Die volkswirtschaftliche Bedeutung unserer heimischen Heilpflanzen.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: Leopold Rocholz, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Heilpflanzen, Medizin, Heilkunde, Ärzte, Heilmittel, tropische Gewächse, Kraft und Wirkung, Naturmedizin, Glaube, Hoffnung, Kräuter
Seit der Entdeckung fremder Weltteile und dem zunehmenden Verkehr mit fernen Ländern vollzog sich allmählich eine bedeutsame Wandlung im Gebrauch unserer einheimischen Heilpflanzen, die bis dahin von den mittelalterlichen Ärzten medizinisch verordnet wurden. Die Augsburger Fugger verdienten ungeheure Summen an dem seit 1508 aus Amerika eingeführten Guajakholz und dem aus diesem Baume gewonnenen Harz. Dieses Mittel sollte die gefürchtete Franzosenseuche, die Syphilis, unfehlbar heilen. Man nannte es „heiliges Holz“ oder „Lebensholz“ und wog das sehr schwere Holz fast mit Gold auf. Seit die Spanier von den Eingeborenen Domingos die medizinische Anwendung dieser Naturgabe kennenlernten, kamen große Mengen übers Weltmeer, und um 1533 wurde das „Franzosenholz“ noch teuer bezahlt. Als der Heilstoff sein Ansehen bei Ärzten und Kranken verlor, waren Millionen daran verdient worden.

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Bei der unsicheren Methode in der damaligen Heilkunde, die es nicht ermöglichte, die spezifisch wirksamen Stoffe in den Pflanzen festzustellen, kann es nicht überraschen, dass inan in fast jedem fremden Gewächs größere „Kraft und Wirkung“ als in den einheimischen Heilmitteln pflanzlicher Herkunft vermutete. Besonders tropische Gewächse sollten wegen der Stärke der Sonne Außerordentliches zu leisten vermögen. Hier wirkten das Vertrauen und der Glaube an das Kostbare und „Ächte“ nach, die unter Berufung auf die Größen der arabischen Ärzte ihre Nachfolger lange Zeit beherrschten. Die übertriebenen Hoffnungen, die man in die Heilstoffe der Gewächse fremder Zonen setzte, verloren sich im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts wieder, wenn auch der Glaube an den Wert des Exotischen nicht ganz erlosch. Hatte man doch einzelnes kennengelernt, das sich als unzweifelhaft brauchbar erwies. Als Bücher über Heilkunde in deutscher Sprache erschienen, dazu bestimmt, „dass jedermann sich selber zu helfen vermöge in seiner Not und Bedrängnis, wenn er nicht einen Doktor oder Arzt finden könne“, kamen die heimischen, wildwachsenden oder in Gärten gezogenen Kräuter wieder mehr zu Ehren. Nun pries man Salbei, Kamille, Bibernelle, Huflattich, Arnika, Ehrenpreis, Quendel, Tausendgüldenkraut, Wacholder und viele andere. In einem 1546 gedruckten Buch wird hervorgehoben: „Viele Kräuter sind im Lande, die uns ebenso gut helfen können wie die aus India, Arabia, Kalkutten; viele edle Kräuter wachsen, welche jedoch verachtet und mit Füßen getreten werden, als ob sie nicht von Gott uns zum Besten geschaffen wären. Aber wüssten wir ihre Kräfte und Vorzüge, da hielten wir sie in größerer Würdigkeit, als wir tun.“ Waren auch noch nicht alle Ärzte des sechzehnten Jahrhunderts dieser Meinung, so gab es doch viele, die unsere heimischen Pflanzen schätzten. Der Begründer der modernen Medizin, Paracelsus, lehrte um 1525, dass jedes Land die Kräuter gegen seine Krankheitsformen hervorbringe; er sagt: „Die Säftemischungen eines Engländers sind nicht ungarisch, noch die neapolitanischen preußisch.“ Und er fand Nachfolger, die so weit gingen, zu behaupten, man könne die in den verschiedenen Ländern auftretenden Krankheiten nur dann heilen, wenn man die dort heimischen Pflanzen benütze und Medizin daraus bereite. Diese veränderte Auffassung fand sogar im Norden Europas Anhänger. Christiern Pedersen pries 1533 in dänischer Sprache, die wild wachsenden Kräuter des Landes, von denen er über hundertvierzig anführte, die alle medizinisch gebraucht werden können. Allerdings nannte er auch die wichtigsten fremden Heilkräuter.

