Die drei Feinde des jetzigen Schriftstellers.
Alle Jahre wieder: Buchmesse in Leipzig und Frankfurt a. M.
Autor: anonym aus: Die Grenzboten: Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, Erscheinungsjahr: 1842
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Buchmesse, Schriftsteller, Autoren, Leser, Neuerscheinungen, Literatur, Buchhändler
Der Schriftsteller der Jetztzeit hat drei Feinde gegen sich; der eine ist aus Fleisch und Blut, der zweite ist aus Holz und der dritte aus Papier.
Das vorige Jahrhundert, zum Teil sogar auch noch die letztverflossene Literaturperiode, hatte eine Art mittelalterlichen Geist und mittelalterliche Sitten. Die Zahl der Ritter mit der wehenden Schreibfeder auf dem Helm war ziemlich klein. Wenn gefochten wurde, so geschah es meist in Einzelkämpfen; in der Schlacht, im Turnier, zog der Held mit offenem oder geschlossenem Visier einzeln daher, die allgemeine Aufmerksamkeit wendete sich ihm zu, seine Taten, sein Ruhm, seine Farbe wurden das Gespräch des Tages. Nicht so jetzt, wo die Literatur eben so wie die Staaten ihre stehenden Heere hat; wo in Deutschland allein (nach Karl Büchners Berechnung) eine Armee von 18.000 Schriftstellern und gefiederten Amazonen in die Schlacht bei Leipzig zur Oster- und Michaelis-Messe zieht.
Das vorige Jahrhundert, zum Teil sogar auch noch die letztverflossene Literaturperiode, hatte eine Art mittelalterlichen Geist und mittelalterliche Sitten. Die Zahl der Ritter mit der wehenden Schreibfeder auf dem Helm war ziemlich klein. Wenn gefochten wurde, so geschah es meist in Einzelkämpfen; in der Schlacht, im Turnier, zog der Held mit offenem oder geschlossenem Visier einzeln daher, die allgemeine Aufmerksamkeit wendete sich ihm zu, seine Taten, sein Ruhm, seine Farbe wurden das Gespräch des Tages. Nicht so jetzt, wo die Literatur eben so wie die Staaten ihre stehenden Heere hat; wo in Deutschland allein (nach Karl Büchners Berechnung) eine Armee von 18.000 Schriftstellern und gefiederten Amazonen in die Schlacht bei Leipzig zur Oster- und Michaelis-Messe zieht.
Achtzehntausend Streiter — welcher Taten bedarf es da, um aus der Masse sich bemerkbar zu machen! Unsere eigenen Mitkämpfer, die neben uns in Reih' und Glied stehen, erdrücken uns, und dieses ist der Feind aus Fleisch und Blut, der dem heutigen Schriftsteller auf der Bahn des Ruhmes im Wege steht.
Für wen schreibt der deutsche Schriftsteller? Wie man auch über Frankreich schmähe, immer muss man doch zugestehen, es bildet ein festes, kompaktes Publikum. Der dramatische Dichter findet es im Parquet und in den Logen; der Romandichter in der Lesewelt, d. h. in einer großen Zahl von Menschen, die von einem Buche ohne Kastengeist urteilen, je nachdem die Lektüre ihnen Wohlgefallen oder Widerwillen eingeflößt hat. Dieses Publikum ist die Richtschnur für den französischen Dichter und Schriftsteller; er strebt ihm zu gefallen, und er kann bei der Wahl der rechten Mittel auch sicher sein, das Ziel zu erreichen!
