Der 12. bis 13. November 1872 in Fischland auf dem Darß

Der Morgen des 12. Novembers war angebrochen. Durch die zum Teil schon entlaubten Äste der Bäume stahl sich in der stillen Morgenstunde der Sonne ein blutroter Glanz. Nur im Osten war der Himmel von Wolken frei, alle übrigen Gegenden hüllte jener Nebel ein, der im Monat November an den Küsten der Ostsee niemals fehlt und der den Himmel und das Wasser zu einem undurchbrochenen Grau mit einander verbindet.

Unter der alten Linde, die vor dem Eingang in den Pfarrhof stand, und unter welcher, so lange das Wetter und die Jahreszeit es erlaubten, die Häupter der vier Familien bald nach Sonnenaufgang zusammenkamen, um von dem Postmeister die in der Nacht angelangten Zeitungen und Briefe in Empfang zu nehmen, stand an jenem Morgen um acht Uhr noch allein der alte Pfarrer. Sein Auge hing prüfend am Himmel und schaute besorgt durch die Eichen den lodernden Strahlen der Sonne zu.


„Wird ein schöner Tag werden, Pastor“, unterbrach ihn in seinen Betrachtungen des Postmeisters fröhliche Stimme, „selten im Herbst, das die Sonne sich zeigt, wenn sie ihre Koje verlassen; und immer dann schön Wetter, wenn der Wind so lange wie jetzt aus Süden steht, wirst fröhliche Hochzeit im Hause haben, Pastor!“

„Meinst Du“, entgegnete der Pastor bedenklich, „sieh, ich war eigentlich besorgt, der blutrote Sonnenschein gefällt mir nicht, er kann Sturm bringen und Unwetter, und das wolle Gott verhüten. Die Söhne können nicht mehr weit vom Hafen sein. Nach ihrem letzten Brief und nach meiner Rechnung müssen sie heute in Rostock einlaufen. Dann können sie noch heute Abend mit der Post ankommen, und morgen ist Elisens Hochzeit, aber wenn Sturm kommt -.“

„Und der kommt ganz gewiss“, unterbrach Kapitän Gerhard, „ganz bestimmt; ich komme eben von der Düne und habe ausgelugt. Nie habe ich so lange ich hier wohne, einen solchen Wasserstand gesehen. Der Strand ist bis an den Fuß der Düne unter Wasser. Die See geht hoch und schwer, trotzdem es aus Süden weht, wenn der Wind umgeht, haben wir Sturm. Die Kinder sind hoffentlich schon im Hafen, widrigen Wind haben sie nicht gehabt, und da sie mit Ballast gehen, hält sie nichts auf.“

Jetzt trat der Förster zu den drei Freunden. Er hatte das Gewehr über dem Rücken und war im Begriff in den Forst zu gehen.

„Willst wohl noch den Hochzeitsbraten schießen, die Fasanen, die aus den Waldungen des Fürsten sich zu uns verirren; ist etwas spät, Förster, der Fasan muss mehrere Tage hängen!“

„Ach was, Fasanen“, entgegnete der Förster fast ärgerlich, „ habe mit anderem Gevögel heute Nacht genug zu tun gehabt, ist mir so etwas in meinem Leben nicht vorgekommen.“

„Was hat es den gegeben?“ fragte der Postmeister.

„Eulen hat’s gegeben, Eulen, so viel Eulen, wie ich in meinem ganzen Leben noch nicht zusammen gesehen; Eulen, als hätten sie sich alle in dem Forst verschworen, mir heute Nacht einen Besuch abzustatten. Geh hin nach der Scheune des Forsthauses, dort sitzt die ganze Gesellschaft auf dem Balken, groß und klein, alt und jung. Mir ist das Geschrei so zuwider, drum ging ich aus dem Hause. Wir bekommen Unwetter, es ist ein untrügliches Zeichen.“

Da erscholl plötzlich ein kreischender Ton aus der Höhe. Die vier Freunde wandten ihren Blick nach dem Turm.

