Madame Legros.

Quand l’Hydre despotique asservissoit la France:
Elle osa le braver pour servir l’innocence;
Latude, dans le fers, par l’intrigue abattu,
A son curage seul a du sa delivrance;
Sans biens et sans crédit, sa rare bienfaisance
A scu vaincre la haine à force de vertu.

Madame Legros.


Madame Legros, Besitzerin eines kleinen Schnittwarengeschäftes, fand eines Tages auf der Straße ein Bündel Schriften; die Hülle war durch die Feuchtigkeit zerfasert, die Siegel aufgeweicht. Mit Schaudern las die Finderin folgende Überschrift: „Masers de Latude, ein unschuldig Gefangener, der seit 32 Jahren in der Bastille, in Vincennes und derzeit in Bicêtre bei Wasser und Brot, sechs Fuß unter der Erde gefangen gehalten wird.“ Sie ging sofort in ihre Wohnung zurück, ließ ihren Geschäftsgang Geschäftsgang sein und las mit Begierde die hier geschilderten Einzelheiten von Latudes Leiden. Nachher schrieb sie alles für sich ab, und ihr Mann trug das Paket selbst an seinen Adressaten, den Präsidenten v. Gourgue.

Wer war dieser Latude, und was sein Verbrechen? Masers de Latude wurde am 23. März 1725 im Schlosse Cransech, nahe dem Schlosse Montagnac in der Provinz Languedoc, auf einem Gute, das dem Marquis v. Latude gehörte, geboren. Sein Vater war Ritter des königlichen Ordens und hoher Militär. Die Erziehung Latudes war die eines Edelmannes, der dazu bestimmt war, seinem Vaterlande und seinem Könige zu dienen. Er wurde, als er 23 Jahre alt war, nach Paris geschickt, um seinen Studien zu obliegen. Ein großer Ehrgeiz beherrschte ihn, er hielt sich für sehr begabt, er wollte eine Rolle spielen.

Das Mittel, zu dem er griff, um sich Protektion zu verschaffen, war nichts weniger als sympathisch, es war dumm und gleichzeitig verwerflich, aber wie immer man es auch werten mag, die schwere Kerkerstrafe von 35 Jahren, die er in den verschiedenen Gefängnissen abbüßte, stand nicht im entferntesten im Verhältnis zu dem albernen Jugendstreich, zu dem ihn seine Phantasie verführt hatte.

Eines Tages, es war dies im Jahre 1749, befand sich Latude in den Tuilerien und war zufällig Ohrenzeuge eines Gespräches, das zwei Männer führten, die ihrer verächtlichen Meinung über die Pompadour, die damals noch unumschränkt herrschte, freien Lauf ließen. Nun kam Latude ein toller Gedanke; er wollte durch eine erfundene Geschichte die Pompadour vor einem ihr bevorstehenden Attentat warnen und sich auf diese Weise ihre Gunst und Protektion erwerben. Er schrieb ihr einen Brief, legte ein völlig unschädliches Pulver hinein, warf diese Sendung in den Postkasten und eilte spornstreichs nach Versailles. Er suchte an, vorgelassen zu werden, und erzählte ihr nun seine selbsterfundene Geschichte und warnte sie vor dem bevorstehenden Attentat. Er beschwor sie, die Pakete, die von nun an einlangen würden, mit der größten Vorsicht zu öffnen. Er habe, fügte er noch zum Schlüsse hinzu, die beiden Männer bis zur Post verfolgt, und gesehen wie sie ein Paket aufgegeben hätten, das gewiss, nach ihren Gesprächen zu urteilen, an sie gerichtet sei und wohl einen gefährlichen Inhalt enthalten dürfte. Die Pompadour war im ersten Augenblick sehr gerührt und reichte Latude eine mit Gold gefüllte Börse hin, um ihm ihre Dankbarkeit zu bezeugen, er aber lehnte das Geschenk ab und sagte, dass er sich berechtigt glaube, auf eine ihrer und seiner würdigere Belohnung Anspruch erheben zu dürfen!

