Die volkswirtschaftlichen Kräfte Russlands

Autor: Dühring, Karl Eugen (1833-1921) deutscher Philosoph, Nationalökonom und Antisemit, Erscheinungsjahr: 1870
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, volkswirtschaftliche Tendenzen, Staatsgebilde, Handelspolitik, Wirtschaftspolitik, Interessenlagen
Aus: Supplemente zu Meyers Konversations-Lexikon. Ergänzungsblätter zur Kenntnis der Gegenwart. Herausgegeben von Hermann Julius Meyer, redigiert von Dr. Otto Dammer und Dr. Julius Grosse. Jahrgang 1870.

Seit längerer Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit der weiter denkenden Politiker in gesteigertem Maße auf das Verhalten des russischen Kolosses. Die Fremdartigkeit und der Asiatismus, welche von dieser Seite her die europäische Zivilisation oft unheimlich, mehr und mehr aber rätselhaft berührt haben, werden um so bedenklicher, je entschiedener die Lage des übrigen alt kultivierten und hoch entwickelten Europa ins Schwanken gerät. Die Epoche der gewaltigen Veränderungen und der bis jetzt noch nicht absehbaren Kriegsära, in die wir mit der Bewährung der entscheidenden Kraft Deutschlands eingetreten sind, macht den Hinblick auf das ungeheure Reich des Ostens noch weit wichtiger als bisher. Wenn der alte Bau des bisher tonangebenden Teils von Europa einigermaßen aus den Fugen geht, so wird Russland hierbei seinen Überlieferungen und Interessen zufolge freiwillig keine bloße Zuschauerrolle spielen. Ja es wird dies, wenn es auch wollte, nicht einmal können. Die Frage, ob sein bisheriger Fortschritt von Osten nach Westen und seine im Großen und Ganzen gestiegene Einmischung in die Angelegenheiten des kultivierteren Europa weiter um sich greifen und sich fortentwickeln soll, kann endgültig durch keinen bloßen Stillstand gelöst werden. Es wird sich wie überall darum handeln, ob es vorgehen oder zurückweichen muss. Gegen Skandinavien strebt es nach dem offenen Meer, und Finnland ist nur als eine erste Position zu betrachten gewesen. Den deutschen Provinzen gegenüber muss sich früher oder später die Frage nach den haltbaren Grenzen und nach der Demarkationslinie gegen den Asiatismus ebenfalls entscheiden. Die nationalrussischen Bewegungen nebst den Russifizierungen an der Ostsee sind nur als vorläufige Regungen zu betrachten, die auf einen viel umfassenderen Gegensatz hindeuten, an welchem die ganze nördliche Welt einschließlich Skandinaviens interessiert ist. Was die andern europäischen Grenzen anbetrifft, so kann die polnische Frage auf die Dauer nur den Sinn haben, ob Russland ungestört fortfahren wird, die betreffenden großen Gebiete zu beherrschen. Was endlich Ungarn anbetrifft, welches vor ein paar Jahrzehnten durch Russland niedergeworfen wurde, so ist es der natürliche Feind des letzteren und vertritt der Abstammung sowie den eingewurzelten Volksüberlieferungen nach vielleicht die ausgeprägteste Gegnerschaft, die sich in rein naturwüchsiger Weise gegen den russischen Einfluss auffinden lässt.
Geht man von den Grenzbetrachtungen zur Weltperspektive über, so hat Nordamerika die meisten Sympathien für sein kolossales Gegenstück gezeigt. In den Vereinigten Staaten hat man den Krimkrieg mit anderen Gefühlen betrachtet als im westlichen Europa, und in den Vereinigten Staaten kann man auch diejenigen politischen und volkswirtschaftlichen Ansichten antreffen, welche einer zukünftigen Machtentwicklung Russlands am günstigsten sind. In vielen Beziehungen hat man dort für die Riesendimensionen der russischen Verhältnisse und namentlich für die Volkswirtschaftlich ausstrebenden Tendenzen ein mehr entgegenkommendes Verständnis; als anderswo Der Hauptgrund hierfür liegt aber weniger darin, dass man die Aufgabe der Entwicklung der Bodenkräfte eines riesigen Gebiets besser zu würdigen weiß, als vielmehr in der natürlichen Berührung der weltpolitischen Tendenzen. Ganz besonders ist hier der gemeinsame Antagonismus gegen Englands Kolonialmacht im Spiele. Während Russland in Zentralasien seine Interessen wahrnimmt und über seinen europäischen Perspektiven in keiner einzigen Beziehung vergisst, dass es nach der Kultur noch mehr als nach dem Gebiet ein asiatisches Staatsgebilde ist; während es ferner die eigentlich sogenannte orientalische Frage, d. h. zunächst die Interessen an der Türkei und an dem von der Beherrschung derselben abhängigen Handel nicht aus dem Auge verliert; — sorgt auch Nordamerika dafür, den Engländern in Indien und ihren sonstigen asiatischen Interessen von einer andern Seite zu begegnen, indem es sich zur Straße für die Verbindung der Weltmeere macht und so den Ring, der durch Asien geht, nach Europa hin über den atlantischen Ozean schließt. Obwohl die Entwicklung und Brauchbarkeit dieses Ringes noch stark im Rückstände ist, so ist doch für die wertere Zukunft das englische Interesse von zwei Seiten her bedroht. Man hat nicht mit Unrecht gesagt, dass England in seinen Interessen bereits mehr ein asiatischer als europäischer Staat sei, und dass sich zum Teil hieraus seine wachsende Zurückhaltung von den europäischen Kämpfen erkläre. Ist diese von Engländern selbst abgegebene Rechenschaft auch nur zum Teil wahr, so erklärt sie doch selbst unter einiger Einschränkung noch immer die Anziehungskraft, welche zwischen Nordamerika und Russland in Rücksicht auf die großen Dimensionen der Völkerwirtschaft besteht. Beide reichen einander gleichsam über den Kopf Englands hinweg, d. h. über Indien oder überhaupt Asien die Hand. Nebenbei bemerkt sind es auch die beiden einzigen Mächte, welche sich bis jetzt gegen die Westeuropäische Handelspolitik entschieden gestemmt und ihre Tarifautonomie im Gegensatz zu den eindringlicher bindenden Handelsverträgen des letzten Jahrzehnts aufrecht erhalten haben.

