Die Zukunft der Religion

Autor: Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner, Erscheinungsjahr: 1866
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Judentum, Religion, Geschichte, Zustandsbeschreibung
Aus: Allgemeine Zeitung des Judentums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse. Herausgegeben von Rabbiner Dr. Ludwig Philippson in Bonn. Verantwortlicher Redakteur: Dr. H. Lotze in Leipzig. Dreißigster Jahrgang. 1866

Es ist heute einer jener eigentümlichen Tage, von denen man nicht sagen kann, ob sie noch dem Herbste, oder schon dem Winter zuzurechnen seien. Als sich in der Frühe die ersten purpurnen Wölkchen im Osten zeigten, spannte sich ein kristallreiner Himmel über die Erde, und der Morgenstern blinkte wie ein glänzender Lichtfunke von ihm hernieder. Auf dem halb falben, halb grünen Rasenteppich lag ein weißer Reif, der die Strahlen der Sonne zu erwarten schien, um zu blitzen und dann in schimmernde Tautropfen sich zu wandeln Aber nur kurze Zeit, und „ein Nebel stieg auf von der Erde,“ und hüllte diese in dichte Schleier, und deckte einen Vorhang über die aufgehende Sonne, und färbte den ganzen Horizont milchweiß. Seitdem kämpften Licht und Nebel den ganzen Tag mit einander. Erhob sich ein frischer Luftzug, so zerstreute er die Nebel, und die Sonne trat siegreich am blauen Himmel hervor und warf der erfreuten Erde das liebliche Lächeln zu, dass das Herz des Menschen aufzujubeln begann. Aber die Kinder der Nacht ruheten nicht, und bald zogen die Nebel wieder über die Flur von den Bergen her, an denen sie sich festgehalten, und verdüsterten die Welt von Neuem. Ebenso wechselnd war es schaurig und frostig, und dann wieder milde und frisch, je nachdem das Licht oder die Schatten die Oberhand gewannen . . . Fürwahr ein Bild unserer Zeit, das wir näher nicht auszumalen brauchen.

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Wir sind im Begriff, in das dreißigste Jahr dieser Zeitung hineinzuschreiten, und so gibt es sich wie von selbst, einige Blicke in das Allgemeine der Zustände, Richtungen und des Charakters unsrer Zeit zu werfen. Das Geschick dieses Blattes war ein einfaches, und selten unruhiges, wenig von einem Sturme, niemals von einem Schiffbruch bedrohtes. Aber in seinem Innern spiegeln sich die Kämpfe dreier Jahrzehnte wohl ab, und die Unruhe der Zeiten und ihre Wirren lassen sich aus jeder Seite herauserkennen und herauslesen. Doch fürchte der Leser nicht, als ob wir ihn durch diese ganze Vergangenheit noch einmal führen, ihm alle die gelösten und ungelösten Fragen noch einmal vorlegen und das oft Besprochene noch einmal besprechen wollten. Dies ist die Sache des künftigen Geschichtsforschers. Eine Zeitschrift ist ein Kind der Gegenwart, und nur an die Gegenwart muss sie sich halten.

Wer jetzt einen überschauenden Blick auf irgend ein Gebiet menschlicher Arbeit wirft, wird nur in wenigen einen Zustand lichtvoller Ordnung, eine einheitliche Richtung, einen bestimmten Pfad mit seinem sichern Ziele finden. Überall ein erfolgreiches Arbeiten im Einzelnen und Speziellen, und darüber ein allgemeines Chaos, ein Durcheinander der Anschauungen, Systeme, Grundsätze, die entgegengesetztesten Strömungen, Zusammenstoß von allen Seiten.

Und dies besonders in der Religion, in allen höheren Fragen des menschlichen Daseins, in allen Erkenntnissen und deren Folgerungen.

Wie oft wurde und wird da die Frage an uns gerichtet, und wie oft begegnen wir ihr in allen möglichen Schriftwerken: was wird da die Zukunft sein? Was wird das Ende alles dessen, was das Ziel insonders der Religion sein? Was wird daraus werden?

Über diese Frage einige Betrachtungen anzustellen und unsre Ansicht auszusprechen, ist es, wozu wir uns heute bewogen fühlten. Hierzu jedoch Einiges voran.

