Kravalle, Plünderungen, Exzesse vom 31. Juli bis 1. August 1905

Die Manifestanten wandten sich an das Publikum mit der Aufforderung, für das Rote Kreuz zu spenden, andere baten einfach um ein Trinkgeld. Das Publikum sah, dass manche von den Manifestanten nicht ganz fest auf den Beinen standen, und musste notgedrungen spenden und Trinkgeld geben. Als die Ekstase etwas nachließ, begann die Menge in Gruppen auseinanderzugehen. Dabei fielen in der Menge die Rufe: ,,Morgen versammeln wir uns!" Gleichzeitig liefen halbwüchsige Hooligans mit Fahnen in den Händen zwischen den Erwachsenen umher und schrien: „Haut die Juden!" Am andern Tage, Sonntag, den 31. Juli, war am Morgen nichts Bedrohliches zu bemerken. Auf den Straßen herrschte die gewöhnliche Bewegung. Der Markt war von einer Masse von Bauern angefüllt, die aus den benachbarten Dörfern mit Korn angekommen waren. Aber schon um 10 Uhr begannen die Straßen ein anderes Aussehen zu erhalten; Fußgänger mit erregten Gesichtern suchten offenbar schnell nach Hause zu gelangen, manche liefen, so schnell sie konnten. Man hörte ,,Aufstand" rufen, und die Menge rannte kopfüber in panischem Schrecken vorwärts. Auf dem Fahrdamm rasselten Wagen mit Bauern und Dorfweibern dröhnend dahin. Die Läden wurden geschlossen. Alles, was auf den Straßen an lebenden Wesen vorhanden war, suchte irgendwo unterzukommen. Auf der Karantinnaja-Straße, wo sich eine Masse Fuhren angehäuft hatte, stürzten die Bauern zu ihren Wagen, ließen alles im Stich und fuhren, einander drängend, im Galopp davon. Nun begann sich eine Menge anzusammeln, die in kurzer Zeit einen ungeheuren Umfang annahm. Polizei erschien mit dem Polizeimeister. Die Versammelten drängten sich gegenüber der Broderschen Apotheke, neben der Fontaine; unter ihnen waren viele halbwüchsige Hooligans. Als Antwort darauf wurden patriotische Rufe laut, und mit dem Liede „Rette Gott" zog die Menge durch die Stroganowskaja-Straße und weiter durch die Karantinnaja. Vor der Jacobsonschen Apotheke hielt der Haufen an und verlangte die Herausgabe des Zarenbildes, mit dem er sich dann zum Dom begab. Auf dem Domplatze hielt der Probst Stanislawsky einen Gottesdienst ab; er bemerkte die erregte Stimmung der Menge und suchte ihr ins Gewissen zu reden.

Die Predigt des Priesters fiel aber auf unfruchtbaren Boden, da die Menge aus solchen Elementen bestand, die mit der christlichen Moral nichts zu schaffen hatten.


Gleich darauf begann die Zerstörung der Läden in der Woronzowstraße. Voran ging ein Teil der Manifestanten mit Fahnen und dem Bilde, und hinten schlug die Menge Fenster- und Türscheiben der Läden ein und vernichtete die Jalousien. Alle waren von trüben Ahnungen erfüllt. Es schien, dass sich vor den unglücklichen Menschen, die völlig der Willkür der ergrimmten Plünderer preisgegeben waren, ein bodenloser Abgrund auftat. Die Menge begnügte sich jedoch zunächst mit dem Einschlagen von Scheiben; Eigentum wurde noch nicht angetastet. Hierbei muss betont werden, dass diese Zerstörungsarbeit vorläufig von halbwüchsigen Burschen ausgeführt wurde. Klar und deutlich begann der antisemitische Charakter der Bewegung hervorzutreten. Allmählich wurden auch die Erwachsenen von der Stimmung mitgerissen, und das Verhängnis erfüllte sich, als sich den Burschen Erwachsene anzuschließen begannen. Als die Menge auf dem neuen Markte erschien, begann sogleich eine regelrechte Plünderung der Läden. Die Überredungsversuche einzelner Personen aus dem Publikum vermochten die Plünderer in ihrem Tun nicht aufzuhalten. Der Magistratssekretär Bjely entschloss sich zu einem verzweifelten Schritt. Er packte einen Plünderer, der gerade im Begriff war, einen armseligen Krämerladen mit einem schweren Brette zu demolieren, am Arm. Der Plünderer drehte sich um, holte mit dem Brett weit aus und traf Bjely auf den Kopf. Die anderen, durch die Einmischung gereizten Plünderer wollten sich auf ihn stürzen und schrien „Haut ihn"; Bjely stürzte nach der entgegengesetzten Seite. Nur durch einen glücklichen Zufall gelang es dem Bedrängten, auf eine Droschke zu springen und zu entkommen. Das rettete sein Leben.

