Die italienische Plastik vom 15ten bis 18ten Jahrhundert

Geschichte der Kunst
Autor: Knapp, Fritz (1870-1938), Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: italienische Plastik, Renaissance, Modellierung, Niccolo Pisano, Giovanni Pisano, Arnulfo di Cambio, Andrea Orcagna, Lorenzo Ghiberti, Nanni die Banco, Filippo Brunelleschi
Zeiten, Epochen sind wie Menschen und Völker von einem Geist beseelt. Sie bilden ein organisches Ganze, haben Seele und Leben. Wenn wir ihnen näher treten und ins Auge schauen, begeistern wir uns für sie, lernen wir sie achten, ja lieben. Ihr Werden, Sein und Vergehen erscheint dem Getriebe der größten Geister verwandt, und diese von einer Kraft belebten Jahrhunderte sind feste Einheiten, haben eignes Wesen, eigne Entwicklung. Die Renaissance ist solch eine Gestalt von wunderbarer Größe. Ihr Lebensziel war die Befreiung des Menschen zur Selbständigkeit. Gegenüber dem Altruismus des Mittelalters, wo jeder sich ehrfurchtsvoll hohen Idealen ergab, wo niemand für sich etwas anderes galt oder gelten wollte, als treuer Diener einer überirdischen Weltanschauung zu sein, bedeutet die Renaissance die Erhebung der Individualität, die Erstarkung des eignen Ich. Die Scholastik wurde durch den Humanismus verdrängt. Es war ein gewaltiger Kampf zwischen zwei großen einander entgegengesetzten Lebensprinzipien, und es siegte die Persönlichkeit.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Vorrenaissance und die Gotik - Giovanni Pisano und Ghiberti.
I. Die Vorrenaissance und die Gotik

Die Renaissance, die Wiedergeburt der Antike — „la rinascita delle arti antiche“ hat die Zeit stolz sich selbst genannt — ist die Vorkämpferin der modernen Weltanschauung, der modernen Kunst. In der Antike hat sie das Ideal der neuen Zeit, die Selbständigkeit wiedergefunden. Jedenfalls musste jenes Wiedererwachen, das Sichbewusstwerden eignen Denkens und Fühlens mit wiedergewonnenen Rechten neue Forderungen aufstellen und neue Ideale bringen. In Italien waren es vorzüglich die bildenden Künste, in denen der neue Geist lebendig wurde. Und unter ihnen hat die Plastik die Führung übernommen, ja sie musste sie übernehmen. Denn als in Italien die ersten Regungen zu neuer Kunst begannen, war jederlei künstlerische Vorstellung abhanden gekommen. Es war eine Notwendigkeit, die ersten Begriffe der uns sichtbaren Dinge, die Erscheinung unseres eigenen Ichs zu plastischer Greifbarkeit wiederzugewinnen. Uns heutzutage ist die Plastik fremd geworden. Wir erfassen schwer nur die wunderbaren Werte einer von hoher Künstlerhand gebildeten Statue. Wir empfinden erst langsam das Überwältigende von Formenklarheit und Formenschönheit, von Größe der Erscheinung und Wucht der Bewegung.

Aber daneben dürfen wir die Bedeutung des Mittelalters, das der Renaissance den inneren Gehalt gegeben hat, nicht vergessen. Wenn in der Antike unser Begriff der Individualität und die künstlerische Auffassung sich bildete, so verdankt die Menschheit dem Mittelalter die Vertiefung der seelischen Empfindungen und Gefühle, die in der christlichen Religion in überreichem Maße geschah. Nur durch Erhöhung des inneren Gehaltes konnte sich die Renaissance aus der Antike frei erheben und die Grundlage zur Moderne bilden, der das Kunstwerk ein Spiegelbild der Persönlichkeit, eine Offenbarung der Seele ist. Wir werden sehen, wie grade das Trecento, das vierzehnte Jahrhundert, ein gewaltiges Kämpfen und Streiten reicher Gefühle und starken Willens brachte, wie mühsam und schwer in immer neuen Ansätzen sich die Renaissance erhob.