Von Beginn an hielten wir stets zwei Gesichtspunkte fest. Der eine: Die Dinge möglichst so anzusehen und ungeschminkt darzustellen, wie sie sind. Wir wissen sehr wohl, dass der Mensch augenblicklicher Stimmung gar sehr unterworfen ist, und diese ihm trotz besten Willens gefärbte Gläser vor die Augen hält; ebenso dass er sich fast immer zwischen Hoffnungen und Täuschungen bewegt, welche ihm die Erscheinungen dieser Welt bald in farbigem Glanze und in der Frische der Jugend, bald entstellt und blut- und leblos zeigen. Doch ist es dem ernsten und aufrichtigen Streben gestattet, sich von allen diesen Irrungen beinah frei zu machen und aus dem Für und Wider, aus Licht und Schatten, aus Bild und Gegenbild das Richtige und Wirkliche herauszusondern. Der andere ist: auch das Judentum nicht als ein singuläres, völlig gesondertes Dasein zu betrachten, sondern in Verbindung und Wechselwirkung mit allen andern Erscheinungen der Menschenwelt aufzufassen. Seitdem es in seinem göttlichen Ursprung, durch Moses, durch die Propheten und die h. Skribenten seine erste und wesentliche Gestaltung empfangen, hat das Judentum stets in solcher Verbindung und Wechselwirkung mit andern Erscheinungen der Menschenwelt gestanden, und es ist dem Forscher überklar, wie es gegeben und empfangen hat, wie der Geist der Zeiten auf dasselbe gewirkt, und wie es ihn beeinflusst hat, wie es der Strömungen gefolgt, und deren Richtung mitgeschaffen hat. Ja, es lässt sich deutlich nachweisen, dass das Judentum nur dann abgeschlossen und gänzlich gesondert bestand, wenn es in sich erstarrt und vom Geistesschlafe gefesselt ward, und ebenso umgekehrt. Seine höchsten Schöpfungen gingen aus Zeiten hervor, wo ein frischer Hauch der Bewegung durch die Menschenwelt wehte, und auch anderswo ein neugestaltender Geist lebendig war. Und so fand es auch in dem verflossenen Jahrhundert statt, und seitdem die Bekenner desselben immer mehr in das allgemeine Kulturleben einlenkten, wurden sie von dessen Bewegungen ergriffen, und ihre religiösen Anstände entwickeln sich analog aus denselben Motiven. Gestaltet sich daher das innere Leben des Judentums auch spezifisch nach seiner Art, so liegen doch dessen Motive in denselben allgemeinen Ursachen, die auch auf den andern Gebieten ähnliche Erscheinungen hervorrufen. —

Zu aller Zeit hat es eine Verneinung gegeben. Nicht allein bei den Völkern und in den Zeiten, wo die Religion teils als Philosophie, teils als Volksmythologie bestand, musste sie es sich gefallen lassen, dass die freie Entfaltung des Geistes in ihren Gegensatz verfiel, sondern auch da, wo sie als eine abgeschlossene Positivität herrschte. Ja, je strenger sie sich als solche aufstellte, und je drückenderes Joch ihre Diener deshalb auf den Nacken des Menschengeistes legten, desto rascher und furchtbarer bereitete sich die Verneinung vor, um unerwartet zu einem gewaltigen Kampfe hervorzutreten. Materialismus, Mechanismus, Atheismus und Pantheismus sind nur verschiedenartige Auffassungen derselben Verneinung dessen, was von Beginn an und durch alle Jahrtausende in den Menschengeistern gelebt, was mit der Natur des menschlichen Geistes völlig verwachsen, was in seinen Gesetzen gelegen ist. Aber zwischen dem wildbewegten Ozean der Verneinung und den starren Felshöhen abgeschlossener Positivität, streng formuliert in Glaubenslehren, und Satzungen, liegt die weite Ebene, die bearbeitet, durchfurcht, besäet und befruchtet sein will, um zahllosen Menschensöhnen Nahrung und Wohnstätte darzubieten. Tiefe weiten Gebiete wollen nicht von den Wassern der Verneinung überschwemmt seien, aber auch nicht von den dunklen Schatten versteinerter Positivität bedeckt und von den rauen Winden, die von ihren Schneefirsten herabwehen, durchschauert sein. Je mehr das wissenschaftliche, industrielle, politische und soziale Leben an Kraft und Entschiedenheit, an Bewegung und freier Entfaltung gewann, desto nachdrücklicher verlangte es von der Religion, sich seiner Entwicklung anzuschließen, sich mit dieser auszugleichen und die Gegensätze zur Versöhnung zu bringen. Es entstand hier zuerst der Rationalismus, der mit oberflächlicher Vernünftigkeit die Erscheinungen der Welt und des Lebens so zu verstehen und zu deuten suchte, wie sie sich äußerlich darstellen und in ihrer Oberfläche erklären lassen. Von der einen Seite wies er jede tiefere philosophische Erforschung der Dinge ab, von der andern die historische Gestalt der positiven Religion. Teils versuchte er alles Supernaturalistische in ihr, indem er es als Faktum bestehen ließ, vernünftig zu erklären, teils wollte er selbstschöpferisch auftreten und sich eine sogen. Vernunftreligion bereiten, ohne zu merken, dass er nichts weiter tat, als einige Lehrsätze der positiven Religion zu entlehnen und diese, ohne sie fundamentieren zu können, nach seinen Voraussetzungen durchzuarbeiten. Diese Pfade waren bald abgegangen, und hatten zwiefache Nachfolger. Bei den Einen wollte der Mystizismus das misslungene Werk des Nationalismus ersetzen, und ein willkürliches Gebilde der Phantasie, mit Elementen der Gemütlichkeit verquickt in die Dogmen und Satzungen der positiven Religion hineinzwängen, um diesen ihre Herrschaft zu wahren und als Gefäße mit neuem Inhalt für weitere Zeiten zu erhalten. Andrerseits übernahm der Kritizismus das Erbe des Rationalismus, wendete sich gegen die heiligen Schriften als die Grundlagen der positiven Religion und gegen die Autorität der Satzungen als geschichtlich gewordene und darum zeitlich wandelbare. Ihm galt die nackte Tatsache, aller Umhüllung entkleidet und von ihrem geistigen Inhalte getrennt, als das allein Gültige und Begründete. Man sieht leicht ein, dass beide wohl zu vielfacher Wirkung, aber zu keiner wirklichen Herrschaft gelangen konnten, da der Mystizismus nur bei einzelnen Schwärmern und bei unkultivierten, naiven Völkern Boden findet, der Kritizismus aber für den Menschen bedeutungslos wird, da unter seinen Händen selbst die übrig bleibende Tatsache ohne Wert und Gehalt zurückbleibt. Hierzu kam nun noch, dass die Philosophie ihren neueren Kreislauf beendet, und die exakten Wissenschaften einen noch nie dagewesenen Aufschwung errungen hatten, diese zugleich vermittelst ihrer Erfolge und Ausbreitung ihrer Anschauungen und Methode tief in das allgemeine Leben einführten, und damit den positiven Glauben unterwühlten. Bei allem Dem hat jedoch alles Historische, d. h. von Alters her Gewordene und durch große Epochen hindurch Bestehende eine außerordentliche Wucht, und in den Bedingungen seiner Existenz liegt es, dass, sobald es sich in seinem Bestände bedroht sieht, es sich nur um so fester in seine alten Mauern und Bollwerke zurückzieht. So lange das Leben ihm nur eine freundliche Hand bietet, um sich ihm zu nähern und neben ihm zu existieren, öffnet es unvorsichtig seine Tore und Zugänge, begibt sich mitten in das Leben hinein, erfreut sich an ihm, und glaubt, indem es sich ihm anschmiegt, es auch fernerhin zu beherrschen. Kommt es aber von diesem Wahne zurück, fühlt es, dass die freie Bewegung gegen seine Höhen gerichtet ist, und diese ersteigen und abtragen will: so wacht es zu einer energischen Reaktion auf, stößt alle die Ausgleichungsversuche mit eiserner Faust von sich und verlangt die unbedingte Herrschaft zurück, von welcher es selbst schon so viel aufgegeben. Man erlebte dies tatsächlich an der Aristokratie und Geistlichkeit, die im vorigen Jahrhundert so viel mit der Freiheit und Vernünftigkeit geliebäugelt, bis diese beide ihre realistischen Konsequenzen forderten.