Die Pompadour war misstrauisch und argwöhnisch nach Tyrannenart, sie forderte, er solle ihr seine Adresse aufschreiben, um ihm gegebenenfalls Nachricht zukommen lassen zu können. So jung und unbedacht war er, dass er die Falle, die ihm gelegt wurde, gar nicht bemerkte.

Das angekündigte Paket traf pünktlich ein, das Pulver wurde chemisch untersucht, als völlig ungefährlich befunden, die Schriften verglichen, und von ein und derselben Hand stammend erkannt. Die Pompadour sah in all dem einen blutigen Hohn, ja ein Verbrechen, und gab die strengsten Befehle, Latude dingfest zu machen. Er saß ahnungslos in seiner Wohnung und malte sich eben alle möglichen herrlichen Situationen aus, in die er durch die mächtige Protektion der Pompadour gelangen würde, als man kam, um ihn zu verhaften und in die Bastille zu führen, die er erst nach 35 Jahren, dank der kühnen, hochherzigen Bemühungen einer ihm völlig fremden Frau verlassen sollte.

Dem nur durch seine Qualen abwechslungsreichen Leben, das er so lange ertragen musste, suchte sich Latude wiederholt durch die Flucht zu entziehen: immer vergebens! Das erstemal wäre ihm die Flucht beinahe gelungen. Mit ihm war gleichzeitig ein Priester interniert, namens Saint-Sauveur, ein sehr gütiger Mensch, der den andern durch seine Gespräche und seine Bücher die Haft zu erleichtern suchte. Und eines Tages, nach neun Monaten der Gefangenschaft, als der Wunsch nach Freiheit wieder mächtig in Latude erwachte, benützte er die allgemeine Beliebtheit des Priesters, um zu entspringen.

Latude wurde täglich für zwei Stunden in einen der Bastille-Gärten hinabgeführt; wenn der Kerkermeister kam, um ihn zu holen, eilte er schneller als dieser die Treppe hinab. An jenem Tage, da er seinen Fluchtversuch im Sinne hatte, sprang er die Treppe in rasendem Tempo hinab; anstatt sich zum Garten zu wenden, lief er auf die entgegengesetzte Seite zu einem verschlossenen Tore, das aus dem Turm führte. Er klopfte, worauf die Wache öffnete, er fragte sie nach dem Abbé Saint-Sauveur und behauptete, dass er ihm schon zwei Stunden nachrenne, da der Priester ihm versprochen hätte, im Garten zu warten. Während Latude diese erfundene Geschichte hersagte, rannte er weiter, die Wache erkannte nicht, dass er ein Sträfling sei, und lies ihn unbehelligt durch. Mit der gleichen Frage verblüffte Latude noch weitere drei Wachen, die ihn alle unbehelligt durchließen; als er die vierte passiert hatte, befand er sich außerhalb der Gefängnismauern. Aber nicht lange, denn er wurde ausgeforscht und wieder eingebracht.

Die zweite Flucht gelang ihm, indem er aus seiner reichhaltigen Garderobe und seinem Wäschevorrat sechs Monate hindurch Strickleitern knüpfte, und dann durch den Schornstein seiner Zelle, über die Dächer und Türme der Bastille, mit tausend Lebensgefahren den Erdboden außerhalb der Gefängnismauern erreichte! Aber wie immer nach allen Fluchtversuchen erwies er sich unvorsichtig und man fand ihn wieder.

Die Verfolger Latudes beschuldigten ihn eines gemeinen Diebstahls, sie taten es aber erst, als er nach einer missglückten Flucht wieder in Gewahrsam saß und keine Mittel hatte, sich zu verteidigen. Bei dieser neuen Niedertracht unterlag er unter der Schwere seiner Ketten. Er hatte alles ertragen, die Schrecken des Hungers, die Unbilden der Witterung in strengster Winterkälte, alle Entbehrungen mitsammen, aber die Gemeinheit, jene entsetzliche Tortur der unterdrückten Unschuld — nein, er konnte nicht stillschweigend ihr Opfer werden. Er wandte sich um Hilfe und Unterstützung an seine Eltern und Verwandten, damit sie ihm dazu verhelfen sollten, seine Unschuld zu erweisen, aber sie antworteten ihm, dass er durch seinen Betrug selbst alle Bande freventlich zerrissen hätte, die ihn bis dahin mit seiner Familie verknüpft hätten, dass sie ihn von nun an nicht mehr kennten. Er verfiel in völlige Verlassenheit, er verlor allen Mut, alle Hoffnung und für lange sogar die Empfindung seiner Existenz. Er nahm in den verschiedenen Gefängnissen erborgte Namen an, um den seinen nicht zu beflecken.