Tafel 1

Kanzel (Marmor; Barga bei Lucca). Es ist, als ob die Antike erst vollkommen untergehen und aus dem Sehfeld der Menschen verschwinden sollte, ehe in dem einstigen Lande glänzendster Pracht und großer Technik neues Leben erwachen, neue Kunst erstehen konnte. Dürftige Reste antiker Formanschauung werden durch starken byzantinischen Einfluss erdrückt. Es zeigt sich eine primitive Kunst, die das Relief ganz flächenhaft behandelt. Nirgends tritt eine Figur plastisch heraus; alles ist nur in die Fläche eingeritzt oder linear im Umriss ausgehauen, so daß sich nur zwei Flächen, die vordere und der Grund, nirgends jedoch Übergänge oder Modellierungen finden. Steife, eckige Bewegungen, geistloser Ausdruck, gänzlicher Mangel an Proportionsgefühl — und das zu einer Zeit (um 1230), als im Norden, in Frankreich wie in Deutschland, die Plastik schon einen gewaltigen Aufschwung genommen hatte. Aber all das Unheil, das die Völkerwanderungen, der ewige Zwiespalt zwischen Papst und Kaiser, die Kreuzzüge, endlich Streitigkeiten im Volk selbst — hie Guelf, hie Ghibellin — gebracht hatten, ließen eben nicht die der Friedenssonne bedürftige zarte Pflanze „Kunst“ wachsen und erblühen.

Im zwölften und Anfang des dreizehnten Jahrhunderts hatte sich an manchen Orten, besonders in Süditalien, da, wo der hochbegabte

Kaiser Friedrich II. in feiner geistiger Bildung und Begeisterung der Antike nachstrebte, eine freilich noch recht starre Renaissance gezeigt. Lebendig wurde es erst, als in Toskana ziemlich unerwartet ein Künstler auftrat, der voll Energie in rein künstlerischem Sinne die antike Formvorstellung wieder zu gewinnen suchte und den ersten Anstoß zu einer neuen großen Auffassung gab.

Tafel 2

Niccolo Pisano (1206-80), die Darbringung im Tempel (Marmorrelief an der Kanzel; Baptisterium, Pisa), von seiner berühmten Kanzel, die er 1260 vollendete, lässt im Vergleich mit den Reliefs des vorhergehenden Stückes große Fortschritte zu greifbarer klarer Vorstellung erkennen. Der Formen plastische Fülle, körperliche Schwere, weiche Rundung, ebenso der Schnitt und die Faltenlagen der Gewandung sind sichtlich der Antike nachgeahmt. Sogar genaue Imitationen lassen sich feststellen. Maria entspricht in Typus und Gewand wie dem über den Kopf gelegten Mantel einer antiken Figur im Campo santo zu Pisa. Rechts der bärtige Alte, den ein Knabe stützt, ist einer prachtvollen alten Marmorvase ebenda entnommen. Die fünf Reliefs an der Kanzel dieses ersten, aber, wie wir sehen werden, noch verfrühten Vorkämpfers für die Renaissance sind gewiss schon als Versuch einer plastischen Formbildung eine hohe Leistung. Indes zeigt sich nichts von antiker Klarheit der Silhouette oder deren Schönheit und Rhythmik. Die „klassischen“ Köpfe sind geistlos, an eine geschickte Gruppierung ist nicht zu denken. Eine neue Kunst lässt sich eben nicht in starrer Nachbildung einer anderen erzwingen. Dazu stand der Geist der Zeit dieser Auffassung durchaus hemmend entgegen. Niccolos Arbeit blieb ohne Fortsetzung und man kann höchstens von verfrühter Vor- oder Protorenaissance reden. Der Künstler fühlte das offenbar selbst und ergab sich bei seiner zweiten Kanzel, der im Dom zu Siena (1266—68), schon der Gotik.

Im Norden hatte längst das gewaltige Stürmen begonnen. Der wunderbaren Auflösung der menschlichen Gefühle in höchsten himmlischen Idealen war in der Kunst eine große Erhebung gefolgt. Die Architektur gab in ihrem alles überherrschenden Einheitsbau, der gotischen Kathedrale, wo alles sich dem System einfügt, ein prachtvolles Spiegelbild jener Zeit, wo Unterordnung das Individuum nicht aufkommen ließ. Nach Italien kam die Gotik mit ihrer fortreißenden Gewalt gerade, als man sich im Anschluss an die Antike zu eigner freier Kunst erheben wollte, als die Renaissance beginnen sollte. Denn dieser neuen Idealisierung der Lebensauffassung musste jene kalte äußerliche Formgebung, die sinnliche Schönheit der Antike lieblos, unchristlich erscheinen. Der inneren Seelenschönheit suchte man Ausdruck zu geben. Zwei geniale Meister, ein Plastiker sowohl wie ein Maler, haben in vollem Besitz der sprechenden Kraft ihrer Kunst wunderbare Schöpfungen höchster religiöser Erhebung geschaffen: der Bildhauer Giovanni Pisano und der Maler Giotto.

