Eine Wähler-Versammlung in Paris

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1875
Autor: F. C. Sch., Erscheinungsjahr: 1875

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wahlen, Wähler, Parteien, politische Bildung, Volk, Volksmeinung, National-Charakter, Staat, Wahlakt, Arbeiter, Sozialdemokraten, Patei, Republikaner, Arbeiterstand, Gesellschaft, Fraktionen, Fabrik, Schulunterricht, Widerstand, Putsch, Aufstand,
Die Wahlen zur Volksvertretung sind in den heutigen konstitutionellen Staaten ein Gegenstand von ungemeiner Wichtigkeit, und ein Anlass zu einer oft leidenschaftlichen Erregung der Gemüter, namentlich wo das allgemeine Stimmrecht eingeführt ist. Die Eigentümlichkeiten des National-Charakters wie der Stand der politischen Bildung eines Volkes treten bei derartigen Gelegenheiten ganz besonders augenfällig zu Tage und geben dem Fremden reichen Anlass sie zu studieren. Können wir dies nicht immer in Wirklichkeit tun, so bieten Wort und Bild hierfür wenigstens einigen Ersatz, und so werden es uns unsere Leser gewiss danken, wenn wir der Schilderung eines englischen Wahlakts im Jahrgang 1874 dieser Blätter nun auch eine Scene aus den Wahl-Agitationen in Frankreich ihnen verführen, und zwar an der Hand eines Bildes, das einen wirklichen Vorgang darstellt.

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Es ist bekannt, dass weitaus die Mehrzahl der französischen Arbeiter der republikanischen Partei angehört, und dass natürlich alle Schattierungen dieser Partei unter den Arbeitern vertreten sind, so namentlich auch die Sozialdemokraten, obschon diese seit Niederwerfung des Aufstands der Kommune sich sehr vorsichtig und zurückhaltend benehmen, um sich vor Verfolgung zu sichern, aber darum doch im Geheimen nicht minder tätig sind, den Boden der heutigen Gesellschaft zu unterwühlen.

Gleichwohl herrscht unter dem französischen Arbeiterstand und unter dessen republikanischen Mitgliedern eine gewisse stramme Partei-Disziplin, und die früheren Ausschreitungen durch Selbsthilfe u. s. w. werden immer seltener oder fallen nur in Kreisen vor, welche außerhalb des föderalen Verbandes der Fraktionen der republikanischen Partei stehen. Unser Bild führt uns in eine
Wählerversammlung oder Vorberatung in der Pariser Bannmeile, woran beinahe ausschließlich nur Arbeiter teilnehmen.

Der Versammlungsort ist die große Schmiede-Werkstätte einer Fabrik; auf der Tagesordnung stehen die Munizipal-Wahlen; die Zeit ist nach Feierabend, der zur Diskussion gebrachte Gegenstand ist der unentgeltliche und obligatorische Schulunterricht durch weltliche Lehrer. Sobald die Arbeiterversammlung zahlreich genug besucht ist, wird ein Vorsitzender und ein leitendes Comité gewählt, und die Erörterungen beginnen. Jeder der Anwesenden weiß, dass einer oder mehrere geheime Polizisten anwesend sind, und es geht daher sehr geordnet und parlamentarisch zu. Keiner ergreift das Wort, ohne es sich erbeten zu haben, und äußert dann seine Ansicht in lebendiger, oft etwas theatralischer Darstellung, nicht ohne Pathos, aber häufig auch nicht ohne Geist und Witz. Er wird unterstützt oder widerlegt, je nachdem seine Beweisgründe gewichtig sind oder nicht, aber die Partei-Disziplin und das Selbstgefühl der Arbeiter sowie das Bewusstsein ihrer Wählerrechte und Pflichten beugen Ausschreitungen vor, wie sie z. B. in Deutschland noch Vorkommen. Allerdings mag es in solchen Wahlversammlungen und Vorbesprechungen nicht immer so ruhig und parlamentarisch zugehen, allein im Allgemeinen steht es fest, dass seit der Niederwerfung des Ausstandes der Kommune der französische Arbeiterstand weil friedliebender und ruhiger und allen Putschen und Aufständen abgeneigter geworden ist als früher; dass er sich vorwiegend nur auf passiven Widerstand verlegt und von den übrigen Klassen der Gesellschaft oder gar von der Regierung nicht beeinflussen lässt, wie der Bürgerstand, und dass er bessere Zustände nur auf dem Wege der Reform und der Assoziation erwartet.

Der Arbeiterstand erscheint bei den Wahlen meist als eine geschlossene Liga und stimmt nach dem republikanischen oder demokratischen Wahlprogramm. Es sind vorzugsweise die anderen Parteien: die Bonapartisten, die Orleanisten, die Legitimisten, die Klerikalen u. s. w., welche die stürmischen und leidenschaftlichen Wahlumtriebe machen, wovon uns die Zeitungen so viel zu berichten wissen. Von Beeinflussung der Arbeiterklasse im Sinne der anderen Parteien handelt es sich meist nur dann, wenn die Interessen der Arbeiter momentan mit denjenigen einer solchen Partei parallel gehen, und da die Arbeiter ihre eigene Presse haben, so hat auch die übrige Presse heutzutage nur wenig Einfluss auf die Stimmung der arbeitenden Klassen.

Wähler-Versammlung in einem Fabrik-Lokal zu Paris

Wähler-Versammlung in einem Fabrik-Lokal zu Paris