Eigensinn und Trotz

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 22. 1927
Autor: Oberstudiendirektor Dr. Johannes Prüfer, Erscheinungsjahr: 1927

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kinder, Pädagogik, Pädagogen, Mutter, Familie, Drohungen, Schläge, Trotzanfall, Liebe, Verständnis, Leid, Mitleid, Erbarmen
Kindlichen Eigensinn und Trotz gibt es wohl in jedem Hause einmal. Aber fast überall wird er von den Eltern nur mit heftigen Worten, mit Drohungen und mit Schlägen bekämpft. Viel Unfrieden, viele Tränen, viele hässliche Gedanken und Gefühle sind dadurch schon in die Familien gekommen. Und der pädagogische Erfolg ist meist gleich Null. Gibt es kein anderes Mittel, Eigensinn und Trotz des Kindes zu überwinden?

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Eine feinsinnige Mutter berichtete mir einmal, wie sie mit einem besonders krassen Trotzanfall ihres vierjährigen Buben fertig wurde: Der Kleine ward zum Abendessen gerufen, aber er kam nicht sofort. Als er endlich erschien, war bereits das Tischgebet gesprochen. Er sollte nun das ihm bekannte kurze Gebetchen für sich wiederholen. Aber er weigerte sich. Je eindringlicher die Mutter es forderte, umso energischer wurde sein Widerstand. Schließlich brach er in ein eigensinniges Geschrei aus. In dieser Familie war es üblich, dass ein Kind, das sich nicht anständig bei Tische benahm, vom Familientisch ausgeschlossen wurde und in der Küche essen musste. Also beförderte die Mutter den Kleinen nach der Küche. Dort beruhigte er sich etwas. Als die Mutter nach einiger Zeit wieder hinauskam, fand sie ein reumütiges und zerknirschtes Bübchen. „Nun, mein Herz, willst du das Gebet nun sprechen?“ — „Ja, Mutti,“ und gehorsam faltete er seine Händchen. Aber er schwieg. Die Mutter nahm ihn nun auf den Schoß und versuchte, ihn durch Güte dahin zu bringen, das Gebet zu sprechen. Unermüdlich sagte sie es ihm vor. Aber alles war vergeblich. Inzwischen wurde es Schlafenszeit. Die übrigen Geschwister gingen zu Bett. Der Kleine saß immer noch mit verweintem Gesicht in der Küche. Da die Mutter den einmal gegebenen Befehl nicht zurücknehmen wollte, fing sie an, dem Buben Strafe anzudrohen, aber auch das war erfolglos. Die Mutter war verzweifelt. Was sollte sie nur noch tun? Da huschte eine Erinnerung an die eigene Kindheit durch ihre Seele, und sie erkannte, dass ihre Strenge und ihre Konsequenz diesmal nicht am Platze waren.

Der Kleine war seelisch aufgewühlt, der normale Verlauf seiner Seelenfunktionen war gestört. Dazu kam seine körperliche Müdigkeit — fast jedes Kind neigt abends leichter zu „Störrigkeit“ als am Morgen. Statt dem Jungen Zeit zu lassen, sich zu beruhigen, war sie ungeduldig auf ihn eingestürmt. Dadurch musste sich seine Aufregung und Furcht immer mehr steigern. Und all das Fürchterliche in seiner Seele war eng verknüpft mit den Worten „Komm, Herr Jesu!“. Diese Worte bedeuteten in diesem Zustand größter seelischer Erregung eine Hemmung, die der Kleine noch nicht überwinden konnte. Das alles empfand die verständige Mutter in diesem Augenblick. Und was tat sie nun? Hören wir sie selbst: „Ich zog den Kleinen in meine Arme. ,Mein Kind, wollen wir mit der zweiten Zeile anfangen: Sei unser Gast?' — ,Ja, Mutti.‘ Ganz verklärt faltete er seine Händchen und betete: ,Sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.‘ Der Bann war gebrochen, und seine Augen strahlten mich an, rührend dankbar dafür, dass mir das Verständnis für seine innere Not aufgegangen war.“

Solange der Zorn in der Mutter Seele loderte, war in des Kindes Seele ebenfalls Erbitterung und Widerstand bis zum Äußersten. Als aber die Mutter sich überwunden hatte, als Liebe und Verstehen in ihr Herz einzogen, da verschwand auch im Kinde der Trotz und das Widerstreben. Ist es nicht immer so zwischen zwei Menschen, die zueinander gehören? Unfreundlichkeit und Heftigkeit auf der einen Seite löst auf der anderen Seite stets entsprechende Gefühle aus — selbst wenn sich die lieblose Gesinnung noch nicht in Worten geäußert hat. Man möchte manchmal wirklich glauben, dass in solchen Augenblicken die Seelen unmittelbar in Verbindung stehen, so dass der Zorn in der einen Brust, schon bevor er sich Luft macht, die Seele des andern trübt. Geht dagegen in der Seele des einen die wahre Liebe und Güte auf, dann wird es auch in der Seele des anderen allmählich hell und licht. Es bedarf dazu gar keiner Worte. Je mehr ich die Menschen in ihrem Tun und Lassen, in ihrem Lieben und Hassen beobachte, umso mehr finde ich das bestätigt. Der ewige Goldgrund der allgemeinen Weltordnung schimmert uns hier entgegen: Das Böse lässt sich nur durch das Gute überwinden. Trotz und Eigensinn sind etwas Niederes, etwas Böses. Durch Zorn und Wut — also wieder durch etwas Böses — kann man sie nicht vertreiben. Nur durch etwas Höheres, durch etwas Gutes lässt sich das Niedere besiegen: eben durch echte und wahre Liebe.

Also, ihr Eltern, wenn Eigensinn und Trotz in euren Kindern aufflammt, dann nehmt euer Herz und eure Zunge in acht, damit sie euch nicht durchgehen! Und dann drückt allen Zorn und alles Niedere in eurem Herzen zu Boden, damit wahre Liebe in ihm Raum gewinne! Sie ist das Höchste, das Göttlichste in dieser Welt. Habt Mitleid und Erbarmen mit eurem Kind, wenn Trotz in ihm wütet. Bedenkt, dass in solchen Stunden das Böse Gewalt gewonnen hat über seine Seele und dass ihr, seine Eltern, ihm helfen müsst, aus dieser Not herauszukommen. Mitleid ist der Anfang der Liebe. Wenn ihr seinen Trotz als ein Leid betrachten könnt, seid ihr auf dem richtigen Wege, ihm aus dem Dunkel und der Tiefe herauszuhelfen.

Foto: Etwas, was man später nicht mehr tun kann / Dem Leben abgelauscht von A. Binder

Etwas was man später nicht mehr tun kann

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