Gedenkblatt für die Rostocker Gemeinde
Zur Erinnerung an den Abend des 8. Septembers 1862
Autor: Baumgarten, Michael Dr. (1812-1889) Professor, protestantischer Theologe, Publizist, Reichstagsabgeordneter 1874-1881., Erscheinungsjahr: 1832
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Rostock, Michael Baumgarten, Religion, Gemeindegesang, Gewissenstyrannei, Pfaffentum, Luther, Tatbeweise
Dass 5.000 Städtebewohner jeglichen Standes und Alters sich auf öffentlicher Straße versammeln, aus freiem Antriebe ein kirchliches Lied singen und eine geistliche Rede anhören, nicht bloß ohne Störung und Unruhe, sondern bei Manchen unter sichtbaren Zeichen von Rührung und Andacht, dass diese Versammlung, wie sie still und friedlich gekommen ist, in später Abendstunde still und nachdenkend in die Häuser zurückkehrt, das scheint mir ein Zeichen, welches der Beachtung und der Erinnerung würdig ist. In der Absicht, das Andenken an diese abendliche Feierstunde in unserer Gemeinde zu bewahren, habe ich mich entschlossen, den ausgesprochenen Wunsch, meine bei dieser Gelegenheit gesprochenen Worte veröffentlicht zu sehen, hiermit zu erfüllen,
Rostock, den 11. September 1862.
Baumgarten.
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Rostock, den 11. September 1862.
Baumgarten.
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Lieben Freunde, es wäre wohl eine recht sündhafte Profanierung des schönen Aktes, den Ihr so eben begangen habt, wenn ich denselben als eine Anerkennung und Huldigung, die meiner Person und meinem Wirken gelten sollte, ansehen wollte, und würde deshalb auch ein Wort des Dankes meinerseits als eine üble Anmaßung mit Recht verurteilt werden müssen. Und doch darf und will ich nicht schweigen, nur muss ich den Ton meiner Rede höher stimmen, wie denn Ihr den höchsten Ton, den es auf Erden gibt, angestimmt habt. Auf den Gemeindegesang gehört sich ein geistliches Wort, und Ihr seid berechtigt, dieses Wort von mir zu erwarten, und ich fühle mich vermöge meines Standes und Berufes verpflichtet, dasselbe zu sprechen. In der Tat ist mir zu Mute, als feierten wir zur ungewöhnlichen Stunde und unter freiem Himmel einen Gottesdienst und zwar tun wir meines Bedünkens recht daran, denn der Gott, den wir anbeten, wohnet nicht in Tempeln mit Menschenhänden gemacht, und fein Dienst ist nicht an Zeit und Ort gebunden, sondern im Geist und in der Wahrheit will er angebetet sein.
Was Ihr gesungen habt, ist der Hochgesang der lutherischen Kirche, ist das Schlachtlied, in welchem die evangelische Wahrheit siegend und erobernd durch die Länder und Völker gezogen ist, es ist die heilige Standarte der Freiheit in Christo wider alle Menschensatzung, wider alle Gewissenstyrannei, wider alles Papsttum, wider alles Pfaffentum. Dieses Lied nun feiert Den, der in den Höhen thront, dem alle Dinge dienen, dem alle Kreaturen gehorchen, vor dem der Abgrund bebet, vor dem die Hölle zittert. Dieser ewige, allmächtige, heilige Gott wird aber gepriesen, nicht als ein ferner und unerreichbarer, sondern als ein naher, gegenwärtiger, er wird gepriesen als „unser Gott“, mit dem wir in innigster Gemeinschaft stehen, der eine „feste Burg“ ist, in welcher wir geschirmt und geschützt sind in jeglicher Not, wider Hölle und Tod. Es ist das einfache aber wunderbare Geheimnis aller wahren Frömmigkeit, welches damit ausgesprochen ist. Der Gedanke Gottes ist als ein unvertilgbarer Geistesfunke in jedes Menschen Herz gesenkt, aber je sorgsamer dieser Funke gepflegt wird, je gewissenhafter derselbe behütet wird, desto mehr erscheint Gott dem inneren Bewusstsein als thronend in einem Lichte, zu dem Niemand kommen kann; unermesslich dehnt sich aus die Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem sterblichen Menschen, zwischen dem, der im Himmel wohnt, und dem, der im Staube wandelt, zwischen dem Heiligen und dem Sünder. Und doch hat kein Menschenherz vollen Frieden und vollkommen Genüge als nur in Gott. Von dem unnahbarem Lichte Gottes geht aus ein Doppelstrahl, für welchen das innere Auge des Menschen vorzugsweise empfänglich ist. Dieser Doppelstrahl ist die ewige Wahrheit und die göttliche Gerechtigkeit. In allen edleren und besseren Naturen wohnt ein unaussprechliches Verlangen, diesen göttlichen Doppelstrahl einzusaugen und mit demselben den, untersten Lebensgrund zu durchdringen. Das Mühen und Ringen um die Aneignung der Wahrheit und Gerechtigkeit ist der älteste und echteste Adel der Menschheit und es sind die auserlesensten und kostbarsten Blätter in dem Buche der Geschichte, welche dieses reinste und höchste Streben vorzeichnen. Bis aufs Blut haben die geistigen Heroen der Menschheit um dieses Kleinod gekämpft. Aber jenen heiligen Doppelstrahl zu einem inwendigen und unwandelbaren Lichte zu machen, das haben sie nicht erreicht, nur einzelne Brechungen des göttlichen Lichtes vermochten sie in sich aufzunehmen, bis derjenige kam, der von sich zeugte: „ich bin das Licht der Welt“, „ich bin die Wahrheit“, „wer mich siehet, der siehet den Vater.“ In ihm, der „im Anfang war“, in dem ewigen Sohne des Vaters ist die ewige Wahrheit vom Himmel gekommen und Fleisch geworden, in ihr ist die göttliche Gerechtigkeit verkörpert und leibhaftig erschienen, in ihr ist die undurchdringliche Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch zum ersten Mal und für alle Ewigkeit überwunden, durch denselben, welcher ist Jesus Christus, ist der Zugang zu dem unnahbaren Gott für jede fragende und suchende Menschenseele eröffnet und frei gemacht. In diesem Christus, wie ihn diejenigen, welche ihn „mit ihren Ohren gehöret, mit ihren Augen gesehen und mit ihren Händen betastet haben“, beschreiben und darstellen, hat Luther das Antlitz Gottes, nach welchem er unter unsäglichen Mühen und Martern vergebens gesucht, gefunden und geschaut, und darum sagt er: „und ist kein anderer Gott“, lein anderer Gott, als der in Christo der Menschheit erschienen und geoffenbaret ist. War das etwa eine schwärmerische Überspannung, dass Luther in Christo den wahren, einigen, lebendigen Gott gefunden zu haben meinte? War diese Meinung etwa eine Schwachheit, mit welcher auch ein so großer Mann, wie der Reformator, der menschlichen Beschränktheit seinen Tribut bezahlte, so dass wir jetzt im Lichte einer fortgeschrittenen Aufklärung berechtigt und verpflichtet sind, dieses Stück seiner Lehre wie einen veralteten Aberglauben von uns fern zu halten und abzutun? Ob Jemand wirklich Gott gefunden hat oder ob er sich dieses bloß einbildet und einredet, dafür giebt es in jedem Gewissen ein sicheres Kriterium, und dieses Kriterium reicht auch aus, um einen Anderen, der von sich behauptet, Gott zu erkennen, darauf zu prüfen, ob er wohl wahr redet, oder sich selbst und Andere täuscht. Wohlan, so schauet denn an mit den Augen des Gewissens jenen Mann, der es tausendmal beteuert hat „und ist kein anderer Gott.“ Nicht mit Worten und Buchstaben, sondern mit allen und unzweideutigen Tatbeweisen hat es Luther der Welt dargelegt, dass er den lebendigen und einigen Gott in Christo wirklich und wahrhaft gefunden hat. Jenen göttlichen Doppelstrahl der Wahrheit und Gerechtigkeit hat Luther in Christo geschaut und in sein innerstes Leben aufgenommen und zu einem ewigen Erbteil seines Geistes gemacht, und dies zeigt sich darin, dass das ewige Licht wiederum aus ihm hervorstrahlt und mit allem Glanz die Finsternis der Welt durchbricht.
