Die Kartenschlaegerin.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Glaube, Aberglaube, Weissagung, Zukunft, Wahrsagerin, Glück, Unglück, Erfolg, Liebe, Hass, Gewinn, Treue, Verrat, Zigeunerin,
Der Glaube, dass es einzelnen Menschen möglich ist, einen Blick in das Dunkel der Zukunft zu tun, das Schicksal zu befragen und bestimmte Ereignisse vorherzusagen, findet sich seit undenklichen Zeiten bei allen Völkern. So schrieben die alten Germanen allgemein den Frauen die Gabe der Weissagung zu, und auch heutzutage noch sind es ja immer Angehörige des schwächeren Geschlechts, die als Wahrsagerinnen und Kartenschlägerinnen in den großen Städten ihr Wesen treiben.

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Die Kartenschlägerinnen kamen, wie es scheint, gleichzeitig mit den Spielkarten im Anfang des 15. Jahrhunderts aus dem Orient über Venedig nach Europa. Jedenfalls finden wir in Venedig zuerst eine ausführliche Abhandlung über die Kunst des Kartenlegens, die der Buchdrucker und Zeichner Francesco Marcolini in seinen „Sorti“ (Venedig 1540) lehrte, und diese Kunst selbst ist von jeher eine Haupterwerbsquelle der Zigeunerinnen gewesen. Aber auch Frauen anderer Völker gewannen als Kartenschlägerinnen Gold und Ehren, die berühmte Wahrsagerin Marie Anne Adelaide Lenormand sogar die Gunst der Kaiserin Josephine und des Pariser Hofes zur Zeit des ersten Kaiserreiches.

Die modernen Wahrsagerinnen beschränken sich meist darauf, in allgemeinen Ausdrücken möglichst unbestimmte Ereignisse aus den Karten zu weissagen. Anders die Zigeunerin, die selbst auch an ihre Kunst glaubt und überzeugt ist von dem, was ihr die jeweilige Lage der Glück oder Unglück, Verlust oder Gewinn, Liebe oder Hass, Treue oder Verrat bedeutenden Karten sagen. Wenn sie trotz dieses Glaubens an die Zuverlässigkeit ihrer Karten schon vor Ausübung ihres Berufes in den Dörfern über die einzelnen Personen und deren wichtigste Beziehungen etwas in Erfahrung zu bringen suchen, so geschieht das, um möglichst bestimmte Angaben machen zu können. Wo dies nicht geht, in den Häusern der Vornehmen, muss eigene Beobachtung und Scharfsinn helfen.

Die spanischen Zigeunerinnen tanzen daher gern vorher, um die Gemütsveranlagung der Anwesenden während des Tanzes zu erforschen, ihre Mienen und Bewegungen zu beobachten und daraus ihre Schlüsse zu ziehen, bevor sie ihre Karten in bestimmter Weise nach besonderen Vorschriften ausbreiten und den Schleier, der fürsorglich über die Zukunft gebreitet ist, etwas lüften. So hat auch die junge Zigeunerin auf unserem Bilde erst lange getanzt, um die Züge der Anwesenden zu studieren — das neben ihr am Boden liegende Tamburin verrät es. Und nun kündet sie dem Hausherrn feierlich, was ihm die Zukunft bringen wird. Die Mienen der Kavaliere wie der Frauen lassen vermuten, dass die Zigeunerin ihre Kunst wohl versteht, denn die Gesellschaft, die eigentlich nur einen lustigen Zeitvertreib wünschte, lauscht nun sehr aufmerksam und ist offenbar von dem Geheimnisvollen der Prophezeiungen, den bedeutungsvollen Worten der Kartenschlägerin nicht wenig beeinflusst.

Die Kartenschlägerin

Die Kartenschlägerin