Man darf sich daher auch nicht wundern, die wirtschaftliche Zukunft Russlands grade in der amerikanischen Union mit den größten Erwartungen betrachtet zu finden. Ganz abgesehen von den politischen Sympathien, die einerseits auf dem Vorhandensein eines gemeinschaftlichen Gegners und andererseits auf dem natürlichen Mangel an sonstigen Berührungen oder gar Interessenkreuzungen beruhen, versteht man sich im Rahmen der amerikanischen Union begreiflicherweise auf die Würdigung unentwickelter Hilfsquellen des Bodens und auf die Veranschlagung der Macht, welche aus dem selbständigen Fortschreiten der Industrie erwachsen muss. Man kennt mit diesen Aussichten aber auch die Schwierigkeiten und Hindernisse, welche sich trotz der größten natürlichen Hilfsquellen der Entwicklung der Volkszahl und Volkskraft auf einem Riesenterritorium entgegenstellen. Hiernach ist man vermöge der eignen Erfahrungen geneigt, den früheren anscheinenden Stillstand der russischen Wirtschaftsentwicklung nicht als fernerhin maßgebend gelten zu lassen, sondern die ganz modernen technischen Faktoren, welche wie die Eisenbahnen vornehmlich erst im letzten Menschenalter zur entscheidenden Wirksamkeit gelangt sind, nach dem eignen Beispiel in Anschlag zu bringen. So groß der Kontrast zwischen Russland und der Union in der innern politischen. gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kultur auch ist, so besteht dennoch bei aller dieser Verschiedenheit eine sehr wichtige Ähnlichkeit. In beiden Reichen werden nämlich die allermodernsten Hilfsmittel der Technik unmittelbar auf fast unberührte Hilfsquellen der Natur übertragen, während in den hoch kultivierten Teilen des politisch maßgebenden Europa die modernen Faktoren bereits eine alte Wirtschafts- und Kulturschicht vorfinden, Es ist stets eine sehr interessante Erscheinung, wenn auf dem Boden der verhältnismäßigen Unkultur unmittelbar die letzten Ergebnisse der Zivilisationstechnik abgelagert und fruchtbar gemacht werden. Dies ist aber, wenn auch unter sehr verschiedenen Verhältnissen, jetzt ebenso in Russland der Fall wie seit etwas längerer Zeit in Nordamerika, die Naturschätze sind in beiden Machtsphären in den entscheidenden Hauptrichtungen praktisch unbegrenzt zu nennen, und die Frage ist einzig und allein nur die, was der Mensch zu ihrer Entwicklung vermögen werde. In Nordamerika, wo eine andere Rasse und andere geistige Kräfte, wo die europäischen und besonders die germanischen Überlieferungen fortarbeiten, ist die Beantwortung im Sinne eines beschleunigten Fortschritts nicht streitig. Für Russland muss dagegen an eine Art Naturgesetz der Geschichte erinnert werden, vermöge dessen zwischen den Kulturleistungen und den Eigenschaften einer Rasse eine heilsame Beziehung besteht, welche die hervorragenden Völkerelemente einigermaßen gegen eine Überwältigung durch barbarische, mit modernen Machtmitteln operierende Existenzen so lange sichert, als sie nicht der Korruption anheimfallen. Der Hauptnerv dieses Gesetzes liegt in der volkswirtschaftlichen Unmöglichkeit großer Kraftentwicklung ohne vorgängige innere und soziale, ja man kann sagen geistige Kultur. Gibt es auch noch sehr wichtige andere Punkte, an denen dafür gesorgt ist, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, so ist doch der volkswirtschaftliche Kraftgrad, welchen die roheren Verhältnisse nicht Überschreiten lassen, der sicherste Schutz gegen ein allzu großes Missverhältnis zwischen der Geltendmachung politischer Ansprüche und den wirklichen zivilisatorischen Kulturleistungen. Nur die korrumpierten, aus innern Gründen im Verfall begriffenen Staaten haben die ganz rohe, volkswirtschaftlich und sozial nicht nachhaltige und von keinen höheren Geisteselementen getragene Gewalt zu fürchten. Für die in gesunder Entwicklung und Machtsteigerung begriffenen Nationen ist daher die Umschau nach der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der in andern Beziehungen rückständigen, aber äußerlich kolossalen Nachbarexistenzen eine Angelegenheit ersten Ranges.