Dreifach ist die Ausstrahlung des göttlichen Lichtes, welches aus Luther hervorleuchtet: Freiheit, Freudigkeit und Mut, und dieser dreifache Lichtgeist ist die Seele des Liedes, welches soeben mit Posaunenschall und lauter Stimme zum Himmel emporgedrungen ist. So wie Luther Gott gefunden hat, so wird er durch Nichts, was außer Gott ist, beengt und gebunden. Ein schwererer Druck hat niemals auf der Menschheit gelastet, als da das Papsttum noch ungebrochen waltete. Alle bisherigen Anstrengungen, sich dieser geistlichen Knechtschaft zu entledigen, waren immer wieder gescheitert. Luther machte sich nicht bloß selber frei von dem Papsttum, indem er den Bann desselben wohlgemut über sich ergehen ließ, sondern er wurde auch ein Vorkämpfer und Bahnbrecher der Freiheit für Millionen und für Jahrhunderte. Und der frische Hauch dieser Freiheit, der nicht nur selbst frei ist, sondern auch Andere frei macht, ist der Grundton unseres Liebes. Der andere Geist, der aus Luther strahlte, heißt Freudigkeit. Die wahre Freude ist ein sehr seltener Gast auf Erden. Bei aller Lustigkeit und Fröhlichkeit sitzt und lauert bei den allermeisten Menschen im verdeckten Hintergrunde ein Geist düsterer Schwermut. Das macht, weil die wenigsten Menschen Gott gefunden haben, denn in Gott allein ist der ewige Quell derjenigen Freude, welche den finsteren Dämon der Traurigkeit zu bannen vermag. Weil Luther Gott gefunden, so wehet in ihm der Geist der Freudigkeit und sein Lied ist dessen ein bleibendes Zeugnis. Denn die wahre Freude bewährt sich in der Zeit der Not und des Drängens. Unser Lied ist aus Not und Drang geboren, und doch, wer spüret nicht in jeder Zeile desselben den siegenden Freudengeist? Mut ist der dritte Geist, der in Luther seine himmlischen Schwingen regt. Die Furcht ist immerdar ein sehr verbreitetes Laster, und sehr gefährlich ist dieses Laster, weil es sich in ein so zahmes und scheinbar unschuldiges Gewand zu kleiden pflegt, obwohl die Furcht in Wahrheit ein sehr arges Ding ist, denn sie ist die Mörderin vieler guten Gedanken, Entschlüsse und Werke, sie ist die unheilvolle Mutter vieler bösen Regungen und Taten. Darum folgt der Dichter mit Recht: verflucht sei Furcht vor allen bösen Trieben. Um deswillen ist der Mut eine so hohe und notwendige Tugend, der Muth allein vermag die Menschheit vor Fäulnis und Verwesung zu bewahren. Die Probe des wahren Mutes ist aber diese, dass Einer, auch wenn er von der ganzen Welt verlassen ist, unverzagt bleibt. Diese Probe besteht Niemand, als wer Gott gefunden hat. Luther hat sie bestanden, wie kaum ein Zweiter. Wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, so könnte es scheinen, als ob Luther nur ein kühnes Wort zu sagen brauchte, um sofort ein tausendfaches Echo zu finden; sieht man genauer zu, so zeigt sich, dass er in den schwersten Kämpfen und in den gefährlichsten Augenblicken ganz einsam und verlassen da stand. Niemand vor ihm. Niemand hinter ihm, Keiner zur Rechten und Keiner zur Linken; seine besten Freunde standen in solchen Krisen neben ihm voll Furcht und Entsetzen; aber eben in solchen Zeiten hat er seinen höchsten Mut bewiesen und sein Hoheslied ist das unvergängliche Denkmal dieses seines in Gott ruhenden Mutes. „Und wenn die Welt voll Teufel wär'.“ Wer kann den Mut höher spannen? Und wer, der diese heilige Probe vernimmt, wird nicht, wenn er auch sonst verzagt ist, von dem Geiste dieses Mutes mit fortgerissen?