„Seht Ihr’s“, rief der Kapitän, „Der Wind geht Nordost, und in weniger als 10 Minuten bläst er von See, kommt, lasst uns nach der Düne gehen.“

Die Freunde brachen auf. Sie hatten vielleicht zehn Minuten bis an den Fuß der Düne zu gehen, dann begannen sie dieselbe zu ersteigen. Schon wehte es scharf und durchdringend aus Nordost, schon tanzten die weißen Enten auf den Spitzen der Wellen, schon wölbte der kaum unterscheidbare Himmel in seinem fahlen Grau über den Wassern seinen Bogen. Der Sturm peitschte mitunter einen feinen mit Schnee untermischen Regen daher, die Brandung brach sich höher und höher an der Düne und in einem Augenblick, als der Himmel sich klären zu wollen schien, bot sich etwas Unerhörtes den Blicken der Beobachter. In weiter nicht zu ermessender Ferne war es, als ob die See von unten gehoben würde, als ob sie maßlos und reißend schnell zu einem Gebirge emporwüchse, welches das Festland zu überschütten drohte.

„Lasst uns ins Dorf eilen und Lärm schlagen“, begann der alte Pfarrer, „Die Boote müssen höher an Land; wenn die Flut noch drei Fuß steigt sind sie verloren.“

Die Freunde, mit Ausnahme des Kapitäns, eilten nach dem Dorf. Dieser blieb auf der Düne und schaute in die See. Nach allen Seiten prüfte er mit dem Glase den Horizont und wendete sich endlich ziemlich beruhigt zu den herbeieilenden Fischern, deren Frauen und Kindern, denn kein Segel, kein Mast war auf See zu erblicken.

Es war hohe Zeit, und die Arbeit begann. Man zog die Fischerboote mit den Gerätschaften – sie bilden ja das hauptsächlichste Vermögen der Fischer – höher auf die Dünen, so hoch, dass sie gegenüber dem seit zwei Jahrhunderten bekannten Wasserstande im vollsten Schutze lagen. Glücklicher Weise waren die Fischer alle daheim und niemand von ihnen in See. Gegen 10 Uhr war die Arbeit vollbracht, der Sturm blieb auf seiner Höhe, aber er wuchs nicht mehr, und beruhigt kehrten die Fischer heim.

Im Pfarrhaus war es lebendiger als je. Dort wurde geräumt und gescheuert zur bevorstehenden Hochzeit. Der Wald hatte seine Tannenreiser, der Garten seinen Buxbaum geliefert, die Türen und Treppen waren festlich bekränzt, die Tische schon gestellt und gedeckt. Es war Nachmittag geworden. Seit 13 Uhr war der Sturm wieder im Wachsen, aber der auf der Düne aufgestellt Posten hatte keine Nachricht gebracht, und es ergab sich daraus, dass auch jetzt noch kein Schiff in Sicht und in Gefahr war. Der alte Pfarrer ging tief bewegt in seinem Zimmer auf und ab, die Stunde nahte heran, dass seine Schwiegersöhne mit dem Fährboot kommen mussten, durch welches das auf einer Halbinsel liegende Dorf mit dem Festlande und der nächsten Poststation verbunden war. Elise war trotz Sturm und Regen zu ihren Schwestern gegangen. Diese wohnten unweit der Kirche in zwei nebeneinander liegenden Häusern, nur durch einen Garten getrennt. Auch diese Häuser waren freilich geschmückt. Es ist eine alte, wahrhaft herrliche Sitte unter den Schiffern, dass, so lange der Schiffer zur See, die Laden des Hauses bis auf einer eigens bestimmten Frauenstube, die sich auf der Hinterseite des Hauses befindet, geschlossen, und mit Ausnahme dieses Zimmers, alle übrigen Stuben unbewohnt bleiben. Kehrt aber der Schiffer von der Reise heim, so werden die Laden geöffnet, die Möbel abgestaubt, die Zimmer gescheuert, und das ganze Haus wird bewohnt. Johanne und Marie erwarteten ihre Männer. Elise traf beide mit den Kindern im Hause der ersteren. Kaum hatte das kräftige Mädchen bis zur Schelle gelangen können. Wiederholt hatte der Sturm sie gefasst und in das Gebüsch geworfen, mit Not war sie niederstürzenden Ästen entgangen. Elise traf ihre Schwestern in halber Verzweiflung. Beide Frauen waren früher mit zur See gefahren, beide kannten den Sturm aus Nordost und die gefahrvollen Küsten der Ostsee. Während Elise, die selbst des Trostes bedurfte, da der Abend vor ihrer Hochzeit ihr schon jetzt verdorben war, ihre Schwestern zu beruhigen suchte, erschien plötzlich der Bräutigam, der Hauptmann. Bleich wie der Tod trat er ein und bat in kurzen abgerissenen Sätzen, dass die Frauen mit den Kindern nach der Pfarre kommen und all ihr bares Gel mitbringen sollten.