Unsere meisten Apotheken sind seit dem letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts errichtet oder, soweit solche aus dem zwölften bis vierzehnten Jahrhundert stammen, damals erneuert worden. Die Apotheker aber sollten erfahrene Männer sein, die verstanden, Medizinen zu bereiten, wie die Arzte sie wünschten. Man unterstellte die Apotheker einer Kontrolle, damit man alles in gehöriger Weise bei ihnen finden könne, denn nicht immer führten sie von allem das Beste. Ja so manches, angeblich aus fernen Zonen stammende kostbare Kraut war oft gar „nicht weit her“. Einem dieser Leute wurde nachgewiesen, dass er nie andere Kräuter angewendet hatte als die, welche aus seinem eigenen Garten stammten; erst, wenn sie in die Büchsen kamen, erhielten sie ihre gelehrten Benennungen. Die Heilpflanzen, deren Kultur in Deutschland möglich war, und deren Bedarf nicht genügend durch wildwachsende Pflanzen gedeckt wurde, zog man in besonderen Apotheker- oder Kräutergärten. Ein englischer Apotheker, der zur Zeit Heinrichs IV. lebte, gestand, dass er in den letzten dreißig Jahren keinen echten Rhabarber mehr verkauft habe. Die wichtigsten Pestmittel des sechzehnten Jahrhunderts, die nach arabischem Rezept aus allem Erdenklichen zusammengebrauten Allheilstoffe Mithridat und Theriak, mussten von den Apothekern unter öffentlicher Aufsicht hergestellt werden, damit bei der Bereitung so wichtiger Heilmittel kein Betrug erfolgen konnte. In Nürnberg bestand diese Einrichtung schon 1442. Sie wurde von Ratsverordneten und Ärzten gemeinsam ausgeführt. Eine Nürnberger Apothekerverordnung aus dem fünfzehnten Jahrhundert verbietet den Apothekern, die wichtigsten Arzneien, die in der Apotheke aufbewahrt werden, mit irgendetwas zu vermischen, es sei denn, dass die, denen es zusteht, ihre Zustimmung geben. Für fehlende Arzneien durften keine anderen genommen werden, sondern der Apotheker war, wie schon 1387 in Konstanz, gehalten, die vorgeschriebenen Arzneien zu beschaffen.

Als der Seeverkehr sich immer bedeutender gestaltete und durch die Eisenbahnen Verbindungen mit weitentlegenen Ländern herbeigeführt wurden, kam es wieder zu steigender Einfuhr fremder Drogen und Heilkräuter. Je mehr unser heimischer Boden zu landwirtschaftlichen Zwecken ausgenutzt wurde, desto mehr wurde er den wild wachsenden Pflanzen entzogen, und umso rascher ging der vorher da und dort noch betriebene Anbau von Heilpflanzen zurück. Da laut Arzneibuch den Apothekern in vielen Fällen die Verwendung wildwachsender Pflanzen vorgeschrieben war, weil durch Kultur gewisse Eigenschaften der Gewächse abgeschwächt werden, so war man auf das Einsammeln angewiesen. Leider verlor sich die Neigung dazu immer mehr. Trotzdem wurden vor dem Jahre 1914 bei uns in einigen Gegenden an Blättern des Roten Fingerhutes — Digitalis purpurea L. — noch größere Mengen eingebracht. Im badischen Odenwald brachte man es jährlich bis zu etwa 3.000 und in Vöhrenbach im Schwarzwald auf 5.000 Kilo; aus dem Harz gelangten etwa 100 Kilo nach Blankenburg und 2.500 Kilo nach Harlingerode; insgesamt 10.600 Kilo dieses wichtigen Heilstoffes, der insbesondere bei Herzleiden unentbehrlich ist. Doch ist das recht wenig, wenn man hört, welche Summen wir vor 1914 für die Einfuhr medizinischer Drogen an fremde Länder bezahlen mussten; Tunmann stellte fest, dass wir jährlich für mehr als zehn Millionen Mark vom Ausland bezogen. Nach dem jetzigen Tiefstand unseres entwerteten Geldes würden bei gleichem Bedarf wie in Friedenszeiten bedeutende Summen aus dem Lande gehen. Ein großer Teil dieses beklagenswerten Abflusses unseres Geldes in fremde Erdteile wäre zu ersparen gewesen, wenn man den Bedarf bei uns gedeckt hätte. Künftig aber sollte alles getan werden, um uns vor weiteren Verlusten zu bewahren, denn je größere Mengen an Drogen für große Summen eingeführt werden, umso höher müssten die Medizinen im Preise steigen. Kann die Sammeltätigkeit einheimischer Arzneipflanzen gesteigert werden, so behalten wir Geld im Lande und brauchen die Heilstoffe nicht so teuer zu bezahlen. Beides ist volkswirtschaftlich von großer Bedeutung. Die Preise für einheimisches Sammelgut sind hoch, so dass sich für manchen das Sammeln lohnend gestalten würde, umso mehr, da Wald und Flur Pflanzen genug bieten, die umsonst zu holen sind.