Daher dieses Chaos der mannigfaltigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der Religion, innerhalb der Grenzen aller positiven Religionen. Da stehen sich zunächst die beiden großen Gegensätze der Verneinung, wie sie sich nm Materialismus, Atheismus und Pantheismus schattiert, und der abgeschlossenen Positivität in der Gestalt der Dogmen und Satzungen, wie das Mittelalter sie uns überliefert hat, gegenüber, der eine so schroff wie der andere, der eine so entschieden wie der andere. Aber je schroffer und entschiedener die Verneinung und je mehr sie durch Popularisierung in die Masse einzudringen sucht: desto nachdrücklicher erhebt sich eine Reaktion gegen sie in den edelsten und erleuchtetsten Geistern, in vielen Männern der Wissenschaft selbst — denn die Verneinung widerspricht der innersten Natur des Menschen und allen ihren Bedürfnissen; sie ist das Nichts, aus dem die Menschheit auch Nichts machen kann; sie ist ein Kriterium und Korrektiv, aber kein Inhalt und kein Wesen. Und je schroffer und entschiedener die mittelalterliche Positivität in ihrer Unbedingtheit und Ausschließlichkeit wieder erstanden und sich erkräftigt hat; je mehr sie die locker gewordenen Zügel der Herrschaft über das Volk wieder anzieht und dem Geiste von Neuem Zaum und Geschirr anlegen will: desto nachdrücklicher erhebt sich eine Reaktion gegen sie; man sieht die teuersten, schwer errungenen Güter der Entwicklung in Gefahr; die Quellen des Lebens sollen abgedämmt, und Schleusen errichtet werden, welche jedem Fahrzeug geistiger Tätigkeit nur nach Belieben die schmale Wasserstraße öffnen sollen. Man sieht ein, dass es sich hier um ein Entweder — Oder handelt, weil jede Entwicklung, jede freie Entfaltung des Geistes, jede frische Bewegung des Lebens mit diesem Non possumus unvereinbar ist. Aus allen diesen Aktionen und Reaktionen, die sich nur in verschiedenster Art in den Geistern regen, sie von einer Seite zur andern, aus einer Richtung in die andere werfen, müssen selbstverständlich die vielfachsten, eigentümlichsten und sonderbarsten, extremen und gemischten Gebilde entstehen, und so dem beschauenden Auge ein wirres Gesamtbild bieten.

(Schluss folgt.)

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner

Philippson, Ludwig Dr. (1811-1889) deutscher Schriftsteller und Rabbiner

Allgemeine Zeitung des Judentums. 1866

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