Die Unruhen in Marokko. III.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Marokko, Fez, Mauren, Araber, Schwarze, Berber, Juden, Hochschule, Bibliothek, Wasserreichtum, Atlas
Die Haupt- und Residenzstadt Fez, in die sich der Sultan Mulay Abdul Asis von Marokko nach der
Niederlage seiner Truppen durch die Aufständischen zurückgezogen hat, liegt 185 Kilometer südöstlich von der Hafenstadt Tanger am wasserreichen Ued Fez auf einer Hochebene zwischen den nördlichen Ausläufern des Atlas. Sie zerfällt in das größere Alt-Fez und das kleinere Neu-Fez; beide sind in weitem Umkreise von einer mächtigen 10 Meter hohen Mauer mit viereckigen Türmen
umgeben, die aber gleich der alten Zitadelle, der Kasbah, stellenweise so schadhaft und verfallen sind, dass sie modernen Geschützen nur kurze Zeit Widerstand zu leisten vermöchten. Innerhalb dieser Mauerumwallung drängt sich die Häusermasse der Stadt zusammen, umgeben und vielfach durchbrochen von Gärten und Orangenhainen. Die Zahl der Bewohner beträgt nach der höchsten Schätzung 150.000, ein buntes Gemisch von Mauren, Arabern, Berbern, Schwarzen und Juden.

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Von öffentlichen Gebäuden besitzt Fez außer dem Palaste des Sultans, einer arabischen, ganz heruntergekommenen Hochschule und einer Bibliothek noch 135 Moscheen von den ehemals vorhandenen 785, darunter die des Mula Edris, das größte und berühmteste Heiligtum ganz Nordwestafrikas. Auch nimmt die Stadt in Handel und Industrie noch immer einen bedeutenden Rang ein. Einer ihrer Hauptvorzüge ist ihr Wasserreichtum. Den von den Schneebergen des Atlas gespeisten und daher auch im heißesten Sommer stets wasserreichen Ued Fez hat man oberhalb der Stadt durch ein Wehr abgesperrt, und er versorgt nun durch Tausende meist unterirdischer Kanäle die Häuser, Plätze und Gärten mit dem lebenspendenden Nass. Von ferne gesehen, im Glanze der südlichen Sonne und in der klaren trockenen Luft dieser Hochebene, die alle Umrisse so scharf erkennen, alle Farben so rein leuchten lässt, macht Fez denn auch im Kranze seiner halbtropischen Vegetation einen herrlichen Eindruck, der aber sofort verfliegt, sobald man die Ringmauer passiert hat. Das Innere ist ein Gewirr enger, krummer, schmutziger Gassen, meist so schmal, dass zwei Personen eben einander ausweichen können. Selbst die lange Hauptstraße hat nur eine Breite von 2 Meter. Eingefasst werden diese Gassen von hohen, kahlen, zum Teil verfallenen Häusern, die nach außen nur ganz wenige, kleine, vergitterte Fenster haben. Der berühmte italienische Schriftsteller E. de Amicis schildert aus eigener Anschauung
Fez folgendermaßen: „Der erste Eindruck war der einer ungeheuren, in Altersschwäche und Verfall geratenen Stadt. Große Häuser, die aus übereinander getürmten Gebäuden gebildet zu sein scheinen, haben von oben bis unten Risse, sind auf jeder Seite gestützt und haben als einzige Öffnung eine Luke in Form eines Kreuzes; lange Straßenzüge, von zwei hohlen kahlen Mauern wie Festungsmauern flankiert; Straßen, die bergauf, bergab gehen und alle dreißig Schritt eine andere Richtung einschlagen; hier und da ein langer, bedeckter Durchgang, dunkel wie ein Keller, durch den man tasten muss Sackgassen, Winkel, Höhlen mit Knochen, toten Tieren und Haufen fauler Stoffe. An einigen Stellen ist der Boden so geborsten, der Staub so dick, der Geruch so schrecklich, die Fliegen sind so zahlreich, dass man anhalten muss, um zu atmen. In einer halben Stunde haben wir so viele Wendungen gemacht, dass der Weg, wenn er ausgezeichnet würde, eine verschlungene Arabeske wäre. Hier und da hören wir das Klappern einer Mühle, das Murmeln des Wassers, das Geräusch eines Webstuhls, den Gesang nasaler Stimmen, der von Schulkindern zu kommen scheint, aber wir sehen nichts. Wir nähern uns dem Zentrum der Stadt; der Verkehr wächst, die Männer halten an, lassen uns vorbei und starren erstaunt, die Weiber kehren zurück oder verbergen sich, die Kinder schreien und rennen, die größeren Knaben heulen und drohen in der Entfernung mit der Faust. Wir sehen Quellen mit Mosaikfassung, maurische Türen, gewölbte Höfe, einige wenige verfallene Überreste arabischer Architektur. Jeden Augenblick finden wir uns beim Betreten eines der vielen bedeckten Gänge in der
Dunkelheit. Wir kommen zu einer Hauptstraße von etwa 6 Fuß Breite, die voller Leute ist, die sich um uns drängen. Unsere Soldaten schreien und stoßen vergebens und machen endlich eine Art Bollwerk aus ihren Körpern, denn sie schließen einen Kreis um uns, mit dem Gesicht nach außen, und fassen sich an den Händen. Tausend Augen ruhen auf uns; wir können in dem Gedränge und der Hitze kaum atmen, bewegen uns langsam vorwärts und halten jeden Augenblick an, um einen Mauren zu Pferde, eine verschleierte Frau auf dem Kamel oder einen Esel mit einer Last blutender Hammelköpfe vorbeizulassen.“ — Da der Sultan seinen Untertanen in Fez nicht zu trauen scheint, hat er sich in die Zitadelle zurückgezogen. Ein jüngst unternommener Vorstoß gegen den aufrührerischen Stamm der Hiainas brachte ihm einen kleinen Erfolg, denn die Truppen kehrten mit einer Anzahl abgeschlagener Köpfe und Gefangenen zurück, die natürlich nach marokkanischem Brauche alsbald hingerichtet werden, damit ihre Köpfe neben denen der im Kampfe erschlagenen Gefährten als Siegeszeichen an den Toren aufgesteckt werden können.

Die Unruhen in Marokko - Ansicht von Fez

Die Unruhen in Marokko - Ansicht von Fez

Die Unruhen in Marokko - Der Sultan Mulay Abdul Alis auf einem Ausritt vor die Mauern von Fez

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Die Unruhen in Marokko - Gefangene Anhänger des Thronforderers erwarten ihre Hinrichtung

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