Geheimleben im Waldboden

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 22. 1927
Autor: R. H. Francé, Erscheinungsjahr: 1927

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wald, Walspaziergang, Waldboden, Moos, Insekten, Käfer, Spinnen, Würmer, Schnecken, Pilze,
Jeder Waldspaziergang hat einen Höhepunkt und das ist die Stunde der Rast. An dem heimeligsten stillsten Platz streckt man sich wohlig auf die Nadeldecke oder den weichen Moosteppich und genießt nun Aussicht, Waldleben, Vogelsang, Wipfelrauschen und die wohltuende Ruhe eines solchen abgeschiedenen Plätzchens. Und diese Stunde ist für jeden, den nicht Beruf dazu bringt, wohl die einzige, in der er einmal darüber nachdenkt, was ist denn eigentlich dieser Waldboden, der so ganz anders aussieht wie sonst überall das Land zu unseren Füßen? Man erblickt ihn bestreut mit abgefallenen Nadeln, mit toten Blättern und einer erstaunlich großen Menge abgesprungener Rindenstückchen und kleiner Zweige. Dazwischen grünen die Polster der Moose, es raschelt manche Erdflechte, es stehen die reizenden zweiblätterigen Keimlinge von Buche und Ahorn oder das liebgrüne Nadelbüschelchen eben erst zum Leben erwachter Fichten, Gräser sprießen, manch ein dunkelgrünes oder reizend gefiedertes Geblätt stellt sich auf. Aber dazwischen ist kaum noch Leben.

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Nur Ameisen stolpern emsig durch das Dickicht, das ihnen diese kleine Welt entgegenstellt; sie laufen unsinnig jedes Zweiglein aus, bevor sie umkehren, springen oder fallen herab und krabbeln weiter. Blickt man aufmerksamer zu, so ertappt man noch da und dort eine rote Milbe oder einen glänzend schwarzen Käfer kleinsten Formates, der aus einem geheimnisvollen winzigen Gang heraus kommt und wieder in einer dunklen Zwergenhöhle verschwindet. Das ist alles. Sonst erscheint der Boden tot und als einziges Leben spielen auf ihm helle Sonnenkringel. Sie flimmern, beglänzen da und dort etwas mit grünem Feuer und wandern sachte davon wie das Leben selbst.

Dennoch ist dieser Boden nicht tot, er birgt vielmehr das reichste Leben, das sich auf Erden irgendwo nur auf kleinem Raum zusammenfinden kann.

Ihm nachzugehen, bereitet ein seltenes Vergnügen und wird mit den absonderlichsten Überraschungen belohnt.

Zunächst muss man die Decke abgefallener Nadeln oder Laubblätter abheben. Sie ist ja in unseren Forsten ohnedies nicht so dick, wie es sich der Forstmann wünschen würde. Darunter liegt Humus, eine dunkle, erdige Masse, gemischt je nach dem Gestein, auf dem wir stehen, mit Sandkörnchen oder Kalksplitterchen oder sonstigem Verwitterungsgrus. Aber schon, als wir mit dem Stock oder den Händen hineingriffen, haben wir sein feines Gefüge und den seltsamen Bau zerstört, zu dem das Leben den Humus umgeschaffen hat.

Zuoberst wohnen die Käfer, die Tausendfüßler, Spinnen, Schnecken und Springschwänze. Ein leichtsinniges, arbeitsscheues, räuberisches und gefräßiges Volk. Nicht viel anders, wie wenn wir zu Schiffe in einer großen Hafenstadt ankommen und nun zuerst dem Hafengesindel begegnen.