Nun begann das Plünderungswerk. Die Luft wurde von wüstem Geschrei erfüllt. Die Menge verlor jede Besinnung und Selbstbeherrschung. Die Planmäßigkeit des Vergehens der Plünderer bewies deutlich, dass alles von Leuten vorbedacht war, denen die Lage der Stadt und die Ladenbesitzer gut bekannt waren. Befand sich neben einem jüdischen Laden das Geschäft eines Russen, Griechen oder Armeniers, so schrie eine tönende Stimme: ,,Weitergehen." Und die Menge ging. Es wurden die Konfektionsläden demoliert und ausgeplündert. Die Plünderer warfen, ohne sich zu genieren, ihre Lumpen ab und legten sofort die neuen Kleider an; viele zogen gleich mehrere Kostüme übereinander an. Ein Teil der Waren wurde auf der Stelle zerrissen.

Wer nur konnte, beeilte sich aus der Stadt zu kommen, sein Eigentum dem Schicksal überlassend, an nichts als an die Rettung des nackten Lebens denkend. In der Stadt kursierten alle möglichen Gerüchte, die die ungeheuerlichsten Dimensionen annahmen. Diese Lage der Dinge brachte einige Stadtverordnete und Intellektuelle zu der Überzeugung, dass eine Extrasitzung der Stadtverordneten einberufen werden müsse, um über die Maßregeln zur Wahrung der Unverletzlichkeit des Lebens und des Eigentums der Bürger zu beratschlagen. Am Montag stand ein Feiertag bevor. Obwohl die übliche Kirchenprozession aufgehoben war, konnte doch erwartet werden, dass der Pogrom fortgesetzt werden würde. Der Bürgermeister Kumpan war auf Urlaub in Karantin. Er wurde verständigt und traf auch gleich die Verfügung, unverzüglich eine Sitzung auf Montag ein Uhr anzuberaumen. Am Morgen dieses Tages war es ziemlich ruhig. Es schien, dass die Plünderer vom Rauben und Zerstören genug bekommen hatten. Das war aber eine trügerische Ruhe. Jemand sprengte das falsche Gerücht aus, ein Jude hätte eine Frau mit ihrem Kinde gemordet, und aufs neue begann sich eine Menge anzusammeln. Äußerst interessant ist es, dass sich in der die Frau suchenden Menge die „Ermordete" selbst befand und mit den andern zusammen sich selbst suchen ging. Halbwüchsige Hooligans rannten durch die Straßen und schrien: „Haut die Juden!" In der Stadt waren zur Zeit zwei Kompagnien Soldaten. Hier und da waren Wachen zu sehen. Die Plünderer trugen eine intensive Tätigkeit zur Schau, Polizei und Militär verhielten sich völlig ruhig. Die Luft war von tosenden Hurrarufen und dem Stampfen der die Läden stürmenden kompakten Menge erfüllt. Unheilverkündende Schläge von Brechstangen dröhnten gegen Fenster und Türen. Der Menge begannen sich Reihen „friedlicher" Einwohner anzuschließen, bereit, ihren Teil an der Arbeit der Plünderer zu übernehmen. Wieder ging der Raub der Läden los. Weiber, Mädchen, halbwüchsige Burschen und Mädchen, mehr oder weniger anständig gekleidete Leute — wie man sagt, sogar Damen und junge Mädchen der Gesellschaft in Schals — sammelten sich neben den zerstörten Läden an und suchten sich Sachen nach ihrem Geschmack aus, um sie dann ruhig und offen nach Hause zu tragen. War das geplünderte Gut geborgen, so kehrten sie aufs Neue zurück und setzten die Arbeit fort. Nach allen Richtungen wurde geschleppt, geradezu ununterbrochene Reihen von Plünderer waren in der Karantinnaja-Straße, am Magistrat vorbei, zu bemerken. Wie wir schon oben andeuteten, wurden in der Nicolaistraße von einigen Leuten Versuche gemacht, die Plünderer auseinanderzutreiben. Unter dem Militär befand sich auch der Stadthauptmann. Als die Selbstwehr anrückte, wichen die Plünderer an der Ecke der Stempkowskajastraße zurück und stellten sich auf beiden Seiten des Militärs auf."