Seht, Ihr Männer, lieben Brüder, das ist der Mann und das bedeutet sein Lied, welches ihr gesungen habt und habt Euch damit zu seinem Geist und Inhalt bekannt. Eine reine und hohe Freude erfüllt mein Herz über diesen Euren Akt. Lasst mich Euch sagen, worin diese meine Freude besteht und worauf sie beruht. Zuerst freut mich der wahrhaft freiheitliche Charakter dieses Eures Tuns. Nicht irgend einer Gewohnheit seid Ihr nachgegangen, denn nirgends habt Ihr gehört oder gelesen, dass man also pflegt, zu tun. Auch seid Ihr nicht ausgezogen auf irgend ein Geheiß, noch unter einer Führung oder Leitung von oben, sondern von Anfang bis Ende seid Ihr in dieser Sache einem anderen inneren freien Triebe gefolgt. Das religiöse Leben wirb durch Nichts mehr verunreinigt, als durch Zwang, sei derselbe nun direkt oder indirekt; denn weil die Religion das Zarteste und Innerlichste ist im Menschen, so kann sie auch nur gedeihen in der reinen Luft der Geistesfreiheit. Die innerliche Freiwilligkeit und auf sich selbst ruhende Selbstständigkeit war das schönste Feierkleid, in welchem die apostolischen Gemeinden prangten und der Welt das nie gesehene Schauspiel vollkommener Geistesfreiheit zeigten. Und als später durch die Anmaßung des Klerus und durch die Schatten des Aberglaubens diese urchristliche Geistesfreiheit verdeckt und verdunkelt worden war, hat Luther dieselbe wieder ans Licht gebracht, indem er alles Priestertum der Menschen und alles Mitteltum äußerlicher Dinge zu Boden warf und jeder Seele den unmittelbaren Zugang zu Gott durch das einige und ewige Hohepriestertum Christi wiederum frei machte. Von diesem christlichen Grundrecht, welches Luther wiederhergestellt hat, habt Ihr Gebrauch gemacht, indem Ihr aus eigenem freien Entschluss in selbstständiger Weise einen religiösen Akt angestellt und vollführt habt. Weil ich Eure Handlung in diesem Schmuck der Freiheit und Selbstständigkeit, wie sie protestantischen Gemeindegliedern zusteht, erblicke, so freue ich mich und kann Euch nur zurufen das Wort des Apostels: „Bestehet in der Freiheit, mit der uns Christus befreiet hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen.“
Das Zweite, worüber ich Euch meine Freude aussprechen muss, ist dieses, dass Ihr Eure Freiheit nicht als eine lediglich verneinende verstanden wissen wollt, sondern ihr einen bestimmten und zwar bekenntnismäßigen Inhalt gegeben habt. Viele suchen in dem Protestantismus eine bloß verneinende Macht: indem sie den Aberglauben bekämpfen, fallen sie dem Unglauben anheim, Allerdings ist der Protestantismus eine Verneinung, und zwar eine so scharfe und radikale, wie keine zweite existiert, denn er vernichtet in der Kirche Christi alle menschlichen Höhen und Größen, er verdammt alle ungewisse Heiligkeit und Herrschaft, er zerreißt alle Larven der Scheingerechtigkeit und Heuchelei ohne jegliches Ansehen der Person. Durch diese seine verneinende Kraft hat der Protestantismus die höchste geistliche Gewalt, welche die Erde jemals gesehen hat, gestürzt und überall, wo er lebendig ist, richtet er seinen vernichtenden Angriff gegen Alles, was in Aehnlichkeit des verurteilten Papsttums sich in der Kirche auftun will, und ist ihm gleichgültig, mit welchem Zitate und Namen solcher Hochmut sich zu schmücken sucht. Aber woher anders hat diese Verneinung ihre siegende Kraft, als weil der Protestantismus den Aberglauben nicht auf Grund des Unglaubens, sondern auf Grund des Glaubens bekämpft? Ihr nun habt das Lied des Glaubens an den Vater und an den Sohn gesungen, auf öffentlicher Straße habt Ihr aus freiem Antriebe das Panier des altprotestantischen Bekenntnisses entfaltet, mit den hehrsten und reinsten Feierklängen der protestantischen Vorzeit habt Ihr die freie Luft erfüllt; damit habt Ihr ein öffentliches Zeugnis abgelegt, dass Ihr nicht absagt dem Glauben der Väter, dass Eure Freiheit und Verneinung auf reinem positivem Grunde ruht. Ich weiß recht Wohl, dass viel daran fehlt, dass in Allen dieser Glauben zum Leben durchgedrungen sei, ich weiß aber auch, dass Solche unter Euch sind, deren Herz zu dem lauteren unverfälschten Bekenntnis unserer Kirche Ja und Amen sagt und dass diese als eine Zierde unserer Gemeinde anerkannt werden; vor Euch Allen aber sage ich frei und offen, dass Ihr durch diesen freien religiösen Akt, so wie durch das stille und andächtige Anhören meiner Auslegung Eures Liedes das unbestreitbare Recht erwerbet, dass Euch Niemand als einen wüsten und unchristlichen Haufen verachten darf.
