Die größten Wasserfälle der Welt

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Ernst von Hesse-Wartegg, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wasserfälle, Südamerika, Brasilien, Paraguay, Argentinien, Rio de Janeiro, Regenzeit, Tropen, Urwald, Natur, Tierwelt,
Am 2l. Februar 1926 sind fünfundsiebzig Jahre vergangen, seit einer der glänzendsten Reiseschriftsteller unserer Zeit, der im Weltkrieg gestorbene Geheime Hofrat Ernst von Hesse-Wartegg, in Wien das Licht der Welt erblickte. Ein beneidenswertes Schicksal ermöglichte es ihm, die ganze Welt mit ihrer Schönheit und ihren Wundern kennenzulernen, und was er auf seinen weiten Reisen in sich aufnahm, verstand er so anschaulich, so bildhaft, so farbenfroh und lebendig zu schildern, dass seine Darstellungen wie farbige Filme an den Lesern vorüberziehen. Aber er sah nicht nur die Oberfläche, sondern er besaß auch die glückliche Gabe des tieferen Schauens; das alles hat seinen Werken einen so hohen Wert verliehen, dass sie ihn lange überleben werden. Seine „Wunder der Welt“, aus denen wir aus Anlass des Gedenktags nachstehend unseren Lesern eine Probe seiner Schilderungskunst geben, sind eine Sammlung der hervorragendsten Naturschöpfungen und der staunenswerten Menschenwerke aller Zeiten und Länder. Wer sich in diese Wunderwelt vertiefen will, dem sei das von der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart Herausgegebene Werk Hesse-Warteggs warm empfohlen.

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Im Herzen von Südamerika, an der Stelle, wo die Grenzen der drei Republiken Brasilien, Paraguay und Argentinien einander treffen, liegen die Fälle des Iguassu, die sogar jene des afrikanischen Sambesi an Ausdehnung, Großartigkeit und vor allem an wilder Schönheit weitaus in den Schatten stellen. Sie hätten auch schon längst den ihnen gebührenden Weltruf erlangt, wenn sie nicht so schwer zugänglich wären. Der Iguassu ist ein Nebenfluss eines der bedeutendsten Ströme der Erde, des dreieinhalbtausend Kilometer langen Paraná, dessen Quelläufe von den Küstengebirgen unweit Rio de Janeiro, der Hauptstadt Brasiliens, herabkommen. Er selbst stürzt von der Hochebene dieses Landes in einem der großartigsten Wasserfälle, dem Guaira, in die tiefe Schlucht, die er sich von der Grenze Paraguays an gegraben hat - und alle seine Nebenflüsse müssen daher ebenfalls über die steilen Schluchtenwände herab, um ihre Wasser mit jenen des Paraná zu vereinigen. Das ganze Gebiet ist also so reich an Wasserfällen wie kaum ein zweites, und der größte, schönste von ihnen ist jener des wasserreichen Iguassu. In der Regenzeit führt er nicht weniger als hundertvierzig Millionen Tonnen Wasser stündlich über Felswände von Jiebzig Meter Höhe, also die siebenfache Wassermenge des Niagara.

Auch der Iguassu entspringt nur unweit der Küste Brasiliens, bei der von zahlreichen Deutschen bewohnten Stadt Curityba, aber statt sich den nahen Weg durch die waldreichen Gebirge zur Atlantis zu bahnen, durcheilt er in raschem Lauf den Staat Paraná, um in der herrlichen, aller Beschreibung spottenden Tropenwelt des oberen Paranástromes in diesem aufzugehen.