Nicht so in Deutschland. Hier sind unvermerkt hunderte von besonderen Gerichtshöfen entstanden, von welchen ein jeder ein gleiches Privilegium in Anspruch nimmt. Der große Stein — das Publikum — ist zu Boden gefallen, und hat sich in tausend kleine Stückchen zersplittert. Jedes Land, jede Provinz, jede Stadt, jede Gasse, jedes Kaffeehaus hält sich für das wahre Publikum, welches den guten Geschmack und das wahre Urteil allein und ausschließend besitzt: ein Jeder richtet seine eigene Gerichtsbank auf. Für wen soll nun der Schriftsteller schreiben? Die Meinungen ändern sich in jedem Stadtviertel; die kleinen Publikchen lösen sich einander, wie Patrouillen, von ihren Posten ab, und jedes hat eine eigene Parole. Vormittags heißt sie: „vortrefflich!“ Nachmittags: „miserabel!“ Abends: „unerhört!“ und des andern Morgens wieder: „göttlich!“ Ein Rechtsspruch hebt den andern auf. Ein Jeder ist Kunstkenner, daher sehr kritisch; ein Jeder ist Literat, und daher eifersüchtig auf eines andern Ruhm. Es ist noch nicht lange, wo man diesen Namen scheute; jetzt will ihn Jeder der Natur abtrotzen. Die Schriftstellern ist in Deutschland ein Nationalübel geworden, eine epidemische Krankheit.
Ein Mensch, den man wenigstens seit vierundzwanzig Jahren dafür hielt, geht nach Hause, und schläft über einem Buch ein. Es träumt ihm, er sei ein Dichter, und dieser Traum prägt sich seinem Kopfe so tief ein, dass er beim Erwachen noch daran glaubt. Als ein Tropf ist er eingeschlafen, als Genie ist er erwacht. Um seinen Traum zu erfüllen, schreibt er eine Tragödie, ein Drama, ein Lustspiel. Er lässt seine Schöpfung drucken, oder, was schlimmer ist, aufführen. Es ist wahr, man lässt ihm Gerechtigkeit widerfahren: man zischt ihn aus; er ist jetzt noch ein größerer Narr, als zuvor, d. h. sonst war er es insgeheim, jetzt ist er es öffentlich. Allein, was tut das? Sein Beispiel hat auch nicht Einen abgeschreckt, und Mancher lacht ihn heute aus, der morgen sein Affe wird. Freilich auf eine andere Art! Er sieht ein, mit dem Theater geht es nicht; die Kräfte desselben sind für sein Genie zu beschränkt, die Schauspieler sind nicht mehr von der guten alten Schule, die Szenerie ist in beschränkten Verhältnissen, der Geschmack ist herunter gekommen. Er lässt lieber sein Licht in Journalen glänzen, wird ein Geschmacksverbesserer und kuriert den Magen der Leser, indem er nicht selten seine Aufsätze ihnen als — Brechmittel eingiet. —
So vermehrt sich mit jedem Tage die Zahl der Schreibenden in demselben Grade, als die Zahl der Lesenden sich vermindert. Wer da schreibt, der hat wenig Zeit zum Lesen; er bewundert lieber sich selbst, als Andere. In einer Periode aber, wo Alles schreibt, wer ist des Schreibers Leser? Wer ist das Publikum?
Sonst bestand ein nicht geringer Teil desselben aus Mäcenaten, Männern, die an das Genie und an den Geist der Poesie glaubten, und den Dichter verehrten und unterstützten. Damals war die Zeit jener Prachtausgaben, in welchen die Werke der Schriftsteller erschienen, jener kostbaren Quart- und Foliobände, mit silbernen Lettern und strahlendem Bilderschmuck, die der Schriftsteller unseres Jahrhunderts wie die Pyramiden des Cheops, wie die Überreste einer Fabelzeit anstaunt. Damals wünschte Jeder das Werk seines Lieblingsdichters so prachtvoll als möglich zu besitzen, und scheute keine Kosten, um seine Bewunderung für ihn an den Tag zu legen. Jetzt müssen die Bücher in Duodez erscheinen — Taschenformate, damit sie die Taschen nicht sehr genieren. Mäcenaten? Bewunderer? Der Schriftsteller muss sich hüten, von dem unbedeutendsten Kaufmanne sich zu Tische laden zu lassen, wenn er nicht jeden Bissen, den er in den Mund schiebt, von einer Sauce literarischer Weisheit seines Wirtes begleitet sehen will. Jeder ist Kunstkenner, Jeder ist gelehrt! Vielleicht sucht jetzt der Reiche die Gesellschaft des Schriftstellers fleißiger auf, als früher, aber nicht, um den gegenseitigen Überfluss auszutauschen, nicht um ihn mit Geld zu unterstützen. Er unterstützt ihn mit seinem Geiste. Der Kaufmann gibt dem Dichter Unterweisungen über den Schwung der Gedanken, der Landwirt gibt ihm Unterricht über den feinen Geschmack. Alles will Literatur machen! Für wen aber wird sie gemacht? Alles will kochen! Aber wer sind die Gäste?