Sehet, das ist meine Freude in dieser Stunde und darum glaube ich, dass es eine geweihete und gesegnete Stunde ist. O möchte meine Hoffnung mich nicht täuschen! Mein Geistesauge schaut in dieser Feier ein goldenes Himmelstor, aus welchem ewige Kräfte sich über unsere Gemeinde ergießen werden.
So gehet denn hin in Frieden, wie Ihr in Frieden gekommen seid. Die Stille und Würde, mit welcher Ihr diesen Akt vorbereitet und eingeleitet, muss auch diese Feier beschließen, so dass sie in ihrem reinen Schmuck dastehe als ein Denkmal Eures Sinnes, aller Verdächtigung unzugänglich. Und Gott der Herr, den wir gepriesen haben, und von dem alles Gute kommt, er wolle nach seiner Gnade verleihen, dass diese öffentliche Feier eine bleibende Frucht trage. Ja, der Gott der Christenheit, der da war, der da ist und der da sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit, Vater, Sohn und Geist, er heilige uns durch und durch, er schaffe und mehre in unseren Herzen den Geist der Freiheit und Freudigkeit, er segne unsere Stadt, er segne unser ganzes Land mit dem heiligen Mute für Wahrheit und Gerechtigkeit. Amen.
Was Ihr gesungen habt, ist der Hochgesang der lutherischen Kirche, ist das Schlachtlied, in welchem die evangelische Wahrheit siegend und erobernd durch die Länder und Völker gezogen ist, es ist die heilige Standarte der Freiheit in Christo wider alle Menschensatzung, wider alle Gewissenstyrannei, wider alles Papsttum, wider alles Pfaffentum. Dieses Lied nun feiert Den, der in den Höhen thront, dem alle Dinge dienen, dem alle Kreaturen gehorchen, vor dem der Abgrund bebet, vor dem die Hölle zittert. Dieser ewige, allmächtige, heilige Gott wird aber gepriesen, nicht als ein ferner und unerreichbarer, sondern als ein naher, gegenwärtiger, er wird gepriesen als „unser Gott“, mit dem wir in innigster Gemeinschaft stehen, der eine „feste Burg“ ist, in welcher wir geschirmt und geschützt sind in jeglicher Not, wider Hölle und Tod. Es ist das einfache aber wunderbare Geheimnis aller wahren Frömmigkeit, welches damit ausgesprochen ist. Der Gedanke Gottes ist als ein unvertilgbarer Geistesfunke in jedes Menschen Herz gesenkt, aber je sorgsamer dieser Funke gepflegt wird, je gewissenhafter derselbe behütet wird, desto mehr erscheint Gott dem inneren Bewusstsein als thronend in einem Lichte, zu dem Niemand kommen kann; unermesslich dehnt sich aus die Kluft zwischen dem ewigen Gott und dem sterblichen Menschen, zwischen dem, der im Himmel wohnt, und dem, der im Staube wandelt, zwischen dem Heiligen und dem Sünder. Und doch hat kein Menschenherz vollen Frieden und vollkommen Genüge als nur in Gott. Von dem unnahbarem Lichte Gottes geht aus ein Doppelstrahl, für welchen das innere Auge des Menschen vorzugsweise empfänglich ist. Dieser Doppelstrahl ist die ewige Wahrheit und die göttliche Gerechtigkeit. In allen edleren und besseren Naturen wohnt ein unaussprechliches Verlangen, diesen göttlichen Doppelstrahl einzusaugen und mit demselben den, untersten Lebensgrund zu durchdringen. Das Mühen und Ringen um die Aneignung der Wahrheit und Gerechtigkeit ist der älteste und echteste Adel der Menschheit und es sind die auserlesensten und kostbarsten Blätter in dem Buche der Geschichte, welche dieses reinste und höchste Streben vorzeichnen. Bis aufs Blut haben die geistigen Heroen der Menschheit um dieses Kleinod gekämpft. Aber jenen heiligen Doppelstrahl zu einem inwendigen und unwandelbaren Lichte zu machen, das haben sie nicht erreicht, nur einzelne Brechungen des göttlichen Lichtes vermochten sie in sich aufzunehmen, bis derjenige kam, der von sich zeugte: „ich bin das Licht der Welt“, „ich bin die Wahrheit“, „wer mich siehet, der siehet den Vater.