Giovanni Pisano (1250-1328).

Diesem Sohne Niccolos haben wir uns allein zuzuwenden, so sehr es auch hier wie überall einer Zusammenfügung aller Techniken, die doch nur äußerlich verschiedenartige Reflexe gleichen inneren Wesens sind, bedürfte, um den Gang der Entwicklung ganz zu verstehen. Bei den Trecentomeistern treten, so sehr sie sich der Gotik und ihren Manieren ergeben, schon Beziehungen und Vorahnungen zur Renaissance auf. Besonders Giovanni ist in gewissem Sinne bereits ein Künstler der Renaissance, ein moderner Meister, der seine eigne Natur und Leidenschaft, sein ganzes Ich im Kunstwerk offenbaren will.

Tafel 3

Der bethlehemitische Kindermord (Marmorrelief an der Kanzel; S. Andrea, Pistoja) ist ein glänzendes Beispiel seiner Eigenart aus bester Zeit (1301). Von der antikisierenden Manier Niccolos wollte er nichts wissen. Das feurige Aufflammen des persönlichen Idealismus forderte stärkeren Ausdruck, lebendigere Worte. Das wild Erregte, das leidenschaftlich Durchwühlte hat Giovanni verstanden wiederzugeben, wie unser Stück zeigt. Ein buntes Durcheinander, die rasende Wut der Mörder, das innige Flehen der Frauen und Männer, jede Gestalt voll heftiger Erregung, äußerst intensiv jedes innere Empfinden, durchaus dramatisch die Szene erfasst. Das geistige Moment ist absolut beherrschend.

Immer wenn der Künstler zu stärkerer Konzentration der Stimmungen und Gefühle gezwungen wurde, wenn er in Einzelfiguren machtvolle Ideale festhalten sollte, dann war er der große Plastiker, der geniale Sohn seines Vaters. Die linke Heiligengestalt lässt in dieser Ansicht eigentlich nur das Vorherrschen gotischer Motive erkennen, in dem überreichen Faltengebilde, der Behandlung der Haare, der Hände u. a. Wie viel hinreißender wirkt der Engel rechts, das Evangelistensymbol des Matthäus. In dem begeisterten Aufblicken zum Himmel ein aus innigster Seele klingendes Aufjubeln; wunderbar die seelische Verklärung, künstlerisch fein die geistvolle Linienführung und die rhythmische Gliederung der Gewandung. Eine Gestalt voll tiefer Andacht, dazu von außergewöhnlichem Reichtum plastischer Motive. Man beobachte die sichere Zeichnung, die starke Haltung der Figur, den lebendigen Ausdruck des Gesichtes, und man wird eine hohe Vergeistigung der Bildungen Niccolos finden.

Tafel 4

Die Anbetung der Könige (Marmorrelief von einer Kanzel; Museum, Pisa), für den Dom zu Pisa gearbeitet (bis 1311), zeigt, wie Giovanni seine Leidenschaften und Launen allzuweit vorherrschen ließ. Das Relief entwickelt sich da zu einem malerischen Stimmungsbild, fern von jeder plastischen Bestimmtheit. Verschiedene Szenen sind auf einem Relief nebeneinander in der erzählenden Manier des Mittelalters gegeben. Äußerst kühn die drei Könige, wie sie gerade an einer scharfen Wendung des Weges umbiegen, voller Leben die Bewegungen und Gesten, der Ausdruck im Gesicht. Diese drei Könige kehren in starker Erregung auf der Szene rechts oben vor der Mutter Gottes wieder. Das Stück ist in äußerstem Hochrelief auf einer leicht gerundeten Platte gearbeitet und will aus der Ferne gesehen sein. Dereinst hat gewiss Bemalung die Wirkung noch gesteigert. Es ist kein Zweifel: der Plastiker Giovanni Pisano hat malerische Effekte erstrebt. Bei seiner genialen Begabung können wir nur hohe Absicht erwarten. Dass er weit über die Grenzen seiner Kunst griff, entsprang nur der Unruhe seines Temperamentes. Wunderbar erscheint uns die Intensität seines Geistes, mit der er sein subjektives Empfinden im Kunstwerk lebendig und groß aufleben ließ.