Der Präsident v. Gourgue visitierte von Zeit zu Zeit die Gefängnisse und kam auch in die Bastille, in die Zelle Latudes, Er lies sich alles genau erzählen, er sagte dann Latude, man müsste jeder Empfindung bar sein, wenn man von seinem Schicksal nicht gerührt wäre; er beauftragte ihn dann, alles zu Papier zu bringen und gab dem Kerkermeister Befehl, ihm das fertiggestellte Schriftstück sogleich zu übermitteln - dasselbe, das Madame Legros fand! Beim Abschied sagte der Präsident v. Gourgue zu Latude: „Rechnen Sie auf mich, Ihre Leiden sind zu groß als dass man sie vergessen könnte. Leben Sie wohl.“ Latude war gezwungen, einen Teil seines Brotes zu verkaufen, um sich die nötigen Schreibrequisiten zu verschaffen. Er schrieb alles mit seiner Seele nieder, er lies seinen Empfindungen freien Lauf, voll Vertrauen zu diesem guten, mitleidigen Protektor; er schilderte seine Leiden mit der Beredsamkeit des Unglücks, er sagte alles ohne Bitterkeit, aber auch ohne Schonung. Er wagte es nicht, das Schriftstück dem Kerkermeister anzuvertrauen. Er hatte sich all die Jahre hindurch einen guten Anzug und etwas Wäsche aufgespart und gar nicht benutzt, um an dem immer erhofften Tag der Befreiung anständig gekleidet sein zu können. Er verkaufte alles und gab den Erlös dem Wachposten, damit dieser das Schriftstück dem Präsidenten v. Gourgue übergebe. Unglücklicherweise, oder besser gesagt, glücklicherweise bemerkte er nicht, dass der Mann berauscht war.

Der Präsident v. Gourgue empfing Herrn Legros, der ihm das Paket überbrachte, mit größter Freundlichkeit und voll Dank, dass er durch ihn in den Besitz der Schriften Latudes gekommen sei, die er von Latude selbst erbeten hatte. Er versicherte, dass er von dem Inhalte der Schriften sehr gerührt und gleichzeitig empört sei, dass er schon lange vorher sich für Latudes Schicksal interessiert und zu seinem Schmerze erfahren hätte, Latude sei wahnsinnig geworden, allerdings nur an periodischem Wahnsinn leide, aber da die Krankheit bereits 32 Jahre anhalte, keine Aussicht auf Heilung vorhanden sei. Latude sei dadurch gemeingefährlich und seinen Freunden bleibe nichts anderes übrig, als ihn zu beklagen und über sein Schicksal zu seufzen. Wäre der Gefangenwärter damals zufällig nüchtern gewesen, als er die Schriften an Herrn v. Gourgue zu übermitteln übernahm, so weiß man nun die Aussichten, die Latude gehabt hätte!

Als Herr Legros heimkam, sagte er seiner Frau, dass der Präsident v. Gourgue Latudes Verteidigung nicht übernehmen wolle. Sie war außer sich. Sie las wieder die Darstellung seines Unglückes durch und war von der Wahrheit des Inhaltes völlig überzeugt. Sie erfüllte sich ganz mit dem Geiste, der jene diktiert hatte; an der Art, wie Latude seine Leiden schilderte, erkannte sie, dass er alle Bitternisse seiner Lage empfand; sie sah ein, dass ein Wahnsinniger sich nie so auszudrücken vermocht hätte, dass er sich nur aufzuregen, umherzuschlagen und sich von den Ketten, die so schwer drückten, zu befreien gesucht hätte, dass er aber nie jene kühne Sprache der Unschuld zu sprechen verstanden hätte, die sich nicht zum Betteln erniedrigen kann wie das Verbrechen. All diese Vorstellungen entflammten sie und klärten sie gleichzeitig auf, so dass sie nicht in denselben Irrtum verfiel wie der Präsident v. Gourgue.