Sonst war es das schöne Geschlecht. — Die Frauen sind immer, besonders für den Dichter, ein heiliger Gerichtshof gewesen. Mit seinen Gedanken und Gefühlen hat er an das zartbesaitete weibliche Herz gepocht; und ob es sich öffnete, ob es verschlossen blieb, dies entschied seinen Beruf und seinen Erfolg. Der Schriftstiller mag sein Urteil von Männern erwarten, sie mögen die Höhenpunkte seines Geistes ausmessen und bestimmen: der Dichter findet seinen besten Richter in der Brust der Frauen.
Aber die Damen sind von ihren Balkonen, wo sie den Turnierplatz ruhig überschauten, jetzt herabgestiegen, und sind geharnischt und gerüstet auf hohen Rossen selbst in die Schranken eingeritten! Sie wollen nicht mehr die Kampfrichter sein, und den Preis dem Sieger erteilen, sie wollen selbst kämpfen und den Preis erringen. Im Gedränge sieht man die Federn ihrer Helmbüsche schwanken; aber es ist nicht mehr der weiße Reiher, der sich sanft dem Kosen der Lüfte überlässt, sondern es sind feste, steife Schreibfedern, mit Tinte schwarz gefärbt.
So hat die Sucht zu urteilen, und die Wut zu schreiben, sich aller Köpfe bemächtigt; es ist ein wildes Gedränge, ein großer Einzelkampf! Aber wo sind die Zuschauer? Die Poesie, die schöne Literatur ist kein Schlachtfeld, wo der Tod den Ausschlag gibt. Hier ist Leben das Losungswort, es ist ein freundliches Kampfspiel, um seine Kraft zu zeigen und die Zuschauer zu erfreuen. Aber wo sind diese Zuschauer? Für wen schreibt der Dichter? Alles ist Partei geworden, wo ist das Publikum? —
Aber — wendet man ein — ist nicht mit der Zahl der Schreibenden auch die der Lesenden gestiegen? Nicht zu leugnen. Aber in welchem Verhältnisse? Wie viel emsiger ist die anbauende Hand als das verschlingende Auge, wie viel fleißiger trifft man um Mitternacht den Setzer bei dem Druckkasten, als den Leser bei der Öllampe! Man wird sagen: „Warum produziert die Druckerpresse so viel, wenn der Absatz wirklich so gering wäre? Ist nicht aus der Geschäftigkeit der Verleger auf die große Zahl der Abnehmer zu schließen? — Auch das will ich zugeben! Allein sind Abnehmer denn auch immer Leser? — Hier stehen wir bei dem zweiten Feind des Schriftstellers, bei dem Feind aus Holz, man nennt ihn: Bücherkasten. Seitdem es Mode geworden ist, gebildet zu sein, ward es auch Mode, gebildet zu scheinen. Der bon ton verlangt seinen Tribut, zu dem vollständigen Möblement eines vornehmen Hauses gehört eine zierliche Handbibliothek, und so prunkt ein Buch, das in früherer Zeit abgerissen, beschmutzt und zerlesen von einer Hand zur andern gegangen, in Prachtband und kostbarem Schmuck hinter den Glasscheiben eines eleganten Bücher-Gefängnisses. Dem Buchhändler genügt dies, sein Absatz ist gemacht; kann aber auch der Autor damit zufrieden sein? Er, der mit der besten Kraft seiner Stimme in den grünen Wald hinein rief, in freudiger Erwartung, dass ein