Die Ansichten, welche über die künftig entscheidende Machtstellung der verschiedenen Länder aus dem Boden Europa s bisher noch am meisten umliefen und Glauben fanden, hatten sich jenseits des atlantischen Ozeans bei hervorragenden Denkern schon längst geändert, und es hatte sich die neue Auffassungsart sogar in der Annahme einer künftigen Welttrias zugespitzt. Die drei entscheidenden Machtelemente, die allein auf Staatsexistenz ersten Ranges Anspruch haben würden, sollten die amerikanische Union, Deutschland und Russland werden. Die volkswirtschaftlichen Überlegungen und Anzeichen hatten bei dieser Beurteilung schon vor Jahrzehnten eine Rolle gespielt. Der Umstand, dass Deutschland mit seinen Machtelementen im Steigen begriffen war, war schon im Anfang der fünfziger Jahre grade Denen am wenigsten entgangen, die bei ihrer Bemessungsart die gelegentliche Schmach irgend einer Wendung der laufenden Tagespolitik gar nicht in Anschlag brachten und sich nur an die wirtschaftlich und sozial reifenden Kräfte und an die Symptome der gesunden Volksentwicklung hielten. Haben sich diese Beurteiler nun im Punkte Deutschlands nicht im Mindesten getäuscht und haben sie schon früh das germanische Europa, und zwar speziell die Hegemonie Deutschlande ins Auge gefasst, so würde es voreilig sein, das Zubehör dieser Anschauungsweise ohne Weiteres zu verwerfen und die große Rolle, die man Russland von dieser Seite her zuteilt, für eine leichtfertige Prophezeiung zu halten. Allerdings wird die Zeitdauer hierbei einen gewaltigen Unterschied machen; denn es fragt sich nicht allein, ob Russlands Weltstellung sich im Sinne jener Trias gestalten und neben Deutschland das westmächtliche und nicht etwa bloß das romanische Europa verdunkeln werde; — es handelt sich nicht bloß um das Ob, sondern um das Wann, und in diesem Punkt scheint der Amerikanismus etwas zu früh zu Ungunsten Englands zu schließen. In den großen amerikanischen Journalen von nationaler Farbe bilden die Bloßstellungen der neuern politischen Ohnmacht Englands seit lange ein Thema, welches bei jeder Gelegenheit und selbstverständlich auch wieder im gegenwärtigen Augenblick mannigfaltig variiert wird. So wahr es nun aber auch sein mag, dass England im Allgemeinen im Rückgang begriffen ist und sein Handelsreich mehr und mehr untergraben sieht, so ist es doch tatsächlich auf der See noch immer eine erste Macht. Auch ist es nichts Neues und Überraschendes, dass England in den Landaktionen entweder gar nicht oder nur im Anschluss an eine festländische Militärmacht zu handeln vermag, wofür bekanntlich der Krimkrieg noch das letzte Beispiel abgegeben hat. An sich würde also diese sekundäre Gestaltung der englischen Politik nicht überraschen können, zumal die asiatischen Interessen bei ihm immer mehr die europäischen überwogen haben. Dagegen ist allerdings seit ungefähr einem Jahrzehnt eine, im Vergleich mit dem Verlauf seiner früheren Geschichte ganz ungewöhnliche Schwäche Englands wahrzunehmen gewesen, die sich zum Teil ans der unnatürlichen Allianz mit seinem traditionellen Feinde Frankreich erklärt und in der inneren Parteien und Regierungsgestaltung bis zum heutigen Augenblick ihr entsprechendes Gegenstück erhalten hat. Das Jahrzehnt von 1860—70 ist als eines der Unterordnung Englands unter die französischen Wünsche zu bezeichnen, und die allerneuesten Ereignisse haben die, Komik einer Weltmacht zu Tage gefördert, die nicht wissend, an welche der beiden Schalen der Wage sie sich hängen dürfe, ohne bei der andern Anstoß zu erregen, die Posse mit dem Doppelvertrag wegen Belgien aufgeführt hat. Wären nicht Handelsinteressen im Spiele gewesen, so würde selbst die kleine Dosis von Entschließung, die zu diesem bizarren Stück Politik erforderlich war, gefehlt haben. Allein Belgien ist eine Handelsetappe Englands auf dem Kontinent, und es wäre sehr bedenklich für das Britenreich, wenn in diesem kleinen Staatchen irgend eine große Aktion direkt oder indirekt ihre Wurzeln triebe. Einer Haltung wie der englischen gegenüber sieht sich natürlich Russland im Lichte politischer Würde an, und man wird unwillkürlich zu der Frage gedrängt, woher diese Verschiedenheit zwischen dem wirtschaftlich unentwickeltsten und dem ökonomisch hochkultiviertesten Staate herrühre. Die Weite des Territoriums kann den Unterschied am allerwenigsten begründen, da England denselben durch die Kolonien mehr als aufwiegt und mit seinen Dependenzen in bequemerem Verkehr steht als Russland mit seinen eignen entfernteren Provinzen. Die Zusammenfassung der Kraft ist für das Reich der Briten unvergleichlich leichter als für das der Russen; der natürliche Schutz der insularen Lage des Stammlandes hat seit jeher eine Rolle gespielt und eine Armee aufgewogen. Dagegen ist die eventuelle Kraft zum Angriff, ohne welche auch die Verteidigung in überseeischen Positionen keinen Sinn hat, stets ziemlich gering gewesen und gegenwärtig aus Gründen der innern Klassenpolitik kaum in erheblichen Anschlag zu bringen. Die Neigungen der tonangebenden Klassen Englands sind so sehr an eine indirekte Ausbeutung der Welt durch den Handel und durch die Beeinflussung der Handelspolitik anderer Staaten gewöhnt und so sehr an ihre nächsten Privatvorteile gefesselt, dass sie zur direkten Wahrnehmung der Landesinteressen gegenwärtig in hohem Grade unfähig geworden zu sein scheinen. Letzteres steht nun im entschiedensten Kontrast zu dem Wesen der russischen Autokratie mit ihrem steigen den National- und Staatsgefühl und ihrer Unterordnung der wirtschaftlichen Partikularinteressen unter die dominierenden Zwecke des Reichs und Staats.