Tafel 5

Zwei Propheten (Marmor; Domfassade, Siena), entstanden vor 1298, Tafel 5 bringen noch das absolute Sichergehen des genialen Künstlers in gotischer Auffassung. Er, der zugleich in Siena die schönste gotische Domfassade Italiens errichtet hat, gibt hier zwei Gestalten in reicher Gewandung, deren Falten, diagonal laufend, den Körperbau vollkommen verdecken. Dabei ist die leidenschaftliche Unruhe zum äußersten in der Bewegtheit der mühselig aus dem Faltenschwall hervordringenden Hände und in den charaktervollen Gesichtern gebildet. Hervorragend ist der vorwärtsgestreckte Kopf mit den lebendigen Augen und dem sprechenden Mund des rechten Propheten, des Daniel. Weitblickendes Schauen, seherische Erregung, die ganze innere Gedankenwelt der Propheten wird mit großen Zügen in mächtigen Gestalten verkörpert. Innerer Gehalt macht die äußere Form groß, das Hässliche schön und monumental.

Tafel 6

Zwei Sibyllen (Marmor; Berlin), zeigen, wie Giovanni sogar plastische Probleme aufstellte. Sitzende Figuren hatte schon sein Vater an der Kanzel zu Siena gegeben; sie aber und ihre lebendigen Bewegungen, die geistvollen Variationen der Haltung zu sprechendem Ausdruck innerer Gefühle zu machen, das hat erst Giovanni vermocht. Die Gewandung ist ein dünnfaltiges Unterkleid mit Gürtung auf einem kräftigen Körper; der Mantel, über den Kopf nach unten fallend, ist über den Knien zusammengenommen. Einige gotische Motive wirken in der plastischen und stofflichen Bildung fast modern. Inder Durchbildung der Details flüchtig, aber genial in der Art, wie er durch verschiedenfache Bewegung jedwede Erregung in den Gestalten lebendig werden lässt. Er bringt immer neue Motive, bei der einen Sibylle (a) ein nachdenklich sinnendes Lauschen auf die Worte des Engels. Der rechte Fuß ist hochgestellt, damit der daraufgestützte Arm und die Hand den gedankenschweren Kopf halten können. Die andere Figur (b), wie jene sicher dereinst für die Kanzel in Pisa bestimmt, zeigt noch reichere Behandlung. Die Füße, wie der sich neigende Körper nach rechts gewendet, der Kopf in entgegengesetzter Richtung zu scharfem Profil nach links zurückgedreht — als Ausdruck momentanen Aufschreckens. Widerspruchsvoll ist der Linienzug, die verschiedenen Körperteile bewegen sich gegeneinander: das ist der Kontrapost, den der größte aller Meister, Michelangelo, später zum Ausdruck verschiedenfachster Empfindungen, zartester Sentimente wie gewaltigster Kraft verwertet hat. Giovanni Pisanos Sibyllen sind die idealen Vorbilder, die Ahnen der Propheten und Sibyllen in Michelangelos Deckengemälde der sixtinischen Kapelle.

Tafel 7

Maria mit dem Kinde (Marmor; Arenakirche, Padua) ist Giovannis höchste plastische Leistung unter den verschiedenen Madonnen, die er geschaffen. Die der ganz frühen Zeit haben noch antikisierende Gewandung. Davon ist hier nichts mehr zu spüren. In dieser kraftvollen Gestalt konzentriert sich der energische großartige Geist des Künstlers. Alle Mittel sind nur da zur deutlichen Aussprache eigener individueller Empfindungen : die wunderbare Belebung des Marmorblockes, diese Energie der Linienführung und der Haltung, diese hinreißende Lebendigkeit. Man erkennt, daß alle Größe, alle schöpferische Tat allein der genialen Macht der Persönlichkeit entstammt. Was wollen Zeiten und ihre Ziele, Motive und Techniken, wenn nicht ein mächtiger Lenker sie gestaltet. Die stehende Mutter Gottes, dies jahrtausendelang immer wiederholte Motiv, wie ist sie hier gebildet: eine langgestreckte Gestalt voll Hoheit und Leidenschaft. Die Rechte hält den Mantel, dessen starke Vertikalen von unten her mächtig emporstreben ; ein gewaltiger Schwung nach oben, nur durch den hohen Gürtel unterbrochen. Die Tiefe der Erregung wird lebendig in der Profilstellung von Mutter und Kind, die sich einander tief in die Augen schauen. Die Herbheit der Auffassung ist durchaus individuell. Der Körper der Maria ist fest und plastisch. Das Kindchen auf ihrem linken Arm scheint physisch schwer zu sein und sie zu der eigenartig gebogenen Stellung zu zwingen. Dazu der Kopf der Maria: voll Kraft und Energie, plastisch und rund gebildet entgegen den üblichen zierlichen gotischen Köpfchen. Inhalt und Form sind innigst verquickt miteinander, der Körper ist vollständig durchbebt von dem Temperament des Künstlers. Michelangelo hat keinen ihm näher verwandten Geist zum Vorbild gehabt als diesen Giovanni Pisano.