Die weiteren Vorgänge spielten sich also ab: Die Selbstwehr hatte nunmehr vor sich Soldaten und Exzedenten, die sich über die Stempowskaja zerstreut hatten. Da schossen die Selbstwehr Jünglinge auf die Pogromler eine Salve aus Revolvern ab, worauf diese in panischem Schrecken davonflogen. Zum Unglück hatte versehentlich auch einen Soldaten eine Kugel am Fuße getroffen. Der Stadthauptmann, der den ganzen Vorgang mit ansah, tat nun so, als ob die Selbstwehr das Militär angegriffen und beschossen hätte, und befahl den Soldaten auf die Selbstwehr zu feuern, worauf die Soldaten durch Flintenschüsse zwei Personen aus der Selbstwehr niederstreckten und gegen zehn verwundeten. Einer der Getöteten war ein Gymnasiast der siebenten Klasse (Primaner), der Nichtjude Kiritschenko. Die Selbstwehr war nun zersprengt, und die Exzedenten durften jetzt ihre Arbeit ganz ungestört verrichten.

Erst um 7 Uhr abends des 1. August wurde den Krawallen ein Ende gemacht. Derselbe Polizeimeister und dieselben Schutzleute, die drei Tage lang die Exzedenten nach Lust schalten und walten ließen, die mit ihnen öffentlich liebäugelten, bekamen jetzt einen Energieanfall und begannen mit entblößten Degen die Plünderer auseinanderzutreiben. Ja, auch Schüsse ertönten, der Pogrom war für die Teilnehmer kein konzessionierter Spaß mehr, und so stoben sie nach allen Windrichtungen auseinander.

Das Ergebnis dieser dreitägigen Krawalle bedeutete für die Juden von Kertsch für einige Zeit den Ruin einer Menge armer und einer Reihe gutsituierter Existenzen. Ein bemittelter Kaufmann, der seines Vermögens völlig beraubt wurde, verfiel in Wahnsinn, und viele andere konnten erst nach einer längeren Pause an ihre ehemalige Beschäftigung herangehen. Die Stadt war überhaupt nach dem Pogrom wie verödet. Wem von den Juden es nur gelungen war, der hatte die Stadt eiligst verlassen — nicht nur während des Exzesses, sondern auch in den folgenden Tagen. Namentlich nach Theodosia flüchteten in wilder Panik mit jedem Zuge große Scharen, aber dort erwartete sie ein unheimlicher Empfang: unter dem Eindruck der Kertscher Nachrichten und der unentwegten Propaganda gewissenloser Agitatoren, die durch Wort und Schrift die christliche Bevölkerung aufwiegelten, lebten die Juden von Theodosia gerade jetzt in qualvoller Angst ob der nächsten Tage, so dass aus Theodosia jeder Zug ebenso wie aus Kertsch voll flüchtiger Juden abging. Wahrlich, eine beneidenswerte Zufluchtsstätte!

