andern Zeiten stammt, als die Menschen noch an eine Magie der Leidenschaft glaubten und sich ihr ergaben wie einem unabwendbaren Schicksal, blind und widerstandslos.

Er aber hat sich ihr nicht ergeben, er kannte Mittel, die den Zauber brechen. Er hat sich widersetzt; er wollte nicht - er wollte nicht, daß ein Weib in seinem Blute wohnen sollte. Er hat sein Ich zum Alleinherrscher gemacht und kein zweites Ich daneben geduldet. Er hat mich getötet in seiner Seele.

Aber nein, es ist Alles ganz alltäglich zugegangen; es war nichts Frevelhaftes dabei, nichts Geheimnisvolles. Er hat mich einfach nicht wieder geliebt - ein sehr gewöhnlicher Fall.

Wie lächerlich, eine so große Empfindung an ein so kleines Erlebnis, an eine so kahle, so dürftige Wirklichkeit zu knüpfen! Welches Missverständnis. Ja, war das Ganze nicht ein bloßes Missverständnis! Ich habe ihn für einen andern gehalten, als er war; ich habe mich getäuscht. Ist damit nicht alles aufgeklärt, alles abgetan? Musste er nicht merken, das ich ihn missverstand? Das ich ihn für einen andern hielt, als er war? Das ich ihn nur deshalb liebte? Gibt es etwas Erkältenderes, als nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden? Gibt es etwas Beleidigenderes, als um eines fremden Wesens willen geliebt zu werden?

Ah, da stehe ich wieder am Eingang des Labyrinthes, vor dem Abgrund! Liebt nicht er in aller Wirklichkeit ein fremdes Wesen um meinetwillen? Liebt er nicht mich in einem fremden Wesen? Er hat mich geliebt, er liebt mich noch? Er liebt mich in jener dunklen, stillen, versunkenen Tiefe seines Innern, wo etwas lebt, das nicht sein äußerlicher Mensch ist, nicht Verstand, Weltklugheit, Wissenschaft, wo etwas lebt, das er nicht kennen will, nicht dulden will, nicht erleiden will, das, was mein ist an ihm, was mir nicht entrissen werden kann, was das fremde Weib nie besitzen wird.

Aber er hat das Glück, das ich ihm geben konnte, ausgeschlagen; er hat ein anderes Glück vorgezogen. Er ist glücklich, er ist zufrieden nach seiner Weise. Das heißt, er ist unbehelligt, er ist ungestört von starken Empfindungen. Er lebt mit Seelenruhe, ohne die jauchzende Wonne und ohne die erschütternden Qualen der Liebe. Er lebt kein Leben der Liebe - aber er wünschte sich auch kein Leben der Liebe.

Und ich? Über mich herein hat sich die Liebe ergossen wie ein alles erfüllender Strom; ich bin untergegangen in ihr mit meinem ganzen Sein. Und in meiner Einsamkeit stehe ich immer nach vor dem Bilde desjenigen, den ich liebe, und immer noch steigt ein heißes, bebendes Entzücken mir auf die Lippen: Siehst Du denn nicht, ich liebe Dich? Siehst Du denn nicht, Du lebst in mir ein zweites Leben, ein glühendes, leuchtendes, farbiges Leben in den phantastischen Schlössern der hohen Liebe? Aus der harten Schale der Wirklichkeit entpuppt, schwebt Deine Erscheinung beflügelt in den duftenden Gärten meiner Zärtlichkeit, und purpurne Blumen blühen zu Deinen Füßen, wenn Du unter dem Sternenhimmel wandelst, den ich über Dir ausgespannt habe.