Die Schnecken sind noch die ehrbarsten unter ihnen. Stille Naturen, die niemand anderen belästigen und anfallen, es seien denn die Raubschnecken des Auwaldes, die Fleischfresser sind. Die winzigen Gehäuse der Nadelschneckchen und Schließmündchen, die man in der Streu zu Dutzenden kleben sieht, sind friedlich. Diese Tierchen weiden die Pflanzenüberzüge der Rinden ab und vertiefen sich in die vielen fleischigen Pilzhüte, mit denen ihnen der Waldboden aufwartet. Sie sind fast alle winzig bis auf die eine, von dem Waldwanderer mit Recht unmutig gesehene große bald schwarz, bald blaurot über den Weg kriechende Wegschnecke. Denn die kündet dem Volksglauben nach Regen und die Erfahrung gibt diesem Glauben nur zu oft recht. Sie sucht Pilze und Grünzeug dazu, wagt sich aber angesichts ihrer für Trockenheit empfindlichen Haut nur in den Stunden aus ihrem Erdloch heraus, in denen die Luftfeuchtigkeit ihr behagt. Dem Kenner sagt sie aber nicht nur die Wetteränderung voraus, sondern erzählt ihm auch von der Geologie des Bodens. Ist sie schwarz gefärbt, bedeutet das, hier liegt Urgestein; hat sie ein rotes Kleid an, dann verkündet sie damit Kalkboden.

Seitdem ich einmal im Wald einen großen Steinkriecher im Kampfe mit einer nur mehr schwache Lebenszeichen gebenden Wegschnecke sah, weiß ich auch, wer ihrer Vermehrung Halt gebietet. Diese Tausendfüßler sind die in Erdburgen hausenden Ritter des Waldbodens, die scharfe Musterung halten über Schneck und Wurm, soweit sie nicht bescheiden sich mit dem Verzehren der von anderen Räubern übriggelassenen Reste begnügen. Von ihren Opfern ist eines der Waldregenwurm, ein rosarotes, nächtliches, ebenso hässliches wie harmloses Tier, jedermann, wenn auch nicht aus dem Forst, so doch aus seinem Ersatz, dem Garten bekannt. Da aber auch jedermann trachtet, bei Einbruch der Dämmerung aus dem dann kühl und feucht werdenden Waldrevier zu kommen, weiß fast niemand, wie reich an Regenwürmern der Waldboden ist.

Auch sie kommen nur des Nachts an die Oberfläche aus ihrer unterirdischen Welt der Gänge und Blattmagazine, die sie sich, namentlich im Herbst, vielleicht für die Zeit des Bodenfrostes anhäufen. In dieser dunklen Stunde begegnen sich da auf der geheimnisvollen Streudecke viele merkwürdige und unheimliche Gestalten. Die Weberknechte schreiten im Mondenglanz langbeinig und behutsam über das Moos. Über die Regenwürmer und heimlich raspelnden Schnecken steigen sie gleichgültig hinweg, dann stehen sie mit hochgezogenen nadeldünnen Beinen und wiegen sich seltsam, ein Sprung: und um eine Milbe ist es geschehen. Oder um einen Kleinkäfer oder einen der drolligen Springschwänze, die auch zu nächtlicher Zeit mit Vorliebe dem Boden entsteigen und gleichsam als Floh des Waldes sich umherschnellen. Diese Zwerge werden auch von den Moosskorpionen eifrigst gejagt, deren Reich die trockenen Moospolster sind, und sicher fallen sie auch manchem der durch die Streu schleichenden schwarzen Käfer zum Opfer, die in hunderterlei Formen, klein und groß, den Waldboden bewohnen und in seinen Gängen und Labyrinthen Bescheid wissen. Wer weiß, wie tief sie da tagsüber hinabgehen, des Abends aber sind sie alle an der Oberfläche, rennen, schmausen, kämpfen und lieben nach ihrer Art und dienen dadurch dem großen Ganzen, dem sie angehören.

Nur ein Mistkäfer, so lautet verächtlich das Urteil über einen der größten ihrer Gilde. Aber dieser schwarze, plumpe, unappetitliche Rosskäfer stolpert schon binnen wenigen Minuten herbei aus irgend einem unbegreiflich versteckten Schlupfwinkel, wenn wo ein toter Vogel oder eines der Waldspitzmäuslein am Boden liegt. Mit den Totengräberkäfern, den Totenkäfern und den Aaskäfern zusammen, scheuen sie da alle auch den hellsten Sonnenschein nicht. Von allen Seiten laufen sie behend, schnellfüßig zusammen, als ob ein Funkspruch: „An alle“ ergangen wäre. Sie bohren sich unter dem kleinen Toten ein und ziehen ihn hinab in ihr dunkles Reich, in dem sie sonst so verborgen hausen, dass wohl noch kaum jemand einen ihrer Sippe bei Tage anders denn in solcher Tätigkeit
gesehen hat.