tausendfaches Echo ihm daraus zurückerschallen werde — er horcht , er harrt — umsonst, seine Stimme ist verhallt. Liegt dieses am Autor? — O nein, aber an den Autoren liegt's. — Der erste Feind zieht den zweiten nach sich. Ein gutes Buch war sonst ein Meteor, alle Augen richteten sich auf es, alle Hänte griffen darnach, alle Mäuler sprachen davon. Jetzt fliegen die Meteore wie die Maikäfer am literarischen Horizonte herum, zehn gute Bücher erscheinen auf Einmal; wirklich gute Bücher, jedes will und verdient gelesen zu werden. Welches soll man zuerst in die Hand nehmen? Das Auge wird satt, wenn es den dicken Messekatalog überschaut. So viele neue Bücher! Und die älteren wollen doch auch gelesen sein. Die Arbeit übersteigt die Kräfte, man legt die Hände in den Schoß — und tut oft gerade nichts!
Und nun erst der papierne Feind, die Heuschreckenplage unseres Jahrhunderts — die fliegenden Blätter, die Journale! Jener Boden, welchem der emsige, sinnende Schriftsteller seine Saat anvertraut, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit der Leser, wie wird er von jenen Heuschrecken zerstört! Jene schillernde Mosaik von kleinen bunten Steinchen, welche den weißen Raum so vieler Tagblätter einnimmt, wie schwächt sie das Auge, nicht das physische allein, das geistige in einem weit höheren Grade. Man vergleiche unsere deutschen Journale nicht mit den französischen und englischen. Dort, wo jedes Blatt seine bestimmte Farbe und Lesekreise hat, wird das Auge nicht so geschwächt, der Geist nicht so zerstreut. Der Engländer setzt sich früh mit seinem Morning-Chronicle nieder, und seine ungeheueren Spalten versehen ihn mit Nahrung bis zum Abend. — Der deutsche Journalleser tritt in den Lesezirkel, in das Kaffeehaus, und verlässt es nicht eher, als bis er zum allerwenigsten ein halbes Schock von Tagblättern verschlungen hat. Tretet aber nur hin zu einem solchen Haifisch und fragt um Neuigkeiten, so werdet ihr seine Verlegenheit sehen. Sein Nachbar, der nur ein oder zwei Journale gelesen hat, wird euch viel eher dienen können. Und weshalb? Weil in der Masse des Gelesenen Eins das Andere verdrängt, weil man verschlingt und nicht genießt; weil man Gedächtnis und Aufmerksamkeit zu einem Straußenmagen versteint, der unempfindlich ist, ob er Steine oder Austern verzehrt. Nichts befördert Gedankenlosigkeit und oberflächliches Vorüberfliegen mehr, als unmäßige Journallektüre. Der Schriftsteller, dessen Gedankenschiff schwerer befrachtet ist als die gewöhnlichen Dampfbote, ist verloren, wenn er dem seichten Wasser und dem lockeren Boden jener Küsten sich naht. Sein Anker findet keinen haltbaren Grund, sein Kiel bleibt auf einer Sandbank fest. Und doch bildet in gegenwärtiger Zeit das Journalpublikum einen großen Teil des allgemeinen Lesepublikums, will man da noch fragen, warum die besten Schriftsteller unserer Zeit nicht durchgreifen können?