Auch die Tatsache, dass man Latude keines Verbrechens beschuldigen konnte, sondern ihn einfach für wahnsinnig, für einen gefährlichen Narren erklärte, machte sie stutzig. Die Lektüre so vieler unmenschlicher Qualen rührte ihre empfindsame Seele und gleichzeitig erfasste sie ein Gefühl unsagbarer Empörung. Anfangs behielt sie alle ihre Pläne für sich, und pflegte während vieler Monate eifrig Nachforschungen, bis es ihr gelang, sich von der Wahrheit des Briefes und der Unschuld des Häftlings zu überzeugen. Dann aber machte sie seine Angelegenheit zu der ihrigen, wobei sie ihre eigenen Pflichten und Sorgen völlig vergaß und drei Jahre hindurch keinem andern Gedanken zugänglich war, als den, einen ihr völlig Fremden, einen vom Unglück so sehr verfolgten Menschen zu befreien. Sie hatte weder einflussreiche Verwandte noch solche Freunde, sie besaß weder Vermögen noch irgend welche Protektionen: und doch unterzog sie sich solch einem schier aussichtslosen Unternehmen. Sie war genötigt, vornehme Herren, Männer in hohen Stellungen für Latudes Schicksal zu interessieren. Es gelang ihr, sie ging zu ihnen und sprach mit jener Beredsamkeit der Seele, der gegenüber die Beredsamkeit des Verstandes verblasst. Bald machte man ihr Hoffnungen, dann foppte man sie herum oder stieß sie roh fort! Doch sie beharrte, sie wurde nicht müde, Vorstellungen zu machen, sie schreckte vor keiner Beschwerlichkeit zurück. Die Freunde, die sie sich durch ihr kühnes, mutiges Vorgehen erworben hatte, zitterten für ihr Leben und waren besonders um ihre Freiheit in Sorge, wenn sie die Gefahren sahen, in die sich Madame Legros blindlings stürzte, aber sie war für alle Vorstellungen, für alle Bitten taub. Sie befand sich damals im siebenten Monate guter Hoffnung, als sie an einem kalten Wintertag zu Fuß nach Versailles ging und erschöpft von Hunger, Kälte und Müdigkeit ihre Wohnung endlich am Abend wieder erreichte; dabei war sie gedrückten Herzens, da ihre Bitten abschlägig beschieden wurden. Die Nachtstunden hindurch arbeitete sie für ihren Unterhalt und begab sich am andern Morgen wieder nach Versailles. Erst nach achtzehn Monaten, voll der größten Anstrengungen, Mühen, Demütigungen und Entbehrungen, gelang es ihr, im Gefängnis die Bekanntschaft Latudes zu machen, und in jenem Zeitpunkt erfuhr er erst von den unbekannten Freunden, die er außerhalb der Kerkermauern besaß. Als sie das unsägliche Elend mit eigenen Augen geschaut hatte, fand sie aufs neue Kraft und Mut, um allen Hindernissen und Gefahren Trotz zu bieten. Im Anfang jener schweren Zeiten war sie niedergekommen. Doch trennte sie sich sehr bald von ihrem Kinde, sie gab es in Pflege, um ihr begonnenes Werk zu vollenden.

In ihrer Aufopferung für den Unglücklichem kannte sie keine Grenzen. Sie rannte in die entlegensten Vorstädte überallhin wo sie Leute vermutete, die sich für Latudes Schicksal interessieren könnten, sie hungerte, sie lies das Brot alt werden, damit sie nicht zu viel davon zu essen Lust bekomme; viele wollten ihr Unternehmen durch Geldspenden erleichtern, aber sie war nie dazu zu bewegen, auch nur das geringste anzunehmen. Ihr Mann, ein Lehrer der fremden Sprachen, brachte sich selbst sehr kümmerlich fort, doch hinderte er niemals seine Frau, das einmal begonnene Liebeswerk zu vollenden. Man bewunderte Madame Legros Ausdauer, man staunte über ihre Geschicklichkeit, die vielen Wege, die in die entgegengesetztesten Richtungen führten, oft in einem Tag zu bewältigen, dabei die Nacht nur zum kleinsten Teil zur Ruhe zu benützen. Sie arbeitete nicht allein für ihren Unterhalt, sondern sie setzte eine Ehre darein, die kleinen Schulden, die ihr Vater hinterlassen hatte, bei Heller und Pfennig zu begleichen. Sie ertrug diese ehrenhafte und ruhmvolle Dürftigkeit mit stoischer Ruhe. Latude empfand es unsagbar bitter, dass er ihr, die alles für seine Befreiung geopfert hatte, nichts zu bieten vermochte.