Arnulfo di Cambio (1232-1301), Grabmal des Kardinals de Braye (†1282) (Marmor und Mosaik; S. Domenico, Orvieto). Dieser Arnulfo, der einzige Künstler, der Niccolos Weise nachstrebte, hat nach großartiger, antikisierender Gestaltung gesucht. Im Aufbau gibt er das erste Beispiel des hohen Wandgrabes, das sich in der Renaissance glänzend weiter entwickelt hat. In der Formgebung der Gestalten schließt er sich ganz an Niccolo an. Die Madonna oben in der Nische erscheint in ihrer Rundung und Schwere, in der Ruhe der Haltung wie eine unmittelbare Nachbildung der Antike. Auch die Petrusfigur links neben dem knienden Kardinal ist großartig gebildet. Der Tote selbst ist im Gesicht charaktervoll durchgearbeitet. Gotisch erscheinen nur die zwei den Vorhang zurückziehenden Chorknaben. Der bunte Mosaikschmuck geht auf frühmittelalterliche, spätantike Manier zurück. Auch Arnulfo hat in späteren Arbeiten — so an zwei Ciborien in Rom — gotische Formen angenommen. Niccolos Kunst ging ohne Erfolg dahin und auch Giovannis Weise vermochte in ihrer stark individuellen leidenschaftlichen Art keine Fortsetzung zu finden.

Der Maler Giotto, der auch Bildhauer war, ist der Führer des Trecento geworden. Seine abgeklärte Auffassung und besonders seine reiche Erzählungsgabe entsprach der Zeit der Bettelmönche: sie brachte in der Malerei das Emporwachsen des Fresko, d. h. der Wandmalerei, in der Plastik das Vorherrschen des Reliefs. Ein Schüler Giottos übernimmt die Führung in diesem Sinne: Andrea Pisano (1280-1308). Wie sein Lehrer hat er die Antike studiert und von ihr sich feine lineare Reliefbildung angeeignet. Sein Hauptwerk ist die erste der drei Bronzetüren am Baptisterium zu Florenz.

Tafel 9

Andrea Pisano, Visitation (a), Geburt des Johannes (b), (Bronze; Südtür am Baptisterium, Florenz). Eine zarte Vereinigung antiker Schönheit und gotischen Feingefühls macht eine künstlerische Schönheit aus. Äußerste Delikatesse der Bildung, zarteste Abstimmung der Empfindung zeigt die Visitation (a). Die Szene ist möglichst vereinfacht, rechts ein Tor, links eine Nebenfigur. Alle Erregung ist gedämpft. Der feine Linienfluss der Gewänder und der klaren Umrisse vor dem glatten Grund hat etwas von klassischer Ruhe, von antikisierender Rhythmik. Weniger gelungen ist die Geburt des Johannes (b), wo sich die Schwächen seiner Kunst offenbaren. Auf dem ersteren Relief zeigt er ein sehr weitgehendes Feingefühl für lineare Schönheit und für die Verteilung der Figuren auf der Fläche. Das bedeutet seine Größe. Hier soll er ein Tiefenbild geben: sein Können versagt. Maria gibt er in der Obersicht; wie in drei Stockwerken verteilen sich die Figuren übereinander. Mancher Reiz findet sich an einzelnen Figuren, aber es tritt doch deutlich hervor, daß der Künstler nur zeichnerisch flache Figuren in einer Reihe zu geben vermochte. Er kennt nur den Umriss der Figuren und ihre Hauptansichten; daß dieselben jedoch dreidimensiale Formen sind und in Überschneidung und perspektivischer Wirkung einen Raum füllen, davon wusste er noch nichts.