Wie oft hört man von alten Soldaten das Sprichwort, dass jede Kugel ihre Bestimmung habe. Bücher aber sind Kugeln, denn beide sind bestimmt, in das Gehirn, in die Brust der Menschen zu fahren. Nicht jede Kugel aber kann ihr Ziel erreichen. Der Schriftsteller, der in dem Wahn lebt, er habe seine Kugel in das Lager von 30 Millionen Deutschen geschleudert, und auf die Explosion seines Schusses wartet, muss nach langem Warten oft bemerken, dass seine Kugel in dem dunklen Sumpfe irgend einer Verlagsbuchhandlung liegen geblieben und verloschen ist. Der arme Schütze, nicht immer ist es die Ungeschicklichkeit und Kraftlosigkeit seines Geschosses, welches die Schuld trägt.
Aus: Die Grenzboten. Eine deutsche Revue. Zweiter Jahrgang. Erstes Semester. 1842. Redigiert von Kuranda, J. Unter Mitwirkung der deutschen Schriftsteller: Karl Andree, Berthold Auerbach, Karl Beck, Baron A. von Bülow, Theodor Creizenach, Lorenz Diefenbach, F. Dingelstedt, J. Fester, Ludwig August Frankl, Carl Gutzkow, Heinrich Heine, J. Kaufmann, Heinrich Koenig, Gustav Kühne, Heinrich Laube, Harrmann Marggraf, H. Merz, Julius Mosen, Theodor Mügge, R. E. Prutz, L. Schefer, H. Schiff, G. Schirges, Theodor Schliephake, Baron von Sternberg, J. Venebey, Van Hasselt, A. Weill, Ernst Willkomm.
Für wen schreibt der deutsche Schriftsteller? Wie man auch über Frankreich schmähe, immer muss man doch zugestehen, es bildet ein festes, kompaktes Publikum. Der dramatische Dichter findet es im Parquet und in den Logen; der Romandichter in der Lesewelt, d. h. in einer großen Zahl von Menschen, die von einem Buche ohne Kastengeist urteilen, je nachdem die Lektüre ihnen Wohlgefallen oder Widerwillen eingeflößt hat. Dieses Publikum ist die Richtschnur für den französischen Dichter und Schriftsteller; er strebt ihm zu gefallen, und er kann bei der Wahl der rechten Mittel auch sicher sein, das Ziel zu erreichen!
Nicht so in Deutschland. Hier sind unvermerkt hunderte von besonderen Gerichtshöfen entstanden, von welchen ein jeder ein gleiches Privilegium in Anspruch nimmt. Der große Stein — das Publikum — ist zu Boden gefallen, und hat sich in tausend kleine Stückchen zersplittert. Jedes Land, jede Provinz, jede Stadt, jede Gasse, jedes Kaffeehaus hält sich für das wahre Publikum, welches den guten Geschmack und das wahre Urteil allein und ausschließend besitzt: ein Jeder richtet seine eigene Gerichtsbank auf. Für wen soll nun der Schriftsteller schreiben? Die Meinungen ändern sich in jedem Stadtviertel; die kleinen Publikchen lösen sich einander, wie Patrouillen, von ihren Posten ab, und jedes hat eine eigene Parole. Vormittags heißt sie: „vortrefflich!“ Nachmittags: „miserabel!“ Abends: „unerhört!“ und des andern Morgens wieder: „göttlich!“ Ein Rechtsspruch hebt den andern auf. Ein Jeder ist Kunstkenner, daher sehr kritisch; ein Jeder ist Literat, und daher eifersüchtig auf eines andern Ruhm. Es ist noch nicht lange, wo man diesen Namen scheute; jetzt will ihn Jeder der Natur abtrotzen. Die Schriftstellern ist in Deutschland ein Nationalübel geworden, eine epidemische Krankheit.