Madame Legros war diese drei Jahre, die bis zu Latudes Befreiung verstrichen, immer in Aufregung, immer in einer Hetzjagd. Sie verstand es alle möglichen Menschen, die vielleicht Latude zu helfen in der Lage waren, in Atem zu halten; sie war ohne Unterlass an ihren Türen, bei dem einen wusste sie das Mitgefühl anzufachen, bei dem andern wieder die Empfindsamkeit rege zu machen; diesem packte sie bei der Eitelkeit, jenem versprach sie Protektion irgend eines einflussreichen Mannes ihres neuen Bekanntenkreises. Es gelang Madame Legros, einen Höfling Marie Antoniettens für Latudes Schicksal zu interessieren. Er las eines Tages der Königin eben eine Schilderung des Unglücks vor, als ein anderer Höfling eintrat und ganz unbedacht erklärte, Latude sei wahnsinnig und die ganze Darstellung nichts als ein Lügengewebe. Das Blatt entfiel dem Vorleser und das eben erwachte Interesse und die Teilnahme der Königin und des Hofes verschwanden augenblicklich.

Der Kardinal Rohan nahm an dem Schicksal Latudes Anteil. Madame Legros machte lange vergebliche Versuche, vorgelassen zu werden, sie verstand es die Portierfrau für Latude zu interessieren und gelangte auf diesem Umweg endlich zum Prinzen. Er war von Madame Legros Eifer und Mut sehr gerührt und versprach ihr, seinen Einfluss geltend zu machen. Eine Kommission sollte die gerechte Sache Latudes noch einmal überprüfen. Während 35 Jahre hatte Latude umsonst jene höllischen Gewölbe mit seinen Seufzern und seiner Verzweiflung ermüdet, seine Seele war jeden Augenblick durch Wutanfälle wie gebrochen und ohne Unterlass durch Schmerz niedergedrückt. Alle seine Glieder waren durch das Reiben und das Gewicht der Ketten gequetscht, der Körper von dem widerlichsten Getier zerfressen, anstatt reiner Luft hatte er die Ausdünstung der Fäulnis einzuatmen, und als Obermaß des Entsetzens erschien es ihm immer, dass man ihn mit allen Mitteln gesund pflegte, wenn der Tot endlich Miene zumachen schien, seinen unerträglichen Leiden ein Ziel zu setzen und ihn seinen Henkern zu entreißen. Das war sein Los während dieser langen Reihe von Jahren. Diejenigen für die die Zeit angenehm verläuft, die in Freiheit und Freude leben, denen scheint sie allzurasch zu entfliehen, aber für einen armen Gefangenen, der im Kerker schmachtet, scheint sie regungslos stille zu stehen. Man bedenke, wie viele Jahrhunderte diese 35 Jahre für Latude zu enthalten schienen, dessen immer erneute Leiden sich in der Erinnerung verzehnfachten und seinen Mut und seine Kräfte untergruben. Als er nach einem seiner missglückten Fluchtversuche wieder im Gewahrsam saß und die Öde der scheinbar stillstehenden Zeit nicht zu ertragen vermochte, erhielt er durch die Protektion eines Richters, der ihm mit Wohlwollen entgegenkam und Mitleid mit ihm empfand, einen Privatdiener, mit dem er sprechen durfte, denn allen Gefangenwärtern war es bei schweren Strafen untersagt, mit den Häftlingen zu reden. Aber der arme Teufel von Diener konnte diese Existenz nicht aushalten, er wurde ganz niedergeschlagen, er kränkelte von Tag zu Tag mehr, man entlies ihn nicht, trotzdem er und Latude darum ansuchten und die Vorgesetzten darum beschworen, man lies ihn hinsterben; es schien Latude, als ob man ihn auch mit diesem unglückseligen Anblick peinigen wolle. Man entfernte den Diener erst aus Latudes Zelle als er seinen letzten Seufzer aushauchte. Dieser junge Mensch war nicht imstande, dort drei Monate auszuhalten, wo Latude 35 Jahre verbringen musste und diese drei Monate sollen nach Latudes Behauptung noch verhältnismäßig die besten gewesen sein, die er dort verlebt hatte. Latude sagt an einer Stelle seiner Memoiren: „Ich müsste eigentlich jedesmal, wenn ich von meinen unmenschlichen, ungerechten Richtern spreche, Madame Legros Namen nennen, zur Ehre der Menschheit und um den Glauben an sie wiederzugewinnen.“

