Die Physiognomie Schwerins unter Paul Friedrich um 1840

Aus: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. Die kleinen deutsche Höfe, 37. Band
Autor: Vehse, Karl Eduard (1802-1870) deutscher Geschichtsschreiber, Erscheinungsjahr: 1856
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin, Landeshauptstadt, Kunst und Kultur, Oper, Theater, Karneval, Sommer- und Wintervergnügen, Sitten und Gebräuche, Bad Doberan, Boltenhagen, Hofbälle, Maskeraden, Paraden
Die Physiognomie Schwerins unter Paul Friedrich schildern sehr glücklich ein paar Zeitungs-Artikel im Morgenblatt und im Telegraphen, die auch in die Rostocker gelehrten Beiträge übergingen.

„Seitdem die Residenz des großherzoglichen Hauses von dem wenig Annehmlichkeiten bietenden Ludwigslust nach Schwerin verlegt ist, hat ein reges, großstädtisches Leben das gemütliche, fast ländliche Treiben verdrängt und unsere Lebensweise mit einer gewissen Noblesse überhaucht, die aber das Eigentümliche des mecklenburgischen Volkscharakters nur wenig zu verwischen vermochte. Der Baulust des Großherzogs haben viele kleine Baracken weichen müssen, an deren Stelle Paläste getreten sind, die jede Hauptstadt Deutschlands zieren würden. Recht gelegen brannte das alte Schauspielhaus ab und der neue Tempel Thalias ist durch den Hofbaumeister Demmler mit so vielem Geschmack wieder aufgeführt, dass sich sämtliche neun Musen dieses Wohnsitzes nicht zu schämen brauchen. Reichgallonierte Livreebediente, glänzende Karossen, modische Herren und mit Putz überladene Frauen, stark geschnürte Lieutenants u. dergl. füllen die Straßen. Paraden und Hofbälle, Maskeraden und Theater führen einen ewigen Strudel von Zerstreuungen herbei, in dem die frühere einfache Lebensweise gänzlich untergegangen ist. Der Hochmut hat sich der Bürger bemächtigt, dass sie es dem Adel in allen Stücken nachtun wollen. In den niederen Ständen ist langst eine Unsittlichkeit eingerissen, die mit der Größe der Stadt in keinem Verhältnisse steht. Wohl gibt es hier, wie an andern Orten, Familienzirkel, in denen der feinste Takt, die liebenswürdigste Bonhommie herrscht, dass aber dieser Zirkel so sehr wenige sind, und dass sie sich so starr und streng vom öffentlichen Leben und Treiben in Schwerin absondern, ist wohl das schlimmste Wahrzeichen des herrschenden Geistes.“

„Eine andere Physiognomie hat Schwerin im Sommer, wenn der Großherzog mit dem Hofe in das bei Rostock gelegene Bad Doberan sich begeben hat, eine andere im Winter. Sobald der Hof sich entfernt hat, was übrigens erst spät im Juli geschieht, beginnt eine allgemeine Wanderung. Die höher gestellten Beamten benutzen den erhaltenen Urlaub zu einer Badereise nach Doberan, um sich von irgend einem Übel, am häufigsten dem der Langeweile, zu befreien. Die Noblesse fährt eilends im Viergespann zum Tor hinaus, denn es wäre gegen allen guten Ton, wollte man nach der Abreise der hohen und höchsten Herrschaften sich noch länger als vierundzwanzig Stunden in Schwerins Mauern aufhalten. Wer auch nur 300 Thaler Einkünfte hat, würde sich für beschimpft halten, wenn er den Sommer hindurch nicht wenigstens vierzehn Tage in Boltenhagen zugebracht hätte. — Im Oktober beginnt unser sechsmonatlicher Winter und mit ihm das Abonnement auf Theater und Subskriptionsbälle, und die Eröffnung der Assembléen, Thés dansans und wirklichen Bälle der verschiedenen geschlossenen Gesellschaften. Von beiden Geschlechtern wird dabei der Luxus sehr weit getrieben.“

„Unsere Karnevalszeit ist jetzt eben vorüber und hat in uns nichts als die traurige Überzeugung zurückgelassen, dass dem Norddeutschen überhaupt und wie es scheint, dem Mecklenburger insbesondere, zu den harmlosen Faschingsfreuden Phantasie, Gemütlichkeit und Temperament abgeht etc. Scheint es doch beinahe, als zögen die Schweriner die Narrenjacken, die sie das ganze Jahr hindurch tragen, zur Karnevalszeit für einen Abend aus, um im Domino einmal unbekannterweise als vernünftige Menschen sich gerieren zu können, und doch gelingt diese Absicht nur selten — den Einen kennt man an seiner Arroganz, die eben so maßlos ist, als seine Schulden unbezahlbar, den Andern an seiner Wut, sich auf die Hühneraugen treten zu lassen — on vous connait, beau masque! — und wenn Sie auch weniger stolz einherschritten!“