“ In ihm, der „im Anfang war“, in dem ewigen Sohne des Vaters ist die ewige Wahrheit vom Himmel gekommen und Fleisch geworden, in ihr ist die göttliche Gerechtigkeit verkörpert und leibhaftig erschienen, in ihr ist die undurchdringliche Kluft zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch zum ersten Mal und für alle Ewigkeit überwunden, durch denselben, welcher ist Jesus Christus, ist der Zugang zu dem unnahbaren Gott für jede fragende und suchende Menschenseele eröffnet und frei gemacht. In diesem Christus, wie ihn diejenigen, welche ihn „mit ihren Ohren gehöret, mit ihren Augen gesehen und mit ihren Händen betastet haben“, beschreiben und darstellen, hat Luther das Antlitz Gottes, nach welchem er unter unsäglichen Mühen und Martern vergebens gesucht, gefunden und geschaut, und darum sagt er: „und ist kein anderer Gott“, lein anderer Gott, als der in Christo der Menschheit erschienen und geoffenbaret ist. War das etwa eine schwärmerische Überspannung, dass Luther in Christo den wahren, einigen, lebendigen Gott gefunden zu haben meinte? War diese Meinung etwa eine Schwachheit, mit welcher auch ein so großer Mann, wie der Reformator, der menschlichen Beschränktheit seinen Tribut bezahlte, so dass wir jetzt im Lichte einer fortgeschrittenen Aufklärung berechtigt und verpflichtet sind, dieses Stück seiner Lehre wie einen veralteten Aberglauben von uns fern zu halten und abzutun? Ob Jemand wirklich Gott gefunden hat oder ob er sich dieses bloß einbildet und einredet, dafür giebt es in jedem Gewissen ein sicheres Kriterium, und dieses Kriterium reicht auch aus, um einen Anderen, der von sich behauptet, Gott zu erkennen, darauf zu prüfen, ob er wohl wahr redet, oder sich selbst und Andere täuscht. Wohlan, so schauet denn an mit den Augen des Gewissens jenen Mann, der es tausendmal beteuert hat „und ist kein anderer Gott.“ Nicht mit Worten und Buchstaben, sondern mit allen und unzweideutigen Tatbeweisen hat es Luther der Welt dargelegt, dass er den lebendigen und einigen Gott in Christo wirklich und wahrhaft gefunden hat. Jenen göttlichen Doppelstrahl der Wahrheit und Gerechtigkeit hat Luther in Christo geschaut und in sein innerstes Leben aufgenommen und zu einem ewigen Erbteil seines Geistes gemacht, und dies zeigt sich darin, dass das ewige Licht wiederum aus ihm hervorstrahlt und mit allem Glanz die Finsternis der Welt durchbricht.
Dreifach ist die Ausstrahlung des göttlichen Lichtes, welches aus Luther hervorleuchtet: Freiheit, Freudigkeit und Mut, und dieser dreifache Lichtgeist ist die Seele des Liedes, welches soeben mit Posaunenschall und lauter Stimme zum Himmel emporgedrungen ist. So wie Luther Gott gefunden hat, so wird er durch Nichts, was außer Gott ist, beengt und gebunden. Ein schwererer Druck hat niemals auf der Menschheit gelastet, als da das Papsttum noch ungebrochen waltete. Alle bisherigen Anstrengungen, sich dieser geistlichen Knechtschaft zu entledigen, waren immer wieder gescheitert. Luther machte sich nicht bloß selber frei von dem Papsttum, indem er den Bann desselben wohlgemut über sich ergehen ließ, sondern er wurde auch ein Vorkämpfer und Bahnbrecher der Freiheit für Millionen und für Jahrhunderte. Und der frische Hauch dieser Freiheit, der nicht nur selbst frei ist, sondern auch Andere frei macht, ist der Grundton unseres Liebes. Der andere Geist, der aus Luther strahlte, heißt Freudigkeit. Die wahre Freude ist ein sehr seltener Gast auf Erden. Bei aller Lustigkeit und Fröhlichkeit sitzt und lauert bei den allermeisten Menschen im verdeckten Hintergrunde ein Geist düsterer Schwermut. Das macht, weil die wenigsten Menschen Gott gefunden haben, denn in Gott allein ist der ewige Quell derjenigen Freude, welche den finsteren Dämon der Traurigkeit zu bannen vermag. Weil Luther Gott gefunden, so wehet in ihm der Geist der Freudigkeit und