Ein Mensch, den man wenigstens seit vierundzwanzig Jahren dafür hielt, geht nach Hause, und schläft über einem Buch ein. Es träumt ihm, er sei ein Dichter, und dieser Traum prägt sich seinem Kopfe so tief ein, dass er beim Erwachen noch daran glaubt. Als ein Tropf ist er eingeschlafen, als Genie ist er erwacht. Um seinen Traum zu erfüllen, schreibt er eine Tragödie, ein Drama, ein Lustspiel. Er lässt seine Schöpfung drucken, oder, was schlimmer ist, aufführen. Es ist wahr, man lässt ihm Gerechtigkeit widerfahren: man zischt ihn aus; er ist jetzt noch ein größerer Narr, als zuvor, d. h. sonst war er es insgeheim, jetzt ist er es öffentlich. Allein, was tut das? Sein Beispiel hat auch nicht Einen abgeschreckt, und Mancher lacht ihn heute aus, der morgen sein Affe wird. Freilich auf eine andere Art! Er sieht ein, mit dem Theater geht es nicht; die Kräfte desselben sind für sein Genie zu beschränkt, die Schauspieler sind nicht mehr von der guten alten Schule, die Szenerie ist in beschränkten Verhältnissen, der Geschmack ist herunter gekommen. Er lässt lieber sein Licht in Journalen glänzen, wird ein Geschmacksverbesserer und kuriert den Magen der Leser, indem er nicht selten seine Aufsätze ihnen als — Brechmittel eingiet. —
So vermehrt sich mit jedem Tage die Zahl der Schreibenden in demselben Grade, als die Zahl der Lesenden sich vermindert. Wer da schreibt, der hat wenig Zeit zum Lesen; er bewundert lieber sich selbst, als Andere. In einer Periode aber, wo Alles schreibt, wer ist des Schreibers Leser? Wer ist das Publikum?
Sonst bestand ein nicht geringer Teil desselben aus Mäcenaten, Männern, die an das Genie und an den Geist der Poesie glaubten, und den Dichter verehrten und unterstützten. Damals war die Zeit jener Prachtausgaben, in welchen die Werke der Schriftsteller erschienen, jener kostbaren Quart- und Foliobände, mit silbernen Lettern und strahlendem Bilderschmuck, die der Schriftsteller unseres Jahrhunderts wie die Pyramiden des Cheops, wie die Überreste einer Fabelzeit anstaunt. Damals wünschte Jeder das Werk seines Lieblingsdichters so prachtvoll als möglich zu besitzen, und scheute keine Kosten, um seine Bewunderung für ihn an den Tag zu legen. Jetzt müssen die Bücher in Duodez erscheinen — Taschenformate, damit sie die Taschen nicht sehr genieren. Mäcenaten? Bewunderer? Der Schriftsteller muss sich hüten, von dem unbedeutendsten Kaufmanne sich zu Tische laden zu lassen, wenn er nicht jeden Bissen, den er in den Mund schiebt, von einer Sauce literarischer Weisheit seines Wirtes begleitet sehen will. Jeder ist Kunstkenner, Jeder ist gelehrt! Vielleicht sucht jetzt der Reiche die Gesellschaft des Schriftstellers fleißiger auf, als früher, aber nicht, um den gegenseitigen Überfluss auszutauschen, nicht um ihn mit Geld zu unterstützen. Er unterstützt ihn mit seinem Geiste. Der Kaufmann gibt dem Dichter Unterweisungen über den Schwung der Gedanken, der Landwirt gibt ihm Unterricht über den feinen Geschmack. Alles will Literatur machen! Für wen aber wird sie gemacht? Alles will kochen! Aber wer sind die Gäste?
Sonst war es das schöne Geschlecht. — Die Frauen sind immer, besonders für den Dichter, ein heiliger Gerichtshof gewesen. Mit seinen Gedanken und Gefühlen hat er an das zartbesaitete weibliche Herz gepocht; und ob es sich öffnete, ob es verschlossen blieb, dies entschied seinen Beruf und seinen Erfolg. Der Schriftstiller mag sein Urteil von Männern erwarten, sie mögen die Höhenpunkte seines Geistes ausmessen und bestimmen: der Dichter findet seinen besten Richter in der Brust der Frauen.