„Was ist Dir, Ernst, was hast Du?“

„Das Wasser steigt von Minute zu Minute, es ist fraglich, ob die Deiche an der Westküste halten werden; wenn das Wasser noch einen Fuß steigt, überflutet es die Deiche, und das Dorf ist verloren.“

„Gott im Himmel, das wäre entsetzlich.“

„Unglück ist schon genug geschehen. Der Vater hatte den Fischer Lorenz zur Fähre gesendet, um nachzusehen, ob die Schwäger kämen. Ein Baum hat den Lorenz erschlagen, seine Frau hat vor Schrecken zu frühe Niederkunft gehalten und liegt im Wahnsinn auf der Diele. Die Nachbarn haben sie gebunden, um sie zu retten.“

In höchster Eile packten die Frauen jetzt das Wertvollste, was sie besaßen, zusammen und eilten dann mit den Kindern durch Nacht und Sturm zu der Pfarre. Hier trafen sie den Pastor, der mit seinen Freunden und mehreren Fischern Rat hielt, was zu tun sei. Aber alle waren ratlos. Die Deiche waren eine viertel Meile lang, die Gefahr lag nicht im Durchbruch, sondern in der Überflutung derselben.

Die Nacht begann sich herabzusenken, die furchtbarste entsetzlichste Nacht, die seit Jahrhunderten ihren Schwarzen Schleier über die Küsten der Ostsee gebreitet. Von Minute zu Minute nahm das wütende Brüllen der See an Heftigkeit zu, krachend brachen im Walde die Bäume zusammen, ausgerissen wurden Eichen und Buchen, splitternd brachen die Fichten. Die Minuten wurden zu Jahren, Hilfe war nirgends zu erlangen, schon gegen Abend hatte der Telegraph, den der Postmeister, um Beistand aus Berlin zu erbitten, hatte spielen lassen, seine Dienste versagt, der Draht war zerrissen. So kam endlich Mitternacht heran, als es heftig an die Tür der Pfarre pochte. Der Fischer, der als Posten auf der Düne gestanden, trat bleich und keuchend ein.

„Die See reißt die Dünen weg, von der ersten ist schon nichts mehr zusehen und auf dem Schaar liegt ein großes Schiff!“

„Ein Schiff, ein Schiff!“ Wie ein elektrischer Funke zündete die Nachricht im Herzen der Versammelten.

„Auf die Düne, auf die Düne!“ Im Augenblicke war, was an Rettungswerkzeugen vorhanden, zusammengebracht, und die Männer eilten unter Anführung des alten Pfarrers nach dem Strande. In einer Entfernung von 400 Schritt saß, wie man durch die Dunkelheit, durch Regen und Schnee in grauen Umrissen erkennen konnte, ein großes Schiff auf dem Schaar. Das Schiff war gestrandet und gesunken, die Wellen gingen über den Backbord herüber, und nur die Masten ragten aus den Fluten hervor. Zerrissene Leinwand flatterte im Sturm, oben am Mast aber gewahrte man einen dunklen Punkt.

„Das sind Menschen, das ist die Besatzung des Schiffes, sie haben sich oben am Mast festgebunden!“

Hin und her schwankte im Sturm der Mast. Bald bog er sich nieder, um die weißen Fluten zu berühren, bald hob er sich hoch in die Höhe, gerade und aufrecht, und mit ihm schaukelten sich im grässlichen Spiel der Wogen angesichts des unvermeidlichen Todes die unglücksseligen Männer.

Hier gab es keine Hilfe, und doch schauten sich die Fischer nach solcher um und blickten nach ihren Booten.

Aber, o grausiges Geschick! Nicht ein einziges Boot war zu schauen, das Meer hatte sie alle ohne Ausnahme verschlungen.

Da ergriff die Beraubten eine furchtbare Verzweiflung.

Ein alter Schiffer streckte wütend und lästernd die nervigen Fäuste nach der See: „Verfluchte See, verfluchtes Wasser!“

„Hei, wie das tobt, wie das zischt und strudelt, wie das schäumt und braust, so recht, so recht, immer besser, hurra es lebe die See!“ rief ein anderer, der alles, was er besaß, verloren hatte, mit grässlichem, wahnsinnigen Lachen.

Verzweifelnd rangen andere die Hände und liefen auf der Düne umher, die Sturzwellen nicht beachtend, die sie erreichten, andere wieder schauten, die Arme verschränkt, still und keines Wortes mächtig in die brausenden Fluten.