Tafel 10

Andrea Orcagna (1308-68), die Geburt der Maria (Marmorrelief; Or San Michele, Florenz); vor 1359. Dieser Meister lässt mehr frischen Natursinn, ja sogar schon etwas von Raumgefühl erkennen. Auf dem Relief breitet sich vor uns ein Innenraum, verstärkt in der Wirkung durch den zurückgenommenen Vorhang und die Fenster im Hintergrund. Die Figuren, zwar allzu groß, stehen nicht nur an dem vorderen Rand, sondern sind ringsum in dem Raum verteilt. Aber die Bildung der Formen ist noch nicht plastisch, sie sind zeichnerisch flau gebildet. Gesichter und Gewandung sind weichlich, von gotischem Typus. Man muss darum den Charakter der Reliefs eher malerisch denn plastisch nennen. Orcagna ist eben noch Gotiker, dafür spricht auch die Beschränkung des Realismus auf Gesicht und Hände und die Vorliebe für genrehafte Motive.

Lorenzo Ghiberti (1381-1455).

Das Ende des Trecento naht. Die Malerei, die überquellende Lust an reicher Erzählung, der die Wandmalerei besser genügte, schien die Plastik zurückzudrängen. Indes am Beginn des Quattrocento, des fünfzehnten Jahrhunderts, wagt sich der neue widerspenstige Geist hervor, der ernste Auffassung und naturwahre Darstellung wollte. Das Kommende trat mit dem Dahinschwindenden in mächtigen Kampf, und zwar zum ersten Mal bei einer Konkurrenz (1402) für die zweite Bronzetür des Baptisteriums, die Nordtür. Von zwei Meistern besitzen wir noch die Konkurrenzreliefs.

Tafel 11

Das eine hat Filippo Brunelleschi (1378—1446) geschaffen, der, nachdem er unterlegen, sich der Architektur zuwandte, dort der leitende Meister zu werden. Das andere ist von Lorenzo Ghiberti. Das Motiv der beiden Reliefs ist das Opfer Abrahams (Bronze; Bargello, Florenz). Deutlich treten hier die beiden divergierenden Richtungen hervor. Des ersteren Relief (a) enthält schon die beiden großen Grundmotive der Renaissance, den lebendigen, bis zur Schärfe klaren Realismus — Abraham wie aus Verzweiflung in toller Wut das Messer auf Isaak stoßend — und Anlehnungen an die Antike in durchs aus neuer reahstischer Weise: Hnks eine dem antiken Dornauszieher nachgebildete, aber ganz umgeformte Figur. Prächtige Einzelgestalten, aber von künstlerischer Gliederung und geschickter Verteilung ist nichts zu finden. Das Relief ist vollgestopft mit realistisch durchgebildeten, eckig bewegten Figuren.

Entgegengesetzte Eigenschaften, vorzüglich feinste kompositionelle Begabung entwickelt Ghiberti (b). Zwei Gruppen geschickt zusammengehalten zeigen sich uns. Nirgends etwas von Eckigkeit oder erregter Bewegung. Weiche Linienführung, feingebildete Figuren, freilich ohne Frische und Kraft neuen Lebens. Auch Ghiberti hat die Antike studiert, sich einen schönen Torso zum Vorbild für den Isaak gewählt, ihn zart gebildet, im Kontrast zu Brunelleschis eckiger Figur. Ghiberti siegte und führte die Tür aus mit zwanzig Darstellungen aus dem Leben Christi.

Tafel 12

Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (a), Fischzug Christi (b) (Bronze; Nordtür des Baptisteriums, Florenz), 1403—24 gearbeitet. Diese Reliefs offenbaren zur Genüge den Reichtum der Phantasie und die Empfindsamkeit Ghibertis. Die linke wild erregte Szene (a) ist schon als Komposition ein Meisterstück, d. h. in der Art, wie er die vielen davoneilenden Gestalten durch den lang hingestürzten Mann als Gruppe zusammenhält, wie er Christus allein für sich stellt, als Pendant, freilich etwas unwürdig erregt. Der Hintergrund gilt nur als leichte Folie. Hier liegen sicher Beziehungen zu Andrea Pisano und dessen Türreliefs vor. Anders sucht Ghiberti auf dem zweiten Relief (b) Christus allein als herrschende Hauptfigur für sich, Petrus und die Jünger im Boot als Gegenstücke hinzustellen. Die fein gedachte Komposition ist nicht ganz gelungen. Jenen Massen das Gegengewicht zu halten, ist Christus zu körperlos. Es fehlt ihm wiederum die beherrschende Haltung. Aber wie die Jünger im Boot lebendig gruppiert sind und Mast und Segel schräg gestellt, wie die Hauptlinien auf Christus und Petrus leiten, das ist ausgezeichnet. Geistvolle Eleganz der Linienführung ist Ghibertis Größe. Er neigte sich dabei mehr und mehr dem Wesen der Malerei zu.