Die Fahrt von der Hauptstadt Argentiniens, der glänzenden Millionenstadt Buenos Aires, nach der Tropenwildnis, in der das natürliche Amphitheater des Iguassu verborgen liegt, erfordert vier bis sechs Tage Zeit. Bis zur Mündung des großen Paraguaystromes in den Paraná gute Postdampfer, doch erst jenseits Corrientes, auf dem mittleren Paraná wird die Flussfahrt interessant. An den Ufern zeigen sich schon viele Krokodile, die weiter nördlich die Flussläufe massenhaft bevölkern, in den Bäumen spielen muntere Affen, Papageien beleben die Lüfte, riesige Goldfische, die Dorados, das Wasser. Die spärlichen Ansiedlungen werden von Menschen bewohnt, denen man vielfach die Vermischung mit Indianerblut ansieht und die das wohlklingende Guarani, die Hauptverkehrssprache weiter Gebiete in den südamerikanischen Tropen, sprechen; in den ausgedehnten Urwäldern hausen noch immer Indianer. Der Endpunkt der regelmäßigen Dampferfahrt auf dem Paraná ist Posadas, die Hauptstadt des Territoriums Misiones. Der Name erinnert an die vielen Missionen des Jesuitenordens, der hier im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert einen eigenen Staat gegründet und die indianischen Stämme dem Christentum und der Kultur zugeführt hat. Im achtzehnten Jahrhundert wurden die vielen, zum Teil herrlichen Kirchen und Klöster, die Schulen und Ansiedlungen von den Spaniern und Portugiesen zerstört, die Ordensleute vertrieben, die Indianer wieder in den Urwald zurückgedrängt, wo noch heute großartige Ruinen, von der üppigen Tropenvegetation überwuchert und zersprengt, Zeugnis ablegen von dem Kulturwerk des Ordens. An die Stelle der längst wieder im Tropendschungel untergegangenen Straßen und Wege ist eine Eisenbahn getreten, die von Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay, quer durch dieses Land an seine Südgrenze, also an den Paraná, führt, der kleinen Stadt Posadas gerade gegenüber. Der Strom hat hier immer noch eine Breite von mehr als zwei Kilometer.

Das ganze Gebiet von Misiones wird mit Recht als das Paradies von Argentinien bezeichnet. Die Schönheit der Tropenwelt, wie sie mich hier entzückte, habe ich an keiner anderen zugänglichen Stelle des südamerikanischen Kontinents wiedergefunden. Was sich hier an den seltensten Riesenbäumen des tropischen Urwalds, an zarten Farnbäumen, an den herrlichsten Orchideen und Bromeliazeen, an Lianen und Parasiten zusammen drängt, ineinander verschlingt, einander durchdringt; was hier an merkwürdigstem Tierleben haust, von den Königen des Urwaldes, den Pumas, und jenen des Wassers, den Krokodilen, bis zu handgroßen Spinnen und seltsamem Gewürm, würde für sich schon ganze botanische und zoologische Gärten bilden; was es hier für Berge und Schluchten, für Abstürze, Felstürme, Flussläufe und Wasserfälle, große Amphitheater der Natur mit ewig wechselnden Schauspielen, gibt, würde allein schon hinreichen, um die beschwerliche Reise lohnend zu machen. Es ist nicht, wie am Sambesi, das Schauspiel der Fälle allein, dass den Besucher fesselt, es ist die ganze überwältigende Tropennatur, in der der Reisende wie in einem Märchenlande, auf einem anderen Planeten, weit weg von unserer Mutter Erde zu weilen und zu träumen scheint. Nur das kleine Dampferchen verknüpft ihn wie mit einem dünnen, leicht zerreißbaren Faden mit der Kultur, nur die wenigen Menschen, die kleinen spärlichen Hütten, die er an den lauschigen, düsteren, träumerischen Ufern antrifft, erinnern ihn an die Wirtlichkeit. In fortwährendem Staunen über die sich allerorts aufdrängenden Wunder dieses Tropenparadieses nähert man sich auf dem immer enger werdenden Strom zwischen den immer höher, immer steiler werdenden Ufern der Mündung des Iguassu und dem Örtchen Poujade oder Puerto Aguirre, wo die Ultima Thule der Flussschifffahrt ist. Aber eines der großartigsten aller Schauspiele auf Erden bietet sich dem Reisenden erst dar, wenn er auf der aus dem üppigen Urwald geschlagenen Lichtung – Weg kann man sie nicht nennen - aufwärts reitet, begleitet von dem fernen leisen, immer stärker werdenden Donner der Fälle. Die bequemere Route führt heute auf der argentinischen Seite aufwärts, obschon der größte und wasserreichste Fall auf der brasilianischen Seite liegt. Für ungefähr einhundertzwanzig Kilometer oberhalb der Fälle bildet der wasserreiche und auch schiffbare Iguassu die Grenze zwischen diesen beiden größten Staaten Südamerikas, ähnlich wie sein Seitenstück, der Niagarastrom, die Grenze zwischen den beiden größten Ländern Nordamerikas bildet. Wie dort, wird auch hier der Fluss immer reißen schnellen und kleinen Kaskaden zerrissen, durch zahllose kleine Felseninselchen in kleinere Kanäle geteilt, in denen sich die Wassermassen endlich in wütendem Laufe durchzwängen, um den „Salto“, den großen Sprung in den tiefen Abgrund, zu erreichen. Wie beim kanadischen Niagarafall hat sich auch hier der Iguassu auf der brasilianischen Seite im Laufe der Zeiten einen hufeisenförmigen Kessel aus den harten Felsen gewaschen, wie dort tanzen die in weißen Gischt aufgelösten Fluten in gewaltigem Bogen über die Felsbank hinweg, um siebzig Meter tief das untere Flussbett zu erreichen und dem Paraná zuzueilen. Ein Felsturm hat indessen in dem Äonen währenden Kampfe mitten in dem Hufeisen standgehalten und ragt über den weißen fliehenden Wellentanz heute noch empor, bedeckt mit der denkbar üppigsten Vegetation; aus dem dichten Gestrüpp steigt ein hochstämmiger, einsamer Baum auf, der einzige, dessen Wurzelwerk gegen die Fluten gesichert ist. Man nennt ihn den Menschenfeindbaum.