So waren Stunden vergangen, ohne dass die Lage sich geändert. Bald wurde es nun stiller und stiller auf den Dünen. Nur der Sturm und das Rollen der See tobte nach wie vor, aber man hörte kein Wort des Fluches, kein Wort der Lästerung mehr. Um den greisen Pfarrer hatten sich alle gedrängt. Dieser war auf seine Knie gesunken und betete. Der alte Mann hatte die Hände zum Himmel erhoben, und um ihn herum im Halbkreise lagen die Männer auf ihren Knien. Das weiße Heer des Greises flatterte im Sturm: er betete, betete so heiß und innig. „Du“, rief er, „allbarmherziger Gott, der Du den Wellen und den Winden gebeust, blicke herab auf Deine Kinder in letzten Todesnot, und hast Du beschlossen, dass sie ihr nasses Grab an dieser Küste sollen, so mach ein Ende, Herr, mache ein Ende!“

„Die „Johanne Marie“, das ist die „Johanne Marie!“, allbarmherziger Gott, mein Mann, mein Mann!“ So unterbrach das Gebet des Pfarrers ein entsetzlich weiblicher Schrei. Die beiden ältesten Töchter des Pfarrers waren, von innerer Seelenangst getrieben, zur Düne gelaufen. Als sie kamen, drang ein leiser Schein des grauen Morgens über die See, eine Welle hatte auf einen Augenblick den Bord und die Umrisse des Fahrzeuges bloß gelegt, und das scharfe Auge der Frauen hatte das Schiff erkannt.

Alles blickte in Verzweiflung auf. Es wurde heller und heller. „Es ist die Johanne Marie, die Johanne Marie, meine Söhne, mein einziger Sohn, mein Sohn, mein Sohn!“ So drangen klagend die herzzerreißenden Laute der unglücklichen drei Väter durch die Morgenluft.

„O, mach ein Ende, Herr, mach ein Ende“, betete der Pfarrer und schrie fast das Gebet zum Himmel empor, immer hellgrauer an Farbe wurden die Wogen.

Jetzt setzte der Förster das Glas an die Augen, einen Moment später ließ er es fallen. Es rollte in die Fluten. Der ärmste Vater hatte seine beiden einzigen Söhne erkannt. Da erscholl ein allgemeiner furchtbarer Schrei von der Düne. Der rasende Sturm wälzte eine bergeshohe Welle gegen das Wrack. Tief senkte sich der Mast. Hoch erhob er sich, dann senkte er sich wieder – und das Gebet des Pfarrers war erhört. Einen Augenblick später rollten die Wogen über das Schaar, ohne sich an der „Johanne Marie“ zu brechen.

In diesem Augenblick erscholl eine Stimme: „Kommt zurück, zurück nach dem Dorf, die Deiche sind gebrochen, das Wasser dringt in den Wald, das Dorf ist in Gefahr.“ Zum Tode erschrocken stürzen die Fischer von der Düne weg, und nur der Pfarrer mit seinen drei Freunden und seinen beiden Töchtern blieb noch, in den weißen Schaum hineinblickend, forschend und suchend, ob das Wasser wenigstens die Leichen der Ertrunkenen wiedergeben würde. Aber als sie eine halbe Stunde vergeblich gespäht und kein Zweifel mehr darüber war, dass von „Johanne Marie“ nichts Lebendes übrig geblieben war, da mahnte der Pfarrer zur Heimkehr. Wohl war es die höchste Zeit, denn Schritt vor Schritt hatte die See an Terrain gewonnen, und nur noch eine Düne war übrig, an welcher unablässig die Wogen arbeiten und Sandscholle über Sandscholle in die Tiefe führten.

Voller Tag war es inzwischen geworden, als die Freunde von der letzten Düne herab zum Dorfe stiegen. Und welch entsetzlicher Jammer bot sich ihren Blicken! Am Fuß der Düne unter dem Winde hörten sie das Gebrüll der Wogen von der entgegengesetzten Seite her. Das Wasser schoss in Massen von den Deichen, die es überflutet und gebrochen, durch den Wald in das Dorf, schäumend brach es sich an den Bäumen, den Häusern und Ställen. Kaum konnten die Freunde die höher gelegene Pfarre erreichen. Hier hatte sich eine große Anzahl von Menschen versammelt, Schutz suchend im Hause Gottes. Aber immer neue Wassermassen wälzten sich heran, in den Ställen brüllte das Vieh, ängstlich bellten die Hunde heiser vor ihren Hütten. Der Orkan, der wütende, hatte seinen Höhepunkt erreicht. Im Walde krachte es stärker als je, Dachziegel und Schornsteine stürzten von den Dächern – da zum Unglück spülte die See auch noch die letzte Düne hinweg. Das Salzwasser brach herein und kämpfte mit dem Binnenwasser im Dorf. Immer höher stieg die Gefahr. Das Geschrei der Tiere in den Ställen verstummte, das Wasser stürzte durch die Fenster in die Häuser, deren Bewohner sich auf die Böden flüchteten. Von den Dächern herab drang hundertfältiger herzzerreißender Ruf um Hilfe. Aber wer sollte helfen? Niemand konnte es. Ein reißender Strom hatte sich gebildet, er schoss an der Pfarre vorbei, Stall um Stall stürzte zusammen, und das Wasser brachte in seinem Strudel tausende von Balken und Sparren, hunderte von Kühen, Pferden und Schafen.