Tafel 13

Die „Paradiesespforte“ (Bronze; Ostseite des Baptisteriums, Florenz) ist sein immer bewundertes Meisterwerk, an dem er bis zur Mitte des Quattrocento arbeitete (1425—52). Die geschickte Behandlung und feine Gliederung der acht Darstellungen, von denen jede verschiedene Szenen aus dem Alten Testament enthält, ferner die mit Ranken, kleinen Figuren und Köpfen überreich verzierte Umrahmung haben trotz der geraden Horizontalen und Vertikalen wenig Renaissanceartiges. Es ist ein eigenartiges Mittelstück zwischen Gotik und Hochrenaissance. Eine überströmende Phantasie ohnegleichen kommt zur Aussprache. Wir glauben glänzende Gemälde, Bilder in Bronze vor uns zu haben. In der reichen Überfülle der Erfindung, der Schönheit der Linienführung und Komposition, ferner in der prachtvollen, wenn auch noch wenig konsequenten Raumvertiefung treten diese Bilder in Beziehung zur Hochrenaissance. Sie erscheinen in der genialen Gruppierung und Gliederung der Massen wie geistvolle Vorbilder zu den Stanzenfresken Raffaels. Die charaktervolle Durchbildung der Einzelfigur stand beiden ferner.

Tafel 14

Die Geschichte Esaus und Jakobs (Bronzerelief; Osttür am Baptisterium, Florenz). Verschiedene Szenen sind gegeben, links die Geburt, dann Isaak mit Esau sprechend, rechts Jakob segnend u. a. Demnach trotz der einheitlichen Raumgestaltung — vor einem hohen Hallenbau spielt sich alles ab — doch vielfache Erzählungen auf einerTafel. Die große künstlerische Einheit ist noch nicht gewonnen. Der Künstler entfaltet hier alle Reize seiner Kunst. Wie graziös und fein die im leichten Schwünge sich drehende Gruppe der Frauen links, wie elegant bewegt sich die Rückenfigur Esaus, zu dem der Vater überredend spricht. Der Gruppe Isaaks mit dem knienden Jakob fügt sich eine Gestalt bei, die nach einer römischen Statue (der sogenannten Thusnelda, jetzt in der Loggia de' Lanzi) kopiert ist. Antike Vorbilder formt er jedoch immer zu zarter gotischer Eleganz um. Leicht fügt sich Gruppe an Gruppe. Eine durchs laufende Diagonale, von links vorn nach rechts hinten durch die Figuren laufend, gibt dem Aufbau einen großen Halt. Die leicht beschwingten Bogen der Architektur erhöhen den luftigen Reiz des „Bildes in Bronze“. Auch die Nischenfiguren rechts und links sind zueinandergestimmt. Die eine schaut lesend ernst nach unten, die andere erhebt jubelnd in leichtem Schwung den Blick nach oben. Der kahlköpfige Alte rechts ist das Selbstporträt des Meisters. Nirgends offenbart der Künstler ein energisches Ergreifen der plastischen Gestalt; alles ist noch umhüllt von dem leichten Hauch idealer Phantasie.

Tafel 15

Der Evangelist Matthäus (Bronze; Or San Michele, Florenz), 1420 vollendet, vermag uns trotz der außergewöhnlich würdevollen Haltung neben Donatellos Figuren an gleichem Orte nicht zu begeistern. Das ist noch echte Gotik. Die Figur, dürr und körperlos, verschwindet unter den feinen Faltenlagen des Gewandes, bei dem schwungvolle, elegante Motive zu fast posierter Haltung und Bewegung verwendet werden. Nur im Kopf lebt großer Ausdruck, tiefe Empfindung auf.

Tafel 16

Nanni di Banco (1373-1420), der heilige Philippus (Bronze; Or San Michele, Florenz), um 1408 ausgeführt, bildet ein glänzendes Kontraststück: schwere Form und antiker Geist entgegen Ghibertis leichtem Linienfluß und gotischer Zartheit. Eine untersetzte Gestalt; die dicken Falten des Gewandes, des Mantels fügen sich den Formen und Bewegungen des Körpers. Der Kopf ist kräftig gebildet, aber ohne lebendigen Ausdruck. Diese sklavische Unterordnung unter antike Vorbilder, die unpersönliche Nachahmung der Antike hat uns veranlaßt, den Meister noch in das Kapitel der Vorboten der Renaissance einzuordnen. Seine Werke weisen deutlich auf das Kommende.