Bei Manchen erregtes noch heut ein Lächeln, wenn man von russischer Manufakturindustrie spricht, ohne zugleich eine gewisse Verachtung für diese vermeintlichen Zwergbestrebungen auszudrücken, über die kürzlich arrangierte russische Industrieausstellung zu Petersburg ist in diesem Sinne von den eifersüchtigen Konkurrenten allzu einseitig abgesprochen worden. Es kommt der russischen Industrie gegenüber, von deren ernstlicher Entwicklung vor einer nachhaltigen russischen Kraftentfaltung nicht die Rede sein kann, darauf an, nicht die Wünsche der fremden Mitbewerbung auf dem russischen Markt, sondern ganz einfach die Tatsachen sprechen zu lassen. Eine Umschau nach den entscheidenden Anzeichen des volkswirtschaftlichen Zustandes Russlands ist gegenwärtig durch ein umfassendes Werk über das „Zarenreich“ sehr erleichtert. Die russische Statistik ist bekanntlich noch ziemlich unförmlich und unzuverlässig, so dass die gelegentlichen und gewöhnlich umlaufenden Angaben, die im besten Falle aus zerstreuten und unzusammenhängenden Quellen geschöpft sind, einen verhältnismäßig noch geringern Grad von Zutrauen verdienen. Um so wichtiger ist es, ein aus Hunderten von Quellenwerken mit Ordnung, Umsicht und in vielen Beziehungen mit Urteil zusammengestelltes Bild der russischen Volkswirtschaft vor sich zu haben, wie es mit dem jüngst erschienenen vierten Bande des fraglichen umfassenden Werks über das Zarenreich (M. J. M. Schnitzler, L’empire des Tsars, tome IV. Les intérêts matériels, Paris 1869) geliefert morden ist. Es ist dieser vierte, die materiellen Interessen, d. h. Ackerbau, Manufakturen und Handel darstellende Band keineswegs überwiegend ein trocknes Tabellenwerk, sondern eine systematische Besprechung der Tatsachen und Fragen, zu welcher die eingereihten Zahlen und Tafeln eine gut geordnete und ausgiebige Grundlage bilden. Die Geschichte der Handelspolitik sowie der volkswirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen wird in übersichtlicher und bis auf die letzten Maßregeln reichender Weise herbeigezogen, um die gegenwärtige Situation zu kennzeichnen. Die kommunistischen Bestandteile und die eigentümlichen körperschaftlichen Verhältnisse der russischen Agrarverfassung werden in Betracht gezogen, und übrigens ist das Werk von jedem einseitigen volkswirtschaftlichen Doktrinarismus frei genug, um die neuesten direkten Bestrebungen der Staatsgewalt zur Entwicklung der materiellen Interessen nicht zu unterschätzen In der Schilderung des Industriezustandes geht es im Detail weit genug, um seiner Absicht zu entsprechen, zugleich ein orientierender Führer für die mit größeren Dimensionen rechnende Privatspekulation sein zu können. Es bemüht sich besonders um die Bezeichnung der Richtungen, in denen der Unternehmungsgeist die ergiebigsten Betätigungen zu gewärtigen hat, und lässt sich häufig auf die einzelnen Gruppen der Etablissements, ja auf die einzelnen größeren Einrichtungen ein. Es ist ein lesbares Handbuch mit einem Grade von Wissenschaftlichkeit und zugleich praktischer Brauchbarkeit, wie man es auf dem Gebiet der noch sehr unverdaulichen russischen Volkswirtschaftsstatistik im Rahmen einer allgemeinen Schilderung des Zarenreichs bisher nur irgend erwarten konnte. Doch bleibe es nicht unerwähnt, dass der Verfasser, der seit 1839 korrespondierendes Mitglied der Petersburger Akademie ist, schon damals in seinem Diplom für die Verbreitung richtiger Begriffe über Russland ausdrücklich belobt wurde und auch jetzt unter den Auspizien der kaiserlichen Regierung und der Akademie gearbeitet hat. Man wird daher die für Russland ungünstigen Seiten der Sache nicht grade pointiert finden und dieselben nicht selten aus andern Quellen aufzusuchen haben. Trotzdem ist aber der Charakter der Darstellung ruhig und wissenschaftlich genug, um das Material für die verschiedensten Auffassungen unwillkürlich in ziemlicher Gleichmäßigkeit zu liefern. Auf eine scharfe Kritik der Bodenlosigkeit, die den russischen Feststellungen statistischer Tatsachen oft mit Recht nachgesagt wird, kann man natürlich nicht rechnen. Nichtsdestoweniger ist aber auch so, unter Anwendung volkswirtschaftlicher Kritik und selbst bei völligem Misstrauen gegen Maximalzahlen, von den Zuständen ein besseres Bild zu gewinnen, als welches man sich aus den traditionellen Eindrücken und Vorurteilen zu konstruieren pflegt.

Wir lassen die gewöhnlichen Gesamtwürdigungen, die nur mit den allgemeinsten und in ihrer Unbestimmtheit oft ganz bedeutungslosen Lineamenten der volkswirtschaftlichen Position Russlands rechnen, zur Seite, um uns vorzugsweise mit der eigentlichen Industrie und speziell mit denjenigen Teilen derselben zu beschäftigen, welche über das Maß der Gesamtkraft und namentlich der »ach Außen verwendbaren materiellen Mittel entscheidend sind. Wir erinnern zuvor nur daran, dass man oft mit Unrecht auf die Bevölkerungszahl von 75 Millionen ein zu großes Gewicht legt und ebenso oft im entgegengesetzten Sinne übersieht, dass die Zerstreuung dieser 75 Millionen Köpfe über mehr als einen halben Weltteil und die daraus folgende wirtschaftliche und sonstige Ohnmacht ihre Bedeutung zu verlieren anfängt, wenn man nur den uns näher liegenden Teil dieser Bevölkerungsmasse ins Auge fasst. Im letzteren Falle rechnet man nicht mit dem ganzen europäisch-asiatischen Reich, sondern nur mit denjenigen Teilen, welche die meisten Aussichten haben, sich mehr und mehr durch das neue System von Verkehrsmitteln zusammenzuschließen. Ferner würde es unangebracht sein, die vorläufige Eingeschränktheit der ökonomischen Macht Russlands allein mit der Hinweisung abfertigen zu wollen, dass es auch in seinen entwickeltsten Teilen noch ganz überwiegend und wesentlich auf der Stufe des Ackerbaustaats befindlich ist. Die verhältnismäßig sehr geringe Städteentwicklung und die Langsamkeit, mit welcher die wahrnehmbare Absonderung der Arbeitsteilung und der Industrie vor sich geht, erklären sich nämlich zu einem großen Teil aus dem Umstände, dass in den Gegenden mit rauem Klima die nicht zu Ackerarbeiten verfügbare lange Zeit von 7—8 Monaten zur Ausbildung der rohesten technischen Fähigkeiten bei dem Ackerarbeiter selbst angeregt und so einen Betrieb von großem Umfang erzeugt hat, der nicht bloß auf die eignen Bedürfnisse gerichtet ist. Ganze Handmerkerdörfer sowie die vielfach verbreitete Sitte der Wanderungen auf Handwerker- oder Dienstarbeit (z. B. in den Assoziationen, welche man Artelh’s nennt) deuten auf Zustände, die zwar im Vergleich mit den Formen der Industrieabsonderung der höheren Kultur sehr unentwickelt sind, aber in Anschlag gebracht werden müssen, wenn man die relative Selbstgenügsamkeit vieler Partien des russischen Ackerbaus nicht verkennen will. Es ist daher einerseits die russische Gewerbsamkeit nicht so vorherrschend, wie in Mittel- und noch mehr Westeuropa, in den Städten oder in besondern Etablissements zu suchen, und es ist andererseits der russische Ackerarbeiter mit seinen Fähigkeiten keineswegs von eigentlich industrieller Verwendbarkeit in Fabriken so weit entfernt, als man häufig voraussetzt. Im Gegenteil ist er vielfach nach dieser Richtung hin in einem gewissen Sinne durch die Gewohnheit der geteilten Tätigkeit vorgebildet und bequemt sich der dargebotenen Gelegenheit zur Manufakturarbeit eher an, da er naturgesetzlich, d. h. vermöge der Einschränkung durch das Klima, viel Zeit zur Verfügung hat. Wo also nicht die Ausartungen des Trunkes, zu denen sich die Neigung ebenfalls klimatisch erklärt, als erhebliche Schwierigkeit mit zu großer Kraft entgegenwirken, da ist in der ländlichen Bevölkerung selbst ein verhältnismäßig guter Anknüpfungspunkt für die Einführung gesonderten und umfassenden Industriebetriebs vorhanden. Bedenklich ist dagegen das viel besprochene, spezifisch moskowitische Verhältnis in den sozialen Arrangements, welches man neuerdings häufig als russischen Kommunismus bezeichnet und von der einen Seite als angestammten Vorzug sowie als Grundlage einer künftigen, die Kulturformen Europas überragenden Entwicklung gepriesen, von der andern Seite aber als die historische Wirkung einer vor mehreren Jahrhunderten durchgeführten, auf Unterdrückung beruhenden Verschlechterung der Gesellschaftsverfassung verurteilt hat. Wir können hier nicht in Erörterungen über die geschichtliche Abkunft eingehen, brauchen es aber auch nicht, da die gegenwärtige Sachlage, wie sie auch entstanden sein möge, an sich selbst in ihrer eignen Beschaffenheit entscheidend ist. Dieser Kommunismus ist eigentlich nur eine Gemeinschaft und Solidarität für Abgabenleistung und Steuerzahlung. Nicht die Landlose, die man ursprünglich alle Jahre, jetzt aber in den verschiedenen Provinzen verschiedentlich nach einer Reihe von Jahren neu, und zwar nach Maßgabe persönlicher Arbeitsfähigkeit und des Besitzes von Gerätschaften und Betriebsmitteln verteilt, nicht diese Landauteile (Tiaglos), welche von der anscheinend höchst demokratisch organisierten und verfahrenden, Bauerngemeinde ihren Gliedern mit übrigens diskretionärer Gewalt zugewiesen werden und das Erbrecht am Grund und Boden ersetzen, sind als positive Dotierungen die Hauptsache, sondern die daran geknüpften Lasten und Rentenleistungen bilden den Nerv der ganzen Institution. Die menschliche Persönlichkeit figuriert als Zubehör und Arbeitsmittel für ein Stück Land, aus welchem Renten, Abgaben und Staatssteuern mit Hilfe dieses menschlichen Instruments, unter grob solidarischer Verhastung der ganzen Gemeinde herausgezogen werden müssen. Hiernach erklärt es sich, dass sich die Leute oft wehren, zu viele Anteile auf sich zu nehmen, indem sie den Leistungen nicht gewachsen sind. Auf der andern Seite dürfen sie aber bei diesem Lastenkommunismus auch nicht zu sehr auf die Versorgung durch die Gemeinde rechnen, da man vorzugsweise diejenigen, welche aus Mangel an Gerätschaften oder Arbeitsamkeit nichts übernehmen können oder wollen, als Heeresbürger der russischen Militärdisziplin zur höheren zivilisatorischen Entwicklung ihrer für den Acker- und Steuerkommunismus unzulänglichen Eigenschaften überweist. Man sieht, dass dieser Kommunismus eine Art Polypendasein mit jener rohen Solidarität vorstellt, wie sie im Bereich des Asiatismus auch sonst nicht selten ist und stets das Kennzeichen der Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit bildet. Diese Solidarität bezieht sich in erster Linie nicht auf die Gegenseitigkeit der Versorgung, sondern auf die Unterwerfung unter eine in der rohesten Weise Abgaben oder, besser gesagt, Kontributionen heischende Gewalt, die früher vorherrschend in einem allgemeinen Sinne des Worts feudalistisch geartet war und mehr und mehr dem eigentlichen Staate Platz macht. Ein solches Polypendasein, in welchem der Mensch als Einzelner gar nicht zählt, sondern so zu sagen nur als Stück Fleisch am vielarmigen Gesamttier und daher ganz ohne individuelle Unterscheidung verantwortlich gemacht wird, ist sicherlich der bedenklichste Zug im Bereich des russischen Volks- und Wirtschaftslebens und bürgt dafür, dass noch eine lange Zeit verstreichen müsse, ehe an die höhere individuelle Kraftentwicklung gedacht werden kann. Aus diesem Grunde wird auch die im letzten Jahrzehnt betriebene Aufhebung der vor drei Jahrhunderten eingeführten Leibeigenschaft und das hiermit verbundene Maß von Bauernemanzipation zunächst nicht ganz dieselben Wirkungen haben können, wie sie sich an die ähnlichen Maßregeln in Mitteleuropa geknüpft haben.

Fasst man hiernach den günstigen und den ungünstigen Umstand, nämlich die industrielle Vorbereitung und das soziale Hindernis der Selbständigkeit zusammen, so ergeben sich für die landwirtschaftliche Basis der russischen Volkswirtschaft ziemlich bescheidene Aussichten, indem erst das Stadium der individuellen Gesellschaftsentwicklung betreten werden muss, ehe an einen ernstlichen Wetteifer mit den Gebieten höherer Kultur zu denken ist. Das despotische Polypendasein der Massen, wie es dem Asiatismus und Patriarchalismus überall entspricht, ist zwar sehr geeignet, die Wirkung wandernder und sich gegen andere Stämme wälzender Menschenhaufen zu unterstützen, ist aber nicht im Stande, in seinem eignen Rahmen jene elementaren wirtschaftlichen Kräfte zu befassen, ohne welche eine nachhaltige Machtentfaltung vom eignen Boden aus in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht verhältnismäßig schwach bleiben muss.

Das russische Reich ist noch immer der regelmäßige Schauplatz örtlicher Hungersnöte und Notstände, denen die bis jetzt geschaffenen Verbindungen nicht zu begegnen vermögen. Dieser sehr natürliche Mangel an Zusammenschließung, welche den Überfluss der einen Gegend nicht für den augenblicklichen Zustand der andern verfügbar macht, wird durch Verkehrswege allein noch keineswegs in entscheidender Weise gehoben. Die gewaltigen Anstrengungen im Eisenbahnbau, welche aus militärischen und volkswirtschaftlichen Rücksichten innerhalb des letzten Jahrzehnts gemacht worden sind, verbürgen noch lange nicht einen ihnen entsprechenden wirtschaftlichen Verkehr. Sie sollen die Vorbedingungen des letzteren zum Teil erst ins Leben rufen, und man hat daher auch hier nicht ohne Weiteres von den Verhältnissen in Deutschland und Westeuropa einen Schluss zu ziehen. Eine Gegend steht trotz der besten Verkehrsmittel noch nicht in gehörigem wirtschaftlichen und noch lange nicht in organischem Zusammenhang mit andern Gebieten und Menschengruppen, wenn nicht zwischen beiden eine wirkliche Verschiedenartigkeit der Produktion und eine interprovinzielle Arbeitsteilung entwickelt ist, Provinzen mit noch ganz rohem Ackerbau mag man noch so viel mit Schienenwegen verbinden; es wird hierdurch an sich keine derselben in den Stand gesetzt, in erheblichem Maß von der andern zu kaufen; denn womit sollten sich die ganz gleichartig produzierenden Kreise schließlich bezahlen? Sie haben nichts gegen einander auszutauschen und könnten höchstens in Zeiten der örtlichen Not einander leihweise aushelfen, ohne dass sich hieraus ein auf die regelmäßige Verschiedenheit der Bedürfnisse und der Leistungsfähigkeiten begründeter Verkehr zu entwickeln vermöchte, überall in der Welt sieht man es, dass die vorherrschend auf rohen Ackerbau angewiesenen Provinzen der Staaten auch dann schwach bleiben, wenn man sie mit Schienenwegen durchschneidet, und es kann regelmäßig nur die innigste Verbindung mit naheliegenden Industriebezirken sein, was den Ackerbau aus seiner Unvollkommenheit befreit und eine Verkehrsverknüpfung schafft, die auf wirklicher Gegenseitigkeit beruht. Andernfalls bleiben die verbesserten Kommunikationen nur Wege und Mittel, die Distrikte des rohen Ackerbaus auszunutzen, ohne dass dieselben davon sonderlichen Vorteil hätten. Die Eisenbahnen nutzen also erst da erheblich, wo ihnen eine entsprechende Entwicklung der Produktion entgegenkommt, und wo das Netz bereits einigermaßen bis zu den Verbindungen zweiter Ordnung gelangt ist. Die Formierung der Hauptäste des Adersystems deutet wie im Organismus auf einen noch sehr embryonischen Zustand. Die großen Linien arbeiten zunächst für denjenigen Handel, welcher auch ohne sonderliche Manufakturindustrie besteht und am meisten dem Luxus und grundherrlichen Glanz dienstbar ist. Auch klagen die Schriftsteller grade rücksichtlich Russlands über das ungeheure Missverhältnis, welches zwischen der verschwenderischen Üppigkeit und schaustellerischen Prachtliebe der wenigen Reichen und dem geringen Lebenskomfort der Massen besteht. Diese Erscheinung erinnert nicht etwa bloß an die orientalisch-despotische Art und Weise, sondern ist überhaupt überall mehr oder minder ein Begleiter des rohen Ackerbausystems, indem der Arbeitsertrag von Hunderten und Tausenden emanzipierter oder nichtemanzipierter Ackersklaven auf fernen Märkten gegen einen unverhältnismäßig geringen Betrag von Luxusartikeln umgesetzt wird. Das Aleatorische dieses nicht bloß von den eignen, sondern auch von den fremden Ernten abhängigen ebenso unlukrativen als unzuverlässigen Geschäfts begünstigt bei dem Grundadel die bekannten verschwenderischen Sitten, die von so vielen Beobachtern und Historikern für die verschiedensten Länder konstatiert worden sind. Jene Erscheinung ist daher nicht in ihrem ganzen Umfang eine spezifisch russische, obwohl die orientalische Überlieferung noch das Ihrige zur Steigerung derselben beiträgt. Die bessere Wirtschaftlichkeit im Ackerbau findet sich erst in der innigeren Berührung und in jenem Stadium ein, in welchem der Landbau selbst unwillkürlich genötigt wird, mit industriellen Mitteln zu arbeiten und selbst allmählich den Charakter einer systematischen Industrie anzunehmen. Dieses Stadium hat aber kaum für die allerentwickelsten und in dieser Eigenschaft nicht umfangreichen Gebietsteile Russlands begonnen, und auch die Eisenbahnen werden, wie gesagt, in dieser Beziehung nicht sofort Wunder tun können, sondern erst im Verlaufe langer Zeiträume einen wirklichen volkswirtschaftlichen Kitt abgeben. Dr. Dühring

Russisches Sittenbild

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Pferdeschlitten

Pferdeschlitten

Das Denkmal Peter des Großen

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Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Russisches Kaiserpaar in historischen Kostümen

Volksleben in Petersburg

Volksleben in Petersburg

Russischer Geistlicher

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Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Russische Parlamentaria beim Verlassen der Duma

Russicher Bauer in Wintertracht

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Russisches Bauernmädchen

Russisches Bauernmädchen

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Auf dem Vieh- und Fleischmarkt in St. Petersburg

Kreml zu Moskau

Kreml zu Moskau

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

An der Neva mit Blick auf den Winter-Palast

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 1821-1881

Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 1821-1881

Turgenew, Iwan Sergejewitsch 1818-1883

Turgenew, Iwan Sergejewitsch 1818-1883