Entwurzelte Eichen und Buchen, in der Mitte geknickte Fichten stürzten daher gegen die Fischerhütten, die Lehmwände oder das Fachwerk derselben einstoßend. Bald folgten die Möbel aus den Wohnungen. Tische, Stühle, Betten, Bänke hatten sich durch die aufgelösten Wände einen Weg gebahnt. Aber des grausigen Anblicks war noch nicht genug. Aus den Hütten, die jeden Augenblick dem Einsturz drohten, suchten die Menschen sich zu retten. Vielen gelang es, einen Baum zu erreichen und sich daran fest zu klammern, andere riss das tosende Wasser in seinem Strudel mit sich fort, und bald war ihr Hilferuf verstummt. Eine Wiege schwamm daher. „Ein Kind, ein Kind ist darin!“ Ein beherzter Fischer watet in den Strom hinein, und es gelang ihm, mit einem Haken die Wiege ans Land zu ziehen. Das Kind, obwohl durchnässt, schlief ruhig und sanft. Ein steinalter Mann hatte einen Balken ergriffen und mit einem Arm umschlungen. So kämpfte er für die Spanne Zeit, die ihm übrig blieb, mit dem Tode. Auch ihn zu retten gelang. Fest unter dem anderen Arm hielt es etwas gepresst. Es war die Prachtbibel, die ihm, als er seine goldene Hochzeit gefeiert, von hohen Händen geschenkt war. Urplötzlich erscholl ein neuer entsetzlicher Angstschrei. Die See warf einen holländischen Schoner über die Düne in das Dorf. Er stieß gegen ein Haus, das im Augenblicke in die Fluten versank, dann riss ihn der Strom in den Wald, wo er zwischen zwei alten Eichen, die dem Sturm trotzten, sich einklemmte. Die Bewohner der Hauses, der Mann, die Frau und zwei Kinder, waren in den Wellen begraben, und ihre Leichen schwammen einige Minuten später unter den Trümmern. Jetzt stürzte plötzlich ein anderes Haus in die Fluten. Vier Frauen kämpften ein Zeit lang mit den Wellen, dann war die Qual aus, sie trieben tot in dem allgemeinen Chaos daher. Von der Ostseite des Dorfes kam ein kleines, in der Eile gezimmertes Floß, auf dem zwei Kinder sich befanden. Der rettenden Anhöhe nahe, spülte sie eine Woge weg. Die Frau des erschlagenen Fischers trieb jetzt vorbei; sie hatte ihr neugeborenes Kind fest im Arme und war mit ihm zusammen ertrunken.

Unweit der Pfarre war eine Fischerhütte in höchster Gefahr. Die Bewohner, ein altes Ehepaar, öffneten sich da das Wasser den Hausboden erreichte, mit der Axt einen Weg durch die Sparren des Daches und kletterten auf den First des Hauses. Von hier riefen sie bittend und jammernd um Hilfe. Aber der reißende Strom war zu breit, und niemand konnte ihnen helfen. Jeden Augenblick konnte das zerbrechliche Bauwerk zusammenstürzen, es bedurfte nur des Anpralls irgendeines Baumes. Tief erschüttert, maßlose Angst im Herzen und im Antlitze blickte alles nach der Hütte. Da drang durch das Tosen der Wellen vom Firste des Daches her eine liebe, oft gehörte Melodie: „Eine feste Burg ist unser Gott!“

Und alles aus dem Pfarrhofe sank auf seine Knie, und die Töne des Chorals drangen durch den Sturm und das Gebrüll der Wogen, sie rauschen heilig und hoch über den Trümmern.