„Als einen Überrest aus der barbarischen Zeit muss bei unseren Maskeraden eine Unsitte angesehen und gerügt werden, die denselben den letzten Schimmer von Fröhlichkeit, den letzten Anstrich von Noblesse nimmt. Es ist dies das sogenannte „Hinausburren.“ Obgleich nämlich nur anständig gekleidete Masken in den Saal des Schauspielhauses gelassen werden, behalten sich doch einige Männer, die vorzugsweise quid juris wissen wollen, es auch vielleicht studiert haben, aber sonst wenig zu praktizieren scheinen, ein Urteil in höherer Instanz vor. Findet nämlich eine Maske keine Gnade vor ihren Augen, so bilden sie einen Halbkreis um dieselbe, dringen dann mit einem widrigen, schrillenden Ton und mit Püffen und Stößen so lange auf sie ein, bis die Ärmste die Türe erreicht hat und mit leichtem Herzen eine Gesellschaft verlässt, in der der Pöbel den Vorsitz zu fuhren scheint. Dies Treiben hört auf ein harmloses zu sein, sobald man sich überzeugt hat, dass die angesehensten, geachtetsten Männer in den anständigsten Masken der Rohheit einiger als vorlaut und übermütig längst Berüchtigten haben weichen müssen. Man wird es im Ausland kaum glaublich finden, dass so etwas in einer Gesellschaft geschehen kann, welche auf Wohlanständigkeit Anspruch macht, und man wird sich noch mehr wundern, wenn man erfährt, dass es sogar im Beisein der höchsten Herrschaften geschieht und gestattet erscheint. Denn warum macht die Polizei nicht einem Unfug ein Ende, dem nur die Galerie mit unendlichem Jubel beipflichtet, der aber jeden Gebildeten mit gerechter Indignation erfüllt? Man kann sich denken, dass eine solche angeburrte Maske nicht immer gleich und gutwillig den Saal verlässt, oft leistet sie kräftigen Widerstand, und so passiert es denn auch häufig genug, dass die rauschende Tanzmusik nicht nur zur Lust und Freude ruft, sondern lächerlich kontrastierend Ohrfeigen und Rippenstöße accompagniert etc."

„Die Wintervergnügungen, die um Neujahr, was Glanz und Komfort anlangt, ihren Zenit erreicht hatten, sind jetzt als überstanden anzusehen, da der Hof auf einige Zeit sich nach Berlin gewendet hat, und uns auf diese Weise eine Pause zum Atemholen, zur Restitution unserer Kräfte und Geldbeutel gestattet hat. Seitdem die Schebest hier gastiert, sind wir aus einem gelinden Wahnsinn von Enthusiasmus und irdischem Entzücken gar nicht herausgekommen. Es gab einen förmlichen Regen von Gedichten, Bändern, Blumen und Kränzen, man konnte nicht mehr ohne Parapluie ins Theater gehen. Erst neuerdings haben sie Liszt einen Ehrensäbel überreicht, mich hat’s gewundert, dass sich bei uns keine Kommission gebildet hat, um der Schebest, die als Tancred, Romeo und Fidelio ihre schönsten Triumphe feierte, ebenfalls einen Säbel zu verehren. Bei dem Abschiedsständchen unter ihrem Fenster ging der Enthusiasmus so weit, dass sogar, was in Schwerin viel sagen will, der Unterschied der Stände aufhörte: ich habe es selbst gesehen, dass ein Herr von, einem Bürgerlichen um den Hals gefallen ist, und beide, brüderlich vereint, in den Toast mit einstimmten. Ja, wir protegieren die Kunst und vorzüglich — die Künstlerinnen etc.“

„Über die neue Oper „die Obotriten“ vorläufig noch nichts, bis sich durch die wahnsinnigen eingesandten Anpreisungen und Lobhudeleien eine vernünftige Kritik Bahn’ gebrochen hat. Als merkwürdige Tatsache mag das erwähnt werden, dass bei der ersten Wiederholung der Oper aus lauter Patriotismus eine Bank durchgesessen wurde.“

„Es mag wenig Städte in Deutschland geben, bei denen das Anziehende und das Abstoßende so sehr auf der Hand liegt, wie in Schwerin. Die Extreme stehen sich hier noch schroff gegenüber. Adel und Bürgerstand, Literatur und Zensur sind wie feindliche Mächte zu betrachten, deren widrige Stellung fürs Erste wohl keine Änderung erleiden dürfte. Von Sinn für Literatur, von raschem Eingehen in die Zeitfragen, von Erfassen der Zeitinteressen ist hier wenig die Rede; sonst sind wir ehrenwerte Leute, denen nichts über einen ungestörten Genuss des Lebens geht, als höchstens — noch mehr Genuss. Schwerin, beinahe rings von Seen umgeben, hat eine reizende Lage. Noch innerhalb der Stadt genießt man der schönsten Fernsichten, und dichterische Gemüter könnten dadurch leicht zu Ergüssen in gebundener Rede hingerissen werden. Solche Gemüter finden sich hier aber nicht. Schöne Fernsichten helfen dem Mecklenburger die Verdauung befördern, und ein prosaisches, in breitester Mundart gesprochenes „Ungeheier scheun“ (ungeheuer schön) hilft die letzte Spur einer etwaigen poetischen Anwandlung vertreiben.“

Schwerin - Stadtansicht - Schloss - Hoftheater

Schwerin - Stadtansicht - Schloss - Hoftheater

Schwerin - Am Pfaffenteich

Schwerin - Am Pfaffenteich

Schwerin - Totalansicht

Schwerin - Totalansicht

Schweriner Schloss

Schweriner Schloss

Schweriner See im Winter, Sonnenuntergang

Schweriner See im Winter, Sonnenuntergang