Aber die Damen sind von ihren Balkonen, wo sie den Turnierplatz ruhig überschauten, jetzt herabgestiegen, und sind geharnischt und gerüstet auf hohen Rossen selbst in die Schranken eingeritten! Sie wollen nicht mehr die Kampfrichter sein, und den Preis dem Sieger erteilen, sie wollen selbst kämpfen und den Preis erringen. Im Gedränge sieht man die Federn ihrer Helmbüsche schwanken; aber es ist nicht mehr der weiße Reiher, der sich sanft dem Kosen der Lüfte überlässt, sondern es sind feste, steife Schreibfedern, mit Tinte schwarz gefärbt.
So hat die Sucht zu urteilen, und die Wut zu schreiben, sich aller Köpfe bemächtigt; es ist ein wildes Gedränge, ein großer Einzelkampf! Aber wo sind die Zuschauer? Die Poesie, die schöne Literatur ist kein Schlachtfeld, wo der Tod den Ausschlag gibt. Hier ist Leben das Losungswort, es ist ein freundliches Kampfspiel, um seine Kraft zu zeigen und die Zuschauer zu erfreuen. Aber wo sind diese Zuschauer? Für wen schreibt der Dichter? Alles ist Partei geworden, wo ist das Publikum? —
Aber — wendet man ein — ist nicht mit der Zahl der Schreibenden auch die der Lesenden gestiegen? Nicht zu leugnen. Aber in welchem Verhältnisse? Wie viel emsiger ist die anbauende Hand als das verschlingende Auge, wie viel fleißiger trifft man um Mitternacht den Setzer bei dem Druckkasten, als den Leser bei der Öllampe! Man wird sagen: „Warum produziert die Druckerpresse so viel, wenn der Absatz wirklich so gering wäre? Ist nicht aus der Geschäftigkeit der Verleger auf die große Zahl der Abnehmer zu schließen? — Auch das will ich zugeben! Allein sind Abnehmer denn auch immer Leser? — Hier stehen wir bei dem zweiten Feind des Schriftstellers, bei dem Feind aus Holz, man nennt ihn: Bücherkasten. Seitdem es Mode geworden ist, gebildet zu sein, ward es auch Mode, gebildet zu scheinen. Der bon ton verlangt seinen Tribut, zu dem vollständigen Möblement eines vornehmen Hauses gehört eine zierliche Handbibliothek, und so prunkt ein Buch, das in früherer Zeit abgerissen, beschmutzt und zerlesen von einer Hand zur andern gegangen, in Prachtband und kostbarem Schmuck hinter den Glasscheiben eines eleganten Bücher-Gefängnisses. Dem Buchhändler genügt dies, sein Absatz ist gemacht; kann aber auch der Autor damit zufrieden sein? Er, der mit der besten Kraft seiner Stimme in den grünen Wald hinein rief, in freudiger Erwartung, dass ein tausendfaches Echo ihm daraus zurückerschallen werde — er horcht , er harrt — umsonst, seine Stimme ist verhallt. Liegt dieses am Autor? — O nein, aber an den Autoren liegt's. — Der erste Feind zieht den zweiten nach sich. Ein gutes Buch war sonst ein Meteor, alle Augen richteten sich auf es, alle Hänte griffen darnach, alle Mäuler sprachen davon. Jetzt fliegen die Meteore wie die Maikäfer am literarischen Horizonte herum, zehn gute Bücher erscheinen auf Einmal; wirklich gute Bücher, jedes will und verdient gelesen zu werden. Welches soll man zuerst in die Hand nehmen? Das Auge wird satt, wenn es den dicken Messekatalog überschaut. So viele neue Bücher! Und die älteren wollen doch auch gelesen sein. Die Arbeit übersteigt die Kräfte, man legt die Hände in den Schoß — und tut oft gerade nichts!