Was war das? Hatte der allbarmherzige Vater im Himmel durch den Orkan das hohe Lied vernommen? Hatte er das Flehen seiner Kinder in letzter Todesnot gehört? Der Hahn auf dem Turm kreischte auf. Und alles blickte nach oben: „Wir sind gerettet, der Wind geht nach Süden, wir sind gerettet, Vater im Himmel habe Dank!“

Und so war es. Der Orkan aus Nordost verwandelte sich im Augenblick in Sturm aus Süden, und dieser trieb unwiderstehlich die tolle See dahin, woher sie in ihrer Wut gekommen. Von Minute zu Minute sank das Wasser, so reißend wie es gestiegen.

Die Uhr vom Turm schlug 1 Uhr Nachmittags. Die Orgel der kleinen Kirche reif zum kurzen Gebet. Niemals, niemals sind heißere Gebete, heißere Worte des Dankes zu Dem aufgestiegen, der Wind und Wogen gebeut.

Zwei Stunden später zog nur noch ein leiser Hauch durch den Wald. Das Wasser hatte sich zwar noch nicht ganz verlaufen können, weil die Deiche, so weit sie stehen geblieben, den Abfluss teilweise hinderten, aber die Strömung hatte vollständig aufgehört und damit die Gefahr für das Leben. Es gelang jetzt den am meisten bedrohten Leute Hilfe zu bringen und sie von den Böden, deren Treppen, weggerissen waren, zu befreien oder sie von den Dächern zu erlösen. Wie es unten im Dorf aber aussah, als die Wasser gefallen, das ist nicht zu beschreiben.

Tote Menschen und totes Vieh im Todesschlaf bei einander. Zahlreiche Ruinen aus dem Schlamme hervorragend, jeden Augenblick den Einsturz drohend, die Gärten und Äcker fuß fußhoch mit dürrem Dünensand bedeckt, Trümmer von Fischerbooten, Balken, Bäume, Möbel, Sparren, Bretter, alles wild durcheinander, ein grausiges Bild der Verwüstung.

Da stellten am Nachmittag zwei neue Feinde sich ein: der Hunger, denn die Lebensmittel waren hinweggeschwemmt und der Durst, denn die See hatte alle Brunnen mit ihrem Salzwasser gefüllt. Aber auch diese Feinde wurden siegreich bekämpft.

Und von nah und fern kam Hilfe. Die benachbarten Städte und Dörfer sendeten ihre Boote, reich mit Lebensmitteln, mit Kleidern und Brennmaterial beladen. Die Not, so groß sie noch war und noch am heutigen Tag ist, wurde für den ersten Augenblick gemildert.

Aber es sollte ja Hochzeit in der Pfarre sein; das Mahl war bereitet, die Pfarre unversehrt geblieben. War jetzt aber wohl der rechte Zeitpunkt zu solch einer Feier? Warum bestand denn der greise Pfarrer darauf, dass sie nicht verschoben würde?

Von den Ereignissen der furchtbaren Nacht, des entsetzlichen Morgens zu Tode ergriffen, saß er in seinem Stuhle. Und er winkte seinen Kindern, und sie traten zu ihm heran, und er vollzog sein letztes heiliges Amt und legte für dieses leben ihre Hände in einander. Einen Blick der innigsten Liebe – dann lehnte er sich in die Kissen zurück und schlummerte ein zum ewigen Frieden.

Und still – totenstill war es im Walde.
Maritim, im frischen Wind

Maritim, im frischen Wind

Maritimes, an der Ostsee

Maritimes, an der Ostsee

Maritimes, Mädchen auf der Düne

Maritimes, Mädchen auf der Düne

Maritimes, Mädchen am Strand

Maritimes, Mädchen am Strand

Maritim, Sturmflut

Maritim, Sturmflut

Maritimes, Boot an Land

Maritimes, Boot an Land

Maritimes, Brandung

Maritimes, Brandung

Maritimes, Durch die Brandung

Maritimes, Durch die Brandung

Maritimes; Winterstürme an der deutschen Küste, Rettungsboot gekentert

Maritimes; Winterstürme an der deutschen Küste, Rettungsboot gekentert

Maritim, Schiffsunglück

Maritim, Schiffsunglück

Klima, Zertrümmerte und gestrandete Schiffe im Hafen von Flensburg, 14. November 1872

Klima, Zertrümmerte und gestrandete Schiffe im Hafen von Flensburg, 14. November 1872

Klima, Die Sturmflut vom 13. November 1872, Notszene auf dem Darß

Klima, Die Sturmflut vom 13. November 1872, Notszene auf dem Darß

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde

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