Während die kleinere Hälfte der Wassermassen den durch eine Felsbank in der Mitte des Absturzes gebrochenen Sprung unmittelbar ausführt, tanzt der übrige Teil im alten Flussbett des Iguassu am Rande des oberen Felsplateaus in einem weiten Bogen von vier Kilometer weiter, um erst dann in die von der ersten Hälfte ausgewaschene Schlucht hinabzustürzen.

Zwischen diesen zwei Hauptfällen gibt es aber wohl an die hundert andere, von allen Größen und Formen. Jeder einzelne bildet ein herrliches Naturschauspiel für sich selbst, mit irgendeinem Fall unserer Alpen vergleichbar, nur schöner, fremdartiger durch die Tropenvegetation, die ihn umrahmt.

Würde der Rheinfall bei Schaffhausen in weitem Halbkreis zwanzigmal nebeneinandergestellt, würde all diesen Fällen dreifache Tiefe gegeben und würden alle Werke der Menschenhand, die ihn umgeben, entfernt, dann hätte man ein Bild von dem großartigen Amphitheater Argentiniens, über dessen Felsenstufen sein Grenzstrom herabtost, um im Paraná aufzugehen. Und welche Ausblicke eröffnen sich, wenn man bedenkt, dass aus diesen tosenden Wassermengen ungeheure Naturkräfte gewonnen und in nützliche Kulturleistung umgewandelt werden können!

Die größten Wasserfälle der Welt. Der auf der brasilianischen Seite liegende Teil der Iguassufälle

Die Fälle des Iguassu, die wasserreichsten aller Fälle der Erde. In der Regenzeit stürzt die siebenfache Wassermenge des Niagara auf siebzig Meter in die Tiefe. Das Bild zeigt die auf argentinischer Seite liegende Hälfte.

Die Fälle des Iguassu, die wasserreichsten aller Fälle der Erde. In der Regenzeit stürzt die siebenfache Wassermenge des Niagara auf siebzig Meter in die Tiefe. Das Bild zeigt die auf argentinischer Seite liegende Hälfte.

Die Fälle des Iguassu, die wasserreichsten aller Fälle der Erde. In der Regenzeit stürzt die siebenfache Wassermenge des Niagara auf siebzig Meter in die Tiefe. Das Bild zeigt die auf argentinischer Seite liegende Hälfte.

Die größten Wasserfälle der Welt. Der auf der brasilianischen Seite liegende Teil der Iguassufälle

Die größten Wasserfälle der Welt. Der auf der brasilianischen Seite liegende Teil der Iguassufälle