sein Lied ist dessen ein bleibendes Zeugnis. Denn die wahre Freude bewährt sich in der Zeit der Not und des Drängens. Unser Lied ist aus Not und Drang geboren, und doch, wer spüret nicht in jeder Zeile desselben den siegenden Freudengeist? Mut ist der dritte Geist, der in Luther seine himmlischen Schwingen regt. Die Furcht ist immerdar ein sehr verbreitetes Laster, und sehr gefährlich ist dieses Laster, weil es sich in ein so zahmes und scheinbar unschuldiges Gewand zu kleiden pflegt, obwohl die Furcht in Wahrheit ein sehr arges Ding ist, denn sie ist die Mörderin vieler guten Gedanken, Entschlüsse und Werke, sie ist die unheilvolle Mutter vieler bösen Regungen und Taten. Darum folgt der Dichter mit Recht: verflucht sei Furcht vor allen bösen Trieben. Um deswillen ist der Mut eine so hohe und notwendige Tugend, der Muth allein vermag die Menschheit vor Fäulnis und Verwesung zu bewahren. Die Probe des wahren Mutes ist aber diese, dass Einer, auch wenn er von der ganzen Welt verlassen ist, unverzagt bleibt. Diese Probe besteht Niemand, als wer Gott gefunden hat. Luther hat sie bestanden, wie kaum ein Zweiter. Wenn man die Sache oberflächlich betrachtet, so könnte es scheinen, als ob Luther nur ein kühnes Wort zu sagen brauchte, um sofort ein tausendfaches Echo zu finden; sieht man genauer zu, so zeigt sich, dass er in den schwersten Kämpfen und in den gefährlichsten Augenblicken ganz einsam und verlassen da stand. Niemand vor ihm. Niemand hinter ihm, Keiner zur Rechten und Keiner zur Linken; seine besten Freunde standen in solchen Krisen neben ihm voll Furcht und Entsetzen; aber eben in solchen Zeiten hat er seinen höchsten Mut bewiesen und sein Hoheslied ist das unvergängliche Denkmal dieses seines in Gott ruhenden Mutes. „Und wenn die Welt voll Teufel wär'.“ Wer kann den Mut höher spannen? Und wer, der diese heilige Probe vernimmt, wird nicht, wenn er auch sonst verzagt ist, von dem Geiste dieses Mutes mit fortgerissen?
Seht, Ihr Männer, lieben Brüder, das ist der Mann und das bedeutet sein Lied, welches ihr gesungen habt und habt Euch damit zu seinem Geist und Inhalt bekannt. Eine reine und hohe Freude erfüllt mein Herz über diesen Euren Akt. Lasst mich Euch sagen, worin diese meine Freude besteht und worauf sie beruht. Zuerst freut mich der wahrhaft freiheitliche Charakter dieses Eures Tuns. Nicht irgend einer Gewohnheit seid Ihr nachgegangen, denn nirgends habt Ihr gehört oder gelesen, dass man also pflegt, zu tun. Auch seid Ihr nicht ausgezogen auf irgend ein Geheiß, noch unter einer Führung oder Leitung von oben, sondern von Anfang bis Ende seid Ihr in dieser Sache einem anderen inneren freien Triebe gefolgt. Das religiöse Leben wirb durch Nichts mehr verunreinigt, als durch Zwang, sei derselbe nun direkt oder indirekt; denn weil die Religion das Zarteste und Innerlichste ist im Menschen, so kann sie auch nur gedeihen in der reinen Luft der Geistesfreiheit. Die innerliche Freiwilligkeit und auf sich selbst ruhende Selbstständigkeit war das schönste Feierkleid, in welchem die apostolischen Gemeinden prangten und der Welt das nie gesehene Schauspiel vollkommener Geistesfreiheit zeigten. Und als später durch die Anmaßung des Klerus und durch die Schatten des Aberglaubens diese urchristliche Geistesfreiheit verdeckt und verdunkelt worden war, hat Luther dieselbe wieder ans Licht gebracht, indem er alles Priestertum der Menschen und alles Mitteltum äußerlicher Dinge zu Boden warf und jeder Seele den unmittelbaren Zugang zu Gott durch das einige und ewige Hohepriestertum Christi wiederum frei machte. Von diesem christlichen Grundrecht, welches Luther wiederhergestellt hat, habt Ihr Gebrauch gemacht, indem Ihr aus eigenem freien Entschluss in selbstständiger Weise einen religiösen Akt angestellt und vollführt habt. Weil ich Eure Handlung in diesem Schmuck der Freiheit und Selbstständigkeit, wie sie protestantischen Gemeindegliedern zusteht, erblicke, so freue ich mich und kann Euch nur zurufen das Wort des Apostels: „Bestehet in der Freiheit, mit der uns Christus befreiet hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen.“
