Die Völkerschaften Arabiens

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1875
Autor: O. M., Erscheinungsjahr: 1875

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Arabien, Völkerschaften, Religion, Sitte, Islam, Reformbestrebungen, Schriftsprache, Maltzan, Burckhardt, Wellsted, Burton, Reisen, Mekka, Medinah, Koran
Wie sehr auch in den letzten siebzig Jahren die kühnen Reisen von Europäern wie Burckhardt, Wellsted, Burton, Maltzan u. A. m., welche als Moslems verkleidet bis nach Mekka und Medinah vorgedrungen sind und Arabien teilweise bereist haben, uns mit diesem merkwürdigen Land bekannt machten, so ist unsere Kenntnis von den heutigen Zuständen Arabiens doch noch immer eine verhältnismäßig beschränkte, was bei der großen Ausdehnung der arabischen Halbinsel auch gar nicht verwundern kann. Man nimmt zwar im Allgemeinen an, dass sich in der Welt des Islam seit mehr als einem Jahrtausend nach Religion und Sitte ungemein wenig verändert habe, indem der ganze geistige Zustand der Bekenner dieser Religion jedem Fortschritt und jeder Umbildung außerordentlich abhold ist, allein diese Vermutung wird durch die Geschichte der Wahabiten oder Wechabiten einigermaßen widerlegt, da sie beweist, dass diese Reformbestrebungen in religiöser und politischer Beziehung gerade von Arabien ausgingen.

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Zwar erscheint die heutige Bevölkerung Arabiens, Mesopotamiens und der angrenzenden Länder nach Religion und Sitte als eine in sich unterschiedslose Masse von derselben Abstammung, allein man weiß, dass die verschiedenen Völkerschaften nicht einmal eine gemeinsame Sprache reden, denn während im Nordwesten der arabischen Halbinsel die reine arabische Schriftsprache des Koran als Volksmundart mit ihren Schriftzeichen noch im Gebrauche ist, herrscht im Süden und Osten sowohl im Volksmunde wie in den Schriftzeichen eine wesentlich verschiedene, scheinbar noch ältere Sprache, deren Schriftzeichen von den eigentlich arabischen abweichen und mit denen der Schriftdenkmäler einer fernen Vorzeit übereinstimmen — die sogenannte himjaritische Sprache, welche dem Schriftarabischen des Koran nur weitläufig verwandt ist. Außer einer Menge örtlicher Dialekte aber findet man in Arabien sogar noch eine verschiedene Sprache der Vornehmen oder Adeligen und eine Mundart des eigentlichen Volks, welche beide sich seit uralten Zeiten getrennt und unvermischt erhalten haben und deutlich darauf hinweisen, dass nicht das ganze Volk einen gemeinsamen Ursprung hat, sondern aus Urbewohnern und ihren sieghaften eingewanderten Bezwingern gemischt ist. Und diese Sieger und Eroberer waren die tapferen kriegerischen Bekenner des Islam, die Heere der ersten Khalifen, welche den unterjochten Völkerstämmen ihre Sprache und ihre Religion aufgedrungen haben, und ebenso ihre Gesetze, Sitten und Bräuche, denn diese finden ja im Koran ihre Begründung.

Heutzutage ist der türkische Sultan, der Osmanen-Padischah zu Konstantinopel, der nominelle Oberherr von Arabien, weil er als der Besitzer des Schwertes und der Fahne des Propheten Mohamed und als Erbe der Khalifen der Schirmherr des Islam ist; allein nur die sunnitische Bevölkerung Arabiens und der Küstenstriche sowie der Hedschas erkennen diese Oberherrlichkeit an, dagegen sind im Innern noch sehr viele Stämme unabhängig, zumal die der nomadischen Beduinen, welche dem Großherrn nur ungern Tribut entrichten und Heeresfolge leisten, und die Stämme im Südwesten, welche den Imam von Sana'a oder Yemen, und die Stämme der Ostküste, welche den Imam von Oman oder Maskat als ihren Oberherrn anerkennen. Der alte orientalische Brauch, dass die einzelnen Völkerschaften in patriarchalischer Weise sich aus Stämmen unter selbstgewählten oder erblichen Herrschern und diese Stämme wieder aus Familien zusammengetan und diesen sozialen Zustand seit Jahrtausenden ausrecht erhalten haben, macht sich noch heute in den gesellschaftlichen Einrichtungen Arabiens geltend.

Die moslemitischen Eroberer hatten eine Art Lehenwesen eingeführt, welches indessen nur von denjenigen Stämmen gerne angenommen würde, welche damals sesshaft und im Besitz geordneter Gemeinwesen und einer höheren Bildung und Gesittung waren, das aber von den halbwilden und nomadischen Stämmen niemals gern angenommen oder ernstlich willkommen geheißen ward, und welches gegenwärtig auch tatsächlich gebrochen ist. Deshalb erscheint heutzutage der Verband, welcher die Stämme Arabiens zusammenhält, mehr eine Art föderaler Republik, denn die einzelnen Stämme haben ihre angestammten Schechs und Emirs oder solche, die sie sich selbst erwählt haben. Diese Häuptlinge stehen unter einander in einem Schutz- und Trutzbündnis, damit sie weder von dem Padischah noch von dem Vizekönig von Ägypten vergewaltigt werden können.
Unser Bild S. 417 stellt einen dieser arabischen Emirs dar.

Ein arabischer Emir

Ein arabischer Emir