Viel zu wenig wissen wir ob solcher Verborgenheit noch von dem Leben und der wahren Bedeutung der Waldkäfer, von den Bodeninsekten überhaupt und von ihren Larven. Aber siebt man Moos oder mitgenommene Waldstreu daheim aus, erbeutet man stets und überall eine ganze Heerschar kleiner und winzigster Tierchen, vom Gewöhnlichen und Unansehnlichen bis zur edelsteinschimmernden Kostbarkeit. Da schleichen sich Laufmilben davon, behend enteilen Trichter- und Springspinnen, Springschwänze (namentlich im Kiefernwald) purzeln auf und nieder, allerlei schwarze Käfer stellen sich tot oder schreiten bedächtig und sieht man genauer zu, so sind nadelkopfkleine und noch kleinere darunter, die man erst unter dem Vergrößerungsglas richtig sehen kann. Da entfalten sie eine Schönheit in Farbe und Form, dass man sie mit Schmetterlingen vergleichen möchte. Unglaublich genug und doch wahr ist, dass in diesem Waldmulm sogar Krebse leben. Natürlich nicht etwa Solokrebse für die Tafel der Feinschmecker geeignet, sondern feingliederige, unansehnliche Krebstierchen, aber doch richtigster Art, die in den trockenen Monaten im Moos einen Trockenschlaf halten, aber an den, ihrer Ansicht nach gewiss viel zu wenig häufigen Waldregentagen daraus erwachen und nun mit ihren kleinen Ruderbeinchen munter in den winzigen Tropfen und Miniaturpfützen im Moosboden für ein paar Stunden umherrudern.

Alles das segnet den großen Wald ob seiner Abfälle. Faulende Blätter, die Pilzfädenbezüge der kleinen Zweiglein, Schimmel- und sonstige Pilze bilden ihre Nahrung und dann der liebe Nächste nach dem Sprichwort: Du bist klein und ich bin groß, was schließlich auch ein millimeterlanger Moosskorpion zur staubkorngroßen Milbe sagen kann. Das alles scharrt und gräbt und wühlt im Waldboden und baut Tunnel und Gänge und verwandelt ihn eben in den wunderbar feinen vielstöckigen Bau, von dem hier eingangs die Rede war. Unterstützt werden sie von einem Heer bleicher Larven und Würmer, die tiefer unten im ewig Feuchten und Dunklen sitzen und das zweifellos vornehm und behaglich empfinden. Die Käferlarven, die der Trauermücken, die Fliegenmaden zernagen den Mulm, die Bodenwürmer fressen Erde und Krümeln und zerkleinern Tag und Nacht, die in die Erde hinabgelangten toten Pflanzen und Tiere, zerfallen und vermorschen, werden Mulm, Erde, Nahrung, neues Leben, wieder Fruchtbarkeit. Neue Schönheit sprießt aus ihm, Hässliches und Totes verliert seine Schrecken und das Geheimleben im Waldboden erweist sich so als eine der weisesten Einrichtungen der Schöpfung, gewissermaßen als ein wichtiges Rad im großen Uhrwerk, das die Welt, ihr Leben, ihre Schönheit und ihren Sinn erhält und sichert.

Grafik: Ein Kleinkrebs der Waldmoose bei 150facher Vergrößerung
Grafik: Federlinge am Waldboden, die eine Feder aufzehren. Etwa vierzigfach vergrößert.
Nach der Natur gezeichnet von R. H. Francs

Ein Kleinkrebs der Waldmoose

Ein Kleinkrebs der Waldmoose

Federlinge am Waldboden

Federlinge am Waldboden