Tief schmerzlich war es für die Juden von Kertsch, dass ein Teil ihrer Mitbürger, selbst solcher mit Bildungszensus und gesellschaftlicher Position, bei Gelegenheit des Pogroms einen außerordentlichen Grad antisemitischer Gesinnung, ja direkt antisemitischer Roheit an den Tag gelegt hat. Der lokale ,,Juschny Kurier" zählte eine ganze Reihe solcher Gesellen auf. So nahmen an der Organisation, bezw. an der Ausführung des Pogroms ein Kaufmann Kamenin, ein Sohn des bekannten Tabakfabrikanten Mesaksudy (eines Karäers), ein Angestellter des Magistrats namens Kriukow u. a. teil. Als ein Jude während des Exzesses im Zentralhotel anfragte, ob er ein Zimmer bekommen könne, da erfolgte die prompte Gegenfrage, ob er Russe oder Jude sei, und die nachherige Antwort, dass es für Juden im Gasthause keine Zimmer gäbe. Ebenso wurden von Hooligans gehetzte Juden, die im Cafe Isiirs und in dem Teehaus „Venetia" eine Zufluchtsstätte suchten, erbarmungslos auf die Straße hinausgejagt und so ihren Verfolgern ausgeliefert. Nicht weniger grausam war das Benehmen des in Taman wohnhaften Kosakenoffiziers a. D. Tolstopjat. Einige jüdische Familien hatten sich mit ihren Kindern, darunter Säuglingen, nach Taman geflüchtet. Da verlangte der Offizier a. D. vom Stanitzahetmann die sofortige Ausweisung der Unglückseligen, damit Taman um ihretwillen nicht litte, ein Vorwand, den die schöne Seele mangels anderer Machtmittel ausgeklügelt hatte. Dass „Damen" aus wohlhabenden Ständen am Raube teilnahmen, ist schon gesagt worden; zwei von ihnen, die sich im Plündern besonders hervorgetan hatten, wurden später unter starker Eskorte durch die ganze Stadt zu dem Untersuchungsrichter geführt, wobei sie ihre Gesichter unter Tüchern verhüllten; der wachgewordene Gesetzesparagraph erweckte offenbar auch ihre Schamhaftigkeit. Eine außerordentliche Härte bewiesen, wie die erwähnte Zeitung ausführt, die Insassen des Vorortes Jenikale während des Exzesses. ,,In ihnen erwachte die Bestie. Von ihrer vollen Straflosigkeit überzeugt, demolierten sie die gesamte Habe der Juden von Jenikale und Ließen sie unter Drohungen auf ihr Leben im buchstäblichen Sinne des Wortes in die weite Welt." In Regen und Hagel flohen die jüdischen Familien aus dem Ort.

Allerdings, es gab auch andererseits ganz andere oder gar entgegengesetzte Handlungen nichtjüdischer Kertscher Einwohner. Die flüchtigen Jenikaler Juden nahm z. B. die Verwaltung einer auf dem von ihnen passierten Wege befindlichen metallurgischen Fabrik mit ganz außergewöhnlicher Wärme zu sich und erwies ihnen große Gastfreundschaft. Auch in Jenikale selbst waren einige Christen, darunter der Geistliche Demistschew, der Postchef Hunn, der Kirchenälteste Wassiliew, für die bedrängten Juden eingetreten. Der oben erwähnte Kapitän Sobetsky zeichnete sich durch sein würdiges Betragen ganz besonders aus. Plünderer, die Waren schleppten, sogar eine ganze Partie Zigeuner, die zu Pferde angelangt waren, um das „Gut" nach dem Zelte heimzuführen, hielt er selber an und nahm ihnen den Raub ab, einige Schutzleute und einen Offizier veranlasste er dank seiner Autorität, seinem Beispiele zu folgen, so dass er ganze Massen geplünderter Habseligkeiten zusammenbrachte. Ja, er sandte Boote der Marineverwaltung auf das Meer heraus, um die mit fremdem Gut davoneilenden Fahrzeuge einzuholen, und erwischte so mehrere vollbeladene Barkassen. Von der Tätigkeit dieses Mannes waren die Kertscher Juden so gerührt, dass sie ihm durch eine Deputation ihre Dankbarkeit ausdrückten, als „dem einzigen Menschen", der energische Maßnahmen getroffen hätte, um den Hooligans bei der Demolierung der jüdischen Wohnungen und des jüdischen Eigentums entgegenzutreten.

