Die Ukraine – nationale Merkmale

Aus: Die Ukraine und ihre Bedeutung im gegenwärtigen Krieg mit Russland
Autor: Kuschnir, Wladimir Dr. (1881-1938) Historiker und Publizist, Erscheinungsjahr: 1915
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Ukraine, Österreich, Preußen, Polen, Schweden, Deutschland, Kosaken, Landesgeschichte, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Landesbeschreibung, Politik, Peter der Große, Katharina II., Geschichte
Anthropologisch bilden die Ukrainer einen eigenen Typus und zeichnen sich aus durch großen Wuchs, Brachykephalie, dunkle Haare und Augen und gerade schmale Nase. Der russische Anthropologe Iwanowskij behauptet, dass die Ukrainer äußerst wenige Anthropologische Ähnlichkeiten mit den Russen und Polen haben, während die letztgenannten Völker vielfach einen ähnlichen Typus aufweisen. Nach ihm ist der Nasenbau beim Ukrainer schmal, beim Russen und Polen aber breit, weiter hat der Ukrainer kürzere Arme als der Russe und längere Füße als der Pole usw. Das psychologische Bild des Ukrainers ist demjenigen des Russen diametral entgegengesetzt.

Die Einheitlichkeit der ukrainischen Sprache ist derart vollkommen, dass vom San bis zur Kuban, also im Durchmesser von über 2.000 Kilometern, so gut wie gar keine Dialektunterschiede bestehen. Die von den russisch-nationalistischen Sprachgelehrten in Frage gestellte Eigentümlichkeit der ukrainischen Sprache, ihrer Selbständigkeit und Originalität, kann heute wissenschaftlich nicht mehr bestritten werden. Zum Überfluss hat im Jahre 1906 selbst die kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu Petersburg in einer offiziellen Kundgebung anerkannt, dass die russische und die ukrainische Sprache etwas Grundverschiedenes sind.

Die Ukrainer gehören mehreren religiösen Konfessionen an. Die überwiegende Mehrheit der Ukrainer in Russland und in der Bukowina ist orthodox, die Ukrainer Galiziens und Ungarns sind griechisch-katholisch. Überdies sind in Galizien und der ganzen westlichen Ukraine römisch-katholische Ruthenen zerstreut. Gegen acht Prozent der Ukrainer Russlands bekennen sich insgeheim zum Protestantismus.

Di Ukrainer bezeichnen sich als „Ukrajinci“ (Ukrainer), nur wird von den Ukrainern Österreichs und außerdem in einem Teile des russischen Podolien und Wolhynien der Name „Russyny“ (Ruthenen) gebraucht. Diese lokale Abweichung der allgemeinen Volksbezeichnung, die übrigens bei allen Völkern vorkommt, findet seine Erklärung in der Geschichte der Ukraine.

Diesen von der Natur gegebenen Voraussetzungen für den Bestand der Ukrainer als selbständige Nation, reihen sich ihre geistigen Eigenschaften, wie sie sich in der nationalen Kultur äußern, gleichwiegend an. Als ein zweckmäßiger Maßstab dient uns hier der Vergleich der nationalen Kultur der Ukrainer mit jener der Russen.

In diesem Belange ist schon der religiöse Charakter des ukrainischen Volkes ein dankbares Vergleichsobjekt. Die religiöse Toleranz, die sich von der Auffassung des inneren Wertes der Religion und Geringschätzung der Formalitäten herleitet, ist eine hervorragende Eigenschaft des ukrainischen Volkes. So sind auch andererseits aus dem ukrainischen Volke nie religiöse Konflikte hervorgegangen, wie sie die Geschichte des Mittelalters kennzeichnen. Ritualmordprozesse sind in der Geschichte der westeuropäischen Völker ein dichtbeschriebenes Blatt, wogegen die Geschichte der Ukraine auch nicht einen einzigen solchen Fall kennt. Demgegenüber wurden in Moskovien Leute auf den Scheiterhaufen gesetzt wegen Streitigkeiten, ob das Zeichen des heiligen Kreuzes mit drei oder mit allen fünf Fingern richtig gemacht wird. — Das ukrainische Volk, welches die anderen nach ihrer Fasson glücklich sein ließ, wahrte gleich entschieden die Freiheit seiner Kircheneinrichtung. Das Streben nach der Autonomie der Kircheneinrichtung lässt sich bis ins XI. Jahrhundert zurückverfolgen und führte im XVII. Jahrhundert zu Konflikten mit der russischen Regierung. Auf dieses Streben ist auch die Neigung der Ukrainer zur kirchlichen Union mit Rom zurückzuführen, wodurch die ukrainische Kirche von der russischen und polnischen Suprämatie verschont werden sollte.

Demselben Streben nach Freiheit begegnet man auch bei den Ukrainern in sozialpolitischer Hinsicht. Dies hatte wohl die Zerstückelung ihres großen Reiches in kleine Teilstaaten und den durch unfreundliche äußere Verhältnisse beschleunigten Untergang der letzteren zur Folge, aber es rief später die berühmten Kircheninnungen (kultureller Faktor) und das ritterliche Kosakenvolk (militärischer Faktor) ins Leben, es gab schließlich im XIX. Jahrhundert nicht nur dem ukrainischen Volke selbst, sondern auch dem polnischen und dem russischen Volke Führer ihrer bedeutendsten Freiheitskämpfe (polnische Aufstände seit Kosciuszko, russische Freiheitskämpfe seit dem Dekabristenaufstand). So erklärt sich auch die Tatsache, dass sowohl in der polnischen, als auch in der russischen Literatur nicht die eigene Geschichte dieser Völker, sondern gerade die Geschichte des ukrainischen Volkes Themen für Dichtungen freiheitlichen Charakters verlieh (die sogenannte „ukrainische Schule“ in der polnisch-romantischen Literatur und eine ähnliche Richtung in der russischen Literatur mit Rylejew an der Spitze).

Insofern die Literatur der Spiegel des Lebens eines Volkes ist, ist festzustellen, dass der Charakter der ukrainischen und russischen Literatur grundverschieden ist. Bereits von den ältesten Werken der ukrainischen Literatur, wie die Chronik Nestors, die Kijewer und die wolhynische Chronik, behaupten die russischen Gelehrten, vor allem Solowjew, einträchtig, dass sich diese gegenüber den ältesten Denkmälern der russischen Literatur durch ihren Idealismus, Realismus und stilistischen Schwung auszeichnen. — Diese Eigenschaften kommen in der Volksliteratur womöglich noch greller zum Vorschein. Von Kostomarow bis auf die Gegenwart, stellen alle Gelehrten fest, dass während für die ukrainische Volksdichtung der Idealismus und jene Eigenschaften charakteristisch sind, die wir in dem religiösen und sozialpolitischen Leben der Ukrainer festgestellt haben, die russische Volksdichtung das Gepräge das Materialismus und aller Folgen der despotischen Staatseinrichtung trägt.