Das Zweite, worüber ich Euch meine Freude aussprechen muss, ist dieses, dass Ihr Eure Freiheit nicht als eine lediglich verneinende verstanden wissen wollt, sondern ihr einen bestimmten und zwar bekenntnismäßigen Inhalt gegeben habt. Viele suchen in dem Protestantismus eine bloß verneinende Macht: indem sie den Aberglauben bekämpfen, fallen sie dem Unglauben anheim, Allerdings ist der Protestantismus eine Verneinung, und zwar eine so scharfe und radikale, wie keine zweite existiert, denn er vernichtet in der Kirche Christi alle menschlichen Höhen und Größen, er verdammt alle ungewisse Heiligkeit und Herrschaft, er zerreißt alle Larven der Scheingerechtigkeit und Heuchelei ohne jegliches Ansehen der Person. Durch diese seine verneinende Kraft hat der Protestantismus die höchste geistliche Gewalt, welche die Erde jemals gesehen hat, gestürzt und überall, wo er lebendig ist, richtet er seinen vernichtenden Angriff gegen Alles, was in Aehnlichkeit des verurteilten Papsttums sich in der Kirche auftun will, und ist ihm gleichgültig, mit welchem Zitate und Namen solcher Hochmut sich zu schmücken sucht. Aber woher anders hat diese Verneinung ihre siegende Kraft, als weil der Protestantismus den Aberglauben nicht auf Grund des Unglaubens, sondern auf Grund des Glaubens bekämpft? Ihr nun habt das Lied des Glaubens an den Vater und an den Sohn gesungen, auf öffentlicher Straße habt Ihr aus freiem Antriebe das Panier des altprotestantischen Bekenntnisses entfaltet, mit den hehrsten und reinsten Feierklängen der protestantischen Vorzeit habt Ihr die freie Luft erfüllt; damit habt Ihr ein öffentliches Zeugnis abgelegt, dass Ihr nicht absagt dem Glauben der Väter, dass Eure Freiheit und Verneinung auf reinem positivem Grunde ruht. Ich weiß recht Wohl, dass viel daran fehlt, dass in Allen dieser Glauben zum Leben durchgedrungen sei, ich weiß aber auch, dass Solche unter Euch sind, deren Herz zu dem lauteren unverfälschten Bekenntnis unserer Kirche Ja und Amen sagt und dass diese als eine Zierde unserer Gemeinde anerkannt werden; vor Euch Allen aber sage ich frei und offen, dass Ihr durch diesen freien religiösen Akt, so wie durch das stille und andächtige Anhören meiner Auslegung Eures Liedes das unbestreitbare Recht erwerbet, dass Euch Niemand als einen wüsten und unchristlichen Haufen verachten darf.
Sehet, das ist meine Freude in dieser Stunde und darum glaube ich, dass es eine geweihete und gesegnete Stunde ist. O möchte meine Hoffnung mich nicht täuschen! Mein Geistesauge schaut in dieser Feier ein goldenes Himmelstor, aus welchem ewige Kräfte sich über unsere Gemeinde ergießen werden.
So gehet denn hin in Frieden, wie Ihr in Frieden gekommen seid. Die Stille und Würde, mit welcher Ihr diesen Akt vorbereitet und eingeleitet, muss auch diese Feier beschließen, so dass sie in ihrem reinen Schmuck dastehe als ein Denkmal Eures Sinnes, aller Verdächtigung unzugänglich. Und Gott der Herr, den wir gepriesen haben, und von dem alles Gute kommt, er wolle nach seiner Gnade verleihen, dass diese öffentliche Feier eine bleibende Frucht trage. Ja, der Gott der Christenheit, der da war, der da ist und der da sein wird von Ewigkeit zu Ewigkeit, Vater, Sohn und Geist, er heilige uns durch und durch, er schaffe und mehre in unseren Herzen den Geist der Freiheit und Freudigkeit, er segne unsere Stadt, er segne unser ganzes Land mit dem heiligen Mute für Wahrheit und Gerechtigkeit. Amen.