Die großen Feuersbrünste in Russland 1879

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 20. 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Sibirien, Waldbrände, Stadtbrände, Feuersbrünste, Abgebrannte, Brandschäden, St. Petersburg, Orenburg, Perm, Brandstiftung,
Vom April bis Juli 1879 schienen in Russland die Feuersbrünste gleichsam epidemisch geworden zu sein, und diese sich unausgesetzt wiederholenden Unglücksfälle versetzten die gesamte Bevölkerung in Angst und Schrecken. Da gleichzeitig in verschiedenen Gegenden des Reiches die nihilistische Partei eine ganze Folge von verbrecherischen Attentaten verübte und überall durch ihre Organe die ihr missliebigen Persönlichkeiten bedrohen ließ, lag es nahe, derselben auch diese Feuersbrünste zuzuschreiben. Wohl finden alljährlich in Russland in Folge der häufig herrschenden Dürre, wie der Unachtsamkeit der Bevölkerung und der vielfach höchst mangelhaften Löschanstalten zahlreiche Feuersbrünste statt, indes; ist dies doch noch nie in so kolossalem Maßstabe wie während jener Zeit der Fall gewesen und außerdem ist bei einer außerordentlich großen Zahl der in die oben erwähnte Periode fallenden Riesenbrände die Brandstiftung tatsächlich nachgewiesen, so dass z. B. im Juni allein auf 3.501 Brände im ganzen Reich 508 erwiesenermaßen angelegte kamen, wobei es freilich nur in seltenen Fällen gelang, die Verbrecher zu überführen und zur Strafe zu ziehen.

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Schon aus räumlichen Rücksichten können wir nicht alle Brände jener Zeit hier auszählen und begnügen uns daher damit, einige der erheblichsten hervorzuheben. So brannte die Stadt Orenburg am Ural am 28. April und darauf abermals am 14. Mai, Irbit im Gouvernement Perm sogar dreimal, am 9., 13. und 14. Akai, Nischni-Uralsk am 11. und 16. Mai. Ebenfalls im Mai wurden die Städte Petropawlowsk in Sibirien, Grojez und Possad Aistow, beide im Gouvernement Warschau, und eine große Anzahl von Dörfern von den Flammen verheert. Die Brände im Juni haben wir bereits oben erwähnt; im Juli brach mehrmals in Petersburg und Moskau Feuer aus, das aber bald gelöscht wurde, in der Nacht vom 2. zum 3. Juli ergriff eine Feuersbrunst die Stadt Siedlec, am 20. Juli brannten viele Marktbuden zu Nischnei-Nowgorod nieder, die Stadt Lodz hatte 3 Brände zu verzeichnen und Irkutsk in Sibirien brannte in zwei Feuersbrünsten zum großen Teil nieder. Unser Bild auf S. 181 gibt eine Ansicht der brennenden Stadt nach dem Ausbruche der zweiten Feuersbrunst und lassen wir daher einige weitere Details darüber folgen. Irkutsk ist mit seinen 28.000 Einwohnern die größte Stadt Sibiriens, bildet die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements, die Residenz des General-Gouverneurs von Ost-Sibirien und liegt am Einfluss der Angara und Utschakowka in den breiten und reißenden Irkutsk. Es hatte eine prächtige Kathedrale, zahlreiche andere Kirchen und hervorragende Bauten, breite Straßen mit großartigen Läden und eine meist wohlhabende und regsame Bevölkerung, da die Stadt den Mittelpunkt des Handels zwischen den Ostküsten Asiens und St. Petersburg bildet und namentlich der Hauptstapelplatz für Pelzwaren und Tee ist. Am 4. Juli 1879 brach dort der erste Brand aus, der sich sofort als angelegt erwies, da das Feuer gleichzeitig im Mittelpunkte der Stadt und an mehreren Stellen in den Vorstädten emporloderten; es äscherte gegen 200 Häuser in den verschiedenen Stadtteilen ein und mehrere Menschen verunglückten dabei. Kaum aber hatten sich die Bewohner von ihrem Schrecken erholt, als am 6. Juli um Mittag bei heftigem Sturm ein nochmaliger und viel furchtbarerer Brand entstand, der sich ungeachtet der außerordentlichsten Anstrengungen des Löschkommandos wie der Einwohner selbst nach allen Seiten hinausbreitete, drei Tage hindurch wütete und einen großen Teil der Stadt in Asche legte. Es brannten vollständig nieder 5 russische, die katholische und die lutherische Kirche, das Gouvernements-Regierungsgebäude nebst der Druckerei, der Kameralhof, das Zollamt, die Hauptwache, die Telegraphenstation, das Postamt, das Gymnasium, mehrere Schulen, alle drei Banken n. s. w., kurzum fast alle bedeutenderen Gebäude, im Ganzen gegen 3.400 Häuser, so dass die Hälfte der Stadt, und zwar gerade die bessere, vollständig in Ruinen liegt. Unser Bild zeigt uns das grausig schöne Schauspiel der verheerenden Feuersbrunst, um 1l Uhr Abends am 6. Juli von einer Anhöhe am Ufer der Utschakowka her aufgenommen. Die Einwohner flüchteten mit der geretteten Habe aus der brennenden Stadt, aber gegen 60 Personen, meist Kinder, fanden den Tod. Die Verluste der Privatpersonen und der Assekuranzgesellschaften waren ungeheuer, das Elend gewaltig, trotzdem sofort von Seiten der Regierung umfassende Maßregeln zur Versorgung und Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Abgebrannten getroffen wurden und Kaiser Alexander aus seiner Privatschatulle 20.000 Rubel für dieselben überwies. Es wurde eine strenge und eingehende Untersuchung eingeleitet, doch hat dieselbe, wie in den meisten übrigen Fällen, keine bestimmen Resultate geliefert; erst nachdem in dem ganzen Reich eingreifende Vorkehrungen zur Unterdrückung des Nihilismus*) durchgeführt worden waren, hörten diese furchtbaren Feuersbrünste auf, nachdem sie eine ganze Reihe blühender Städte und Ortschaften in Trümmerstätten verwandelt hatten.

*) Nihilismus bezeichnet einerseits allgemein eine Weltsicht, die die Gültigkeit jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung verneint.

Der zweite Brand der Stadt Irkutsk in Sibirien

Der zweite Brand der Stadt Irkutsk in Sibirien