Die Protorenaissance war verfrüht gekommen, die Gotik hatte, vom Norden her eindringend, die Entwicklung gehindert. Ein schwärmerisches Dichten und Denken, ein phantastisches Bilden und Malen lebte in innigster, idealster Begeisterung auf. Die Kunst war wieder in den Dienst der Kirche getreten. Religiöse Erzählungen möglichst lebendig zu geben, war die Aufgabe der Kunst im Trecento und mit Ghiberti sogar bis in das Quattrocento. Mit dem neuen Jahrhundert begann eine starke Opposition. Aber wo sollte sie angreifen? Offenbar war es vorzüglich gesunder Menschenverstand, der nach schlichter Naturnachbildung verlangte, der erregten Auffassung der Gotik überdrüssig. Man griff im ersten Moment zur Antike, schon um die Technik wieder zu kräftigen. Der Unwille gegen alle zeremoniellen Fesseln und Unwahrheiten ließ den Menschen sich wieder auf sich selbst besinnen. Ein gewaltiger Genius musste kommen, neue Ziele zu stellen. Mit ihm kam die Renaissance.

1. Toskanisch, 1250, Kanzel, Barga
2. Niccolo Pisano, Darbringung, Baptist., Pisa
3. Giov. Pisano, Kindermord, S. Andrea, Pistoja
4. Giov. Pisano, Anbetung der Könige, Mus., Pisa
5. Giov. Pisano, Zwei Propheten, Dom, Siena
6. Giov. Pisano, Zwei Sibyllen, Berlin
7. Giov. Pisano, Madonna, Arena, Padua
8. Arnulfo di Cambio, Grabmal de Braye, Orviefo
9. Andrea Pisano, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz
10. Orcagna, Geburt, Or San Michele, Florenz
11. Brunelleschi, Ghiberti, Opf. Abrah., Barg., Florenz
12. Ghiberti, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz
13. Ghiberti, Paradiesespforte, ebenda
14. Ghiberti, Geschichte Esaus und Jakobs, ebenda
15. Ghiberti, Matthäus, Or San Michele, Florenz
16. Nanni di Banco, III. Philippus, ebenda

001. Toskanisch, 1250, Kanzel, Barga

001. Toskanisch, 1250, Kanzel, Barga

002. Niccolo Pisano, Darbringung, Baptist., Pisa

002. Niccolo Pisano, Darbringung, Baptist., Pisa

003. Giov. Pisano, Kindermord, S. Andrea, Pistoja

003. Giov. Pisano, Kindermord, S. Andrea, Pistoja

004. Giov. Pisano, Anbetung der Könige, Mus., Pisa

004. Giov. Pisano, Anbetung der Könige, Mus., Pisa

005. Giov. Pisano, Zwei Propheten, Dom, Siena

005. Giov. Pisano, Zwei Propheten, Dom, Siena

006. Giov. Pisano, Zwei Sibyllen, Berlin

006. Giov. Pisano, Zwei Sibyllen, Berlin

007. Giov. Pisano, Madonna, Arena, Padua

007. Giov. Pisano, Madonna, Arena, Padua

008. Arnulfo di Cambio, Grabmal de Braye, Orviefo

008. Arnulfo di Cambio, Grabmal de Braye, Orviefo

009. Andrea Pisano, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz

009. Andrea Pisano, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz

010. Orcagna, Geburt, Or San Michele, Florenz

010. Orcagna, Geburt, Or San Michele, Florenz

011. Brunelleschi, Ghiberti, Opf. Abrah., Barg., Florenz

011. Brunelleschi, Ghiberti, Opf. Abrah., Barg., Florenz

012. Ghiberti, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz

012. Ghiberti, Zwei Reliefs, Baptisterium, Florenz

013. Ghiberti, Paradiesespforte, ebenda

013. Ghiberti, Paradiesespforte, ebenda

014. Ghiberti, Geschichte Esaus und Jakobs, ebenda

014. Ghiberti, Geschichte Esaus und Jakobs, ebenda

015. Ghiberti, Matthäus, Or San Michele, Florenz

015. Ghiberti, Matthäus, Or San Michele, Florenz

016. Nanni di Banco, III. Philippus, ebenda

016. Nanni di Banco, III. Philippus, ebenda