Die Tatsache, dass viele Menschen aus der ,,Gesellschaft" in Kertsch an den Juden sich versündigt haben, brachte dort den Gedanken des gesellschaftlichen Boykotts auf. Der Magistratsangestellte Kriukow wurde von seinen Kollegen dermaßen gemieden, dass er schon einige Tage nach dem Pogrom demissionieren musste. Der Fabrikant Mesaksudy sah sich gezwungen, die Erklärung abzugeben, dass sein Sohn mit der Fabrik nichts gemein habe; so verderblich wurde für ihn der jüdische Boykott, der auch hier und da in der christlichen Gesellschaft Anklang fand. Die Stimmung der Juden und Pogromgegner von Kertsch und der Krim zu jener Zeit spiegelt sich eben in der Tatsache wieder, dass man im Ernst daran dachte, den Boykott als Kampfmittel gegen den Pogrom anzuwenden. Um auf die Gefühle, die ein Teil der christlichen Gesellschaft während der Exzesse an den Tag gelegt habe, entsprechend zu reagieren, meinte der „Juschny Kurier", gäbe es im Machtbereich des entrechteten Volkes nur ein einziges Mittel. Dies Mittel sei der Boykott, der ja schon gegen bekannte Handelsfirmen zur Anwendung komme.

Überhaupt war es für die Juden von Kertsch eine große Genugtuung, wenn gerade aus den Reihen der Russen Verfechter ihres Rechts erstanden. Der mehrfach erwähnte Chef des Handelshafens Sobetsky trat auch in der Presse gegen das Verhalten der Polizei, namentlich gegen die Verschleierungen der Tatsachen, die der Polizeimeister Janow anstrebte, mit nicht misszuverstehenden Erklärungen und Bekundungen auf. Die lokale Zeitung tat das Ihrige und hielt sich überhaupt wacker. Der Redakteur bemühte sich auch auf anderem Wege den Juden zu ihrem Rechte zu verhelfen und setzte es in einer denkwürdigen Sitzung der Stadtverordnetenversammlung durch, dass in Bezug auf den Pogrom eine Reihe mutiger und humaner Resolutionen gefasst wurde. Es wurde beschlossen:

1. Der jüdischen Gesellschaft anlässlich der ihr zugefügten Beleidigung und des Pogroms das Mitgefühl der Stadtduma auszudrücken. Überhaupt ihr gegenüber das Bedauern auszusprechen, dass zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung von manchen Leuten aus Unwissenheit, Eigennutz oder sinnlosem Groll künstlich eine nationale Zwietracht hervorgerufen werde. Diese Resolution der Stadtverordnetenversammlung zu veröffentlichen, um durch diese Erklärung der zwischen den Nationalitäten Zwietracht säenden Agitation entgegenzutreten und die Gemüter der Ortsbewohner zu beruhigen.

2. Da die Zivilbehörden und die Polizei den eigensten Interessen der Bevölkerung, was Schutz der Person und des Eigentums anbetrifft, nicht Rechnung tragen, die früheren Bestimmungen der Stadtvertretung aufzuheben und sofort die Gewährung der Stadtsummen zur Deckung der Wohnungsgelder und Reisediäten des Stadthauptmanns und der Polizei einzustellen.