Und nun erst der papierne Feind, die Heuschreckenplage unseres Jahrhunderts — die fliegenden Blätter, die Journale! Jener Boden, welchem der emsige, sinnende Schriftsteller seine Saat anvertraut, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit der Leser, wie wird er von jenen Heuschrecken zerstört! Jene schillernde Mosaik von kleinen bunten Steinchen, welche den weißen Raum so vieler Tagblätter einnimmt, wie schwächt sie das Auge, nicht das physische allein, das geistige in einem weit höheren Grade. Man vergleiche unsere deutschen Journale nicht mit den französischen und englischen. Dort, wo jedes Blatt seine bestimmte Farbe und Lesekreise hat, wird das Auge nicht so geschwächt, der Geist nicht so zerstreut. Der Engländer setzt sich früh mit seinem Morning-Chronicle nieder, und seine ungeheueren Spalten versehen ihn mit Nahrung bis zum Abend. — Der deutsche Journalleser tritt in den Lesezirkel, in das Kaffeehaus, und verlässt es nicht eher, als bis er zum allerwenigsten ein halbes Schock von Tagblättern verschlungen hat. Tretet aber nur hin zu einem solchen Haifisch und fragt um Neuigkeiten, so werdet ihr seine Verlegenheit sehen. Sein Nachbar, der nur ein oder zwei Journale gelesen hat, wird euch viel eher dienen können. Und weshalb? Weil in der Masse des Gelesenen Eins das Andere verdrängt, weil man verschlingt und nicht genießt; weil man Gedächtnis und Aufmerksamkeit zu einem Straußenmagen versteint, der unempfindlich ist, ob er Steine oder Austern verzehrt. Nichts befördert Gedankenlosigkeit und oberflächliches Vorüberfliegen mehr, als unmäßige Journallektüre. Der Schriftsteller, dessen Gedankenschiff schwerer befrachtet ist als die gewöhnlichen Dampfbote, ist verloren, wenn er dem seichten Wasser und dem lockeren Boden jener Küsten sich naht. Sein Anker findet keinen haltbaren Grund, sein Kiel bleibt auf einer Sandbank fest. Und doch bildet in gegenwärtiger Zeit das Journalpublikum einen großen Teil des allgemeinen Lesepublikums, will man da noch fragen, warum die besten Schriftsteller unserer Zeit nicht durchgreifen können?
Wie oft hört man von alten Soldaten das Sprichwort, dass jede Kugel ihre Bestimmung habe. Bücher aber sind Kugeln, denn beide sind bestimmt, in das Gehirn, in die Brust der Menschen zu fahren. Nicht jede Kugel aber kann ihr Ziel erreichen. Der Schriftsteller, der in dem Wahn lebt, er habe seine Kugel in das Lager von 30 Millionen Deutschen geschleudert, und auf die Explosion seines Schusses wartet, muss nach langem Warten oft bemerken, dass seine Kugel in dem dunklen Sumpfe irgend einer Verlagsbuchhandlung liegen geblieben und verloschen ist. Der arme Schütze, nicht immer ist es die Ungeschicklichkeit und Kraftlosigkeit seines Geschosses, welches die Schuld trägt.
Aus: Die Grenzboten. Eine deutsche Revue. Zweiter Jahrgang. Erstes Semester. 1842. Redigiert von Kuranda, J. Unter Mitwirkung der deutschen Schriftsteller: Karl Andree, Berthold Auerbach, Karl Beck, Baron A. von Bülow, Theodor Creizenach, Lorenz Diefenbach, F. Dingelstedt, J. Fester, Ludwig August Frankl, Carl Gutzkow, Heinrich Heine, J. Kaufmann, Heinrich Koenig, Gustav Kühne, Heinrich Laube, Harrmann Marggraf, H. Merz, Julius Mosen, Theodor Mügge, R. E. Prutz, L. Schefer, H. Schiff, G. Schirges, Theodor Schliephake, Baron von Sternberg, J. Venebey, Van Hasselt, A. Weill, Ernst Willkomm.