Von den vielen guten Menschen, die sich um Latudes Befreiung bemühten, ist es hauptsächlich Madame Necker, deren Eifer es gelang, das schier Unmögliche möglich zu machen. Endlich hatte der Minister den Enthaftungsbefehl unterzeichnet, Madame Necker selbst davon in Kenntnis gesetzt und sie ermächtigt, Latude davon Mitteilung zu machen. Sonst war es Vorschrift, den Enthaftungsbefehl an das Polizeibureau zu schicken, welches es dann an den Häftling weiter beförderte. Der Polizeikommissär Le Noir, der Latude mit seinem Hass immer verfolgt hatte, entblödete sich nicht, dieses Schriftstück sechs Wochen lang zurückzuhalten, und ohne die energischen, mutigen Betreibungen Madame Neckers wäre der Befehl überhaupt unterschlagen worden, Latude hätte im Kerker verbleiben müssen und wäre in Ketten gestorben, trotz des Befehles, der alles aufhob. Aber kaum wird die Freilassung zur Tat, als ein neues Unglück Latude bedroht: eine Bedingung seiner Begnadigung war es, dass er in seinen Heimatsort zurückkehren müsse, dort unter strenger Polizeiaufsicht den Rest seines Lebens zu verbringen habe, und keine Stunde in Paris verbleiben dürfe. Was sollte er in der Heimat, die ihm längst zur Fremde geworden war, wo seine Blutsverwandten sich hartherzig von ihm abgewendet hatten? Madame Legros nahm mit ihren vielen neugewonnenen Freunden den schweren Kampf wieder auf. Nach unsäglichen Mühen und Qualen erreichte sie es, dass Latude in Paris bleiben durfte, sie und ihr Mann nahmen ihn bei sich auf und dort fand er alle Freundschaft und Zärtlichkeit reichlich ersetzt, die ihm seine eigene Familie entzogen hatte!

Madame Legros erlebte nicht die Erstürmung und Zerstörung der Bastille. Sie starb kurz vorher. Aber ihr gebührt mit der Ruhm, sie zerstören geholfen zu haben. Sie war es, die die Phantasie des Volkes mit Hass und Entsetzen für dieses Gefängnis, „du bon plaisir“ erfüllte, in dem so viele Märtyrer des Glaubens und des Gedankens schmachteten. Die schwache Hand einer armen, vereinzelten Frau rüttelte an den massiven Eisengittern der Bastille und machte sie in ihren Grundfesten erbeben.

Das erste Auftreten der Frauen in der Laufbahn des Heroismus (außerhalb der Familiensphäre) fand statt, wie man dessen gewärtig sein konnte, mit einer Tat des Mitleids.

Das war zu aller Zeit so, aber was wirklich dem großen Jahrhundert der Humanität zuzuschreiben ist, was neu und originell ist, das ist die erstaunliche Beharrlichkeit in einem ungemein gefährlichen und unwahrscheinlichen Unternehmen, eine unerschrockene Menschlichkeit, die allen Gefahren Trotz bot, alle Hindernisse überwand und die Zeit bändigte! All das brachte die gute, einfache Madame Legros zustande. Ihr Name ist wert, neben den glänzendsten der großen Revolution genannt zu werden.