Die Judenpogrome in Russland. Band 2. Einzeldarstellungen. Homel, Gouv. Mohilew

Herausgegeben im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission.
Autor: Redaktion A. Linden, Erscheinungsjahr: 1910
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit, Kischinew, Gewalttaten, Gräueltaten, Ermordung, Schändung, Vergewaltigung, Plünderung, Totschlag, Exzesse, Duldung, Entsetzlichkeit, Grausamkeiten
Homel, Gouv. Mohilew
        Gesamtbevölkerung (1897) 36.775. Juden 20.385.

Noch waren die Gräuel von Kischinew in frischer Erinnerung, noch waren die dort erlittenen Wunden nicht geheilt, als die jüdische Bevölkerung Russlands und der ganzen Welt durch die Nachricht von einem Pogrom in der bedeutenden Handelsstadt Homel von neuem in tiefste Erregung versetzt wurde. Konnte man sich nach Kischinew mit dem Gedanken trösten, dass es sich dabei um einen scheußlichen Einzelfall handelte, der sich namentlich nach dem Entsetzen, mit dem die ganze Welt auf diese schrecklichen Ereignisse reagiert hatte, niemals wiederholen würde, so musste sich bei der Nachricht von dem Pogrom von Homel der Gedanke aufdrängen, dass man es mit einem System zu tun hatte, mit den Anfängen eines grausamen und gewissenlosen Feldzuges gegen die entrechteten, pauperisierten und doch durch ihre bloße Existenz die Ruhe der russischen regierenden Schichten störenden russischen Juden. Daher das große Interesse, das sich allseits dem Homeler Pogrom gegenüber zeigte und das durch die eigenartige Gerichtskomödie, durch die die Haltung der russischen Regierung die rechte Beleuchtung erhielt, noch verstärkt wurde.

Nach den Zeitungsberichten und den bei der Gerichtsverhandlung gemachten Aussagen stellen sich die Ereignisse folgendermaßen dar:

Am 29. August (alten Stils) 1903 kam es auf dem Markt zu einer Schlägerei zwischen Juden und Christen. Ein Waldhüter des Grafen Paskewitz wollte bei einer jüdischen Handelsfrau eine Heringstonne im Werte von sechs bis sieben Rubel für zwei Rubel erstehen. Als er die Tonne gewaltsam nehmen wollte, rief die Frau um Hilfe. Es liefen viele Juden und auch Bauern zusammen, man hörte die bekannten und gefürchteten Rufe: „Haut die Juden!", und viele jüdische Händler schlossen eilig die Läden. Da aber Homel eine überwiegend jüdische Bevölkerung besitzt, sahen sich bald die Bauern den Juden gegenüber in der Minderzahl und beeilten sich, den Marktplatz zu verlassen. Manche Bauern wurden sogar derart von Angst gepackt, dass sie schleunigst nach ihren Dörfern flohen. Leider hat diese Schlägerei einem Menschen das Leben gekostet: ein Bauer wurde durch einen Messerstich tödlich verletzt. Es ist natürlich schwer zu sagen, wer ihm im Gewirr des Kampfes die lebensgefährliche Wunde beigebracht hat. Es ist aber wohl möglich und sogar wahrscheinlich, dass der Täter ein Jude, vermutlich ein jüdischer Schlächter, war. Die Polizei, die gleich nach dem Vorfall erschien, nahm (mehrere Verhaftungen, ausschließlich unter den Juden, vor und zerstreute die angesammelten Menschenhaufen. Sie wurde dabei von einigen angesehenen jüdischen und christlichen Einwohnern unterstützt, die die Menge zu beruhigen und zum Auseinandergehen zu bewegen suchten.

Die Juden hatten nun das Gefühl, einen Pogrom durch eigene Kraft verhindert zu haben und dem Schicksal ihrer Kischinewer Brüder, das ihnen drohte, dadurch entgangen zu sein. Andererseits aber tauchten sofort Befürchtungen auf, dass sich die dunkeln Elemente, deren Tätigkeit in Homel bekannt war, mit diesem Ausgang nicht zufriedengeben und dass sie im Gegenteil bald die Schlägerei des 29. August zur Anzettelung eines größeren Blutbades, einer besser organisierten und umfangreicheren Plünderung, als die, die am 29. stattfinden konnte, benutzen werden. Diese Befürchtung war nur zu begründet. Dass die Juden sich erkühnt hatten, ihr Leben und ihr Gut zu verteidigen — und dazu noch erfolgreich zu verteidigen — sollte ihnen teuer zu stehen kommen.

An den nächsten beiden Tagen — es waren Sonnabend und Sonntag — wurden unter der christlichen Bevölkerung die ungeheuerlichsten Gerüchte verbreitet, die auf den Ausbruch einer Judenhetze berechnet waren. Aus dem einen getöteten Christen machten diese Gerüchte zwölf. Außerdem hieß es, die Juden hätten einen Geistlichen ermordet, ein Kloster demoliert, einen Offizier getötet usw. Sonnabend wurde in Monastyrka, einem ausschließlich von Christen bewohnten Vorort Homels, eine Versammlung abgehalten, an der sich allerlei verdächtiges Gesindel beteiligte. Hier wurde beschlossen, am Montag, den 1. September (an einem Markttage also), einen Pogrom zu inszenieren. Diese Nachricht verbreitete sich rasch in der Stadt, und viele Juden wurden von wohlgesinnten Christen auf den Ernst der Lage aufmerksam gemacht.

Steht auch der Beschluss, den Pogrom am 1. September zu arrangieren, im Zusammenhang mit der Schlägerei von