3. Im Kertscher Gymnasium zwei Stipendien auf die Namen von Kiritschenko und Eksler, der von Soldaten getöteten Teilnehmer der Selbstwehr, zu gründen, um auf diese Weise diese aufopfernden Jünglinge, die ,,ihr Leben für ihren Nächsten gelassen hätten", zu verewigen und die Kinderseelen zu hohen Gefühlen und Taten zu begeistern.

4. Um für die Zukunft, wenn es nottut, von dem gefährlichen Spiel mit dem Pöbel und einer unangebrachten Exploitierung der Volksgefühle abzuhalten, den Minister des Innern von den inkorrekten Handlungen der Zivilbehörden und der Polizei während des Pogroms in Kenntnis zu setzen und um Anordnung einer Senatsrevision zu bitten.

5. Dem stellvertretenden Chef des Kertscher Hafens, dem Kapitän zweiten Ranges Sobetsky, für die bei Unterdrückung der Unruhen innerhalb seiner Kompetenz entfaltete große Umsicht und Energie den Dank der Stadtvertretung auszudrücken."

Obige Punkte wurden sämtlich in geheimer Abstimmung mit Stimmenmehrheit angenommen. Das Publikum begrüßte die Abstimmungsresultate mit Beifall. Alsdann wurde die Frage über Bewilligung von Unterstützungsgeldern für die vom Pogrom betroffenen jüdischen Armen aufgeworfen. In geheimer Abstimmung beschloss die Majorität der Versammlung, den vom Pogrom betroffenen armen Juden 15.000 Rubel Subsidien zu gewähren, eine Hilfe, die für eine Kleinstadt wie Kertsch enorm ist und zweifellos neben der Subventionierung der Geschädigten noch eine Demonstration zu bedeuten hatte.

Nur in der aufgeregten Zeit des Sommers 1905 war eine solche Sprache, ein so freiheitlicher Ton möglich. Die Polizeihäupter wurden aber darob von grimmigstem Zorn erfasst. Der Stadthauptmann machte dem Bürgermeister die größten Vorwürfe wegen der Kritik seiner Handlungen, annullierte kraft seiner Machtvollkommenheit die drei ersten Resolutionen und warnte ihn vor derartigen Wiederholungen. Allein es war zu spät, die Freiheit und Menschlichkeit hatte ihren moralischen Erfolg bereits errungen. Dies ist um so bemerkenswerter, als die russischen Stadtverwaltungen meist reaktionär und wahrlich nicht judenfreundlich sind, wie sie es auch nach den Oktoberpogromen meist zur Evidenz bewiesen haben. Die Beschlüsse der Kertscher Stadtduma werden aber stets in der Stadtgeschichte von Kertsch einen leuchtenden Punkt darstellen.

Die Kertscher Judenschaft, die verhältnismäßig wohlhabend ist, hat die materiellen Folgen des Krawalls schließlich überwunden, zumal da der schreckliche Vorgang vor der Oktoberbotschaft, also zu einer Zeit gespanntester Hoffnungen, stattfand. Das eigene Unglück konnte als ein Blatt der allgemeinen russischen Revolution eben deswegen verschmerzt werden, weil die trostreiche Zukunft so nahe bevorstand. Die Kertscher Juden, die von jeher eine starke politische Regbarkeit an den Tag legten, die sich sowohl am zionistischen Streben als an der russischen Freiheitsbewegung mit Eifer beteiligten, erwarteten mit um so größerer Ungeduld die bevorstehende Umgestaltung der politischen Verhältnisse Russlands. Da wurden sie denn, als die Freiheitssonne der russischen Völker wirklich aufzugehen schien, jäh an ihre frischen Wunden gemahnt; denn was sie im Juli und Anfang August, zu einer Zeit, da offiziell die Bürokratie am Ruder war, erlebt, widerfuhr ihren Millionen Brüdern in dem Moment, da ihre Hoffnung verwirklicht zu werden begann, da sie einen Trost für ihre Schmach gefunden zu haben glaubten.