Nun wird man fragen: Was soll gesammelt werden, zu welcher Zeit, und wie muss man das Eingeheimste behandeln, dass sich willige Abnehmer finden? Da es sich um eine große Zahl von Pflanzen handelt, die gebraucht werden, und die Sammelzeit sich von April bis Oktober erstreckt und eben sowohl Blüten, Blütenstände, Sprossen, Kraut oder Blätter, Samen, Wurzeln, ganze Pflanzen und auch Rinden begehrt sind, wäre eine große Abhandlung nötig, um alles genau anzugeben. Das zu lesen würde ermüdend für jene Leser sein, die sich doch nicht dazu entschließen, an das Sammeln von Heilgewächsen und ihrer Teile zu denken. Die Redaktion ist jedoch gerne bereit, Anfragen zu beantworten, die aus Leserkreisen an den Verlag des „Buchs für Alle“ gelangen. Es gibt Merkblätter, auf denen nicht nur die gebräuchlichen Pflanzen abgebildet sind, um sie an ihrem Standort im Freien zu erkennen, auch textlich ist dabei angegeben, was und wann gesammelt werden soll, und in welcher Weise das Sammelgut zu behandeln ist, damit es Marktwert hat. Darüber können alle ernstlich zur Sammeltätigkeit entschlossenen Leser Auskünfte erhalten. Auch Firmen können angegeben werden, die als Käufer in Betracht kommen. In unserer Abteilung „Nützliches fürs Haus“ findet sich in diesem Heft ein Verzeichnis der im April und Mai einzuheimsenden Drogen, das an gleicher Stelle für die weiteren Monate fortgesetzt wird. Ausdrücklich sei betont, dass es sich hierbei um ein reinliches Geschäft handelt. Die Ermunterung zum Einbringen von Heilpflanzen erfolgt zunächst im Interesse künftiger Sammler, die sich ausschließlich zu ihrem persönlichen Vorteil, wie er von jedem Geschäft erwartet wird, betätigen sollen. Wer sich dann weitersagen kann, dass er Echt nur für sich selbst Gewinn erzielt hat, sondern auch noch dazu beizutragen vermochte, volkswirtschaftliche Werte schaffen zu helfen, dass uns als Volk das nötige Geld im Lande bleibt, wird gewiss auch darüber befriedigt sein dürfen.

Zuletzt sei noch ausdrücklich erwähnt, dass es sich bei unseren heimischen Pflanzen nicht um Heilersatzstoffe handelt, die nur deshalb angewendet werden sollen, und hoch im Preise stehen. In der heutigen Medizin erkennt man auf Grund pharmakologischer Untersuchungen und Prüfungen empfohlene pflanzliche Heilstoffe erst dann als solche an, wenn ihre Wirkung teils durch Erfahrung in Erkrankungsfällen, teils durch eingehende Tierversuche überzeugend festgestellt worden ist. Die Heilwirkung der als offizinell angesehenen Arzneigewächse beruht auf ihrem jeweiligen Gehalt an chemisch untersuchten und medizinisch-wirksamen Bestandteilen. Nicht wenige Pflanzen, die bei uns wild wachsen, haben wir nur deshalb vom Ausland bezogen, weil bei uns nicht genügende Mengen eingeheimst wurden. Möge das Sammeln heimischer Heilgewächse zum Nutzen einzelner und der allgemeinen Volkswohlfahrt künftig wieder mehr in Aufnahme kommen! Am besten würde allerdings das Sammeln heimischer Heilpflanzen gefördert werden, wenn es außerdem auch von dazu geeigneten Personen berufsmäßig ausgeübt würde.


Bibernelle, Steinbibernelle oder Bockspetersilie.
Schwarze Nieswurz oder Christrose.
Enzian, Bitterwurz oder Fieberwurz.
Engelswurz, Brustwurz oder Theriakwurzel.

Heilpflanzen, Bibernelle, Steinbibernelle oder Bockspetersilie

Heilpflanzen, Bibernelle, Steinbibernelle oder Bockspetersilie

Heilpflanzen, Engelswurz, Brustwurz oder Theriakwurzel

Heilpflanzen, Engelswurz, Brustwurz oder Theriakwurzel

Heilpflanzen, Schwarze Nieswurz oder Christrose

Heilpflanzen, Schwarze Nieswurz oder Christrose

Heilpflanzen, Kalmus oder Magenwurz

Heilpflanzen, Kalmus oder Magenwurz

Heilpflanzen, Enzian, Bitterwurz oder Fieberwurz

Heilpflanzen, Enzian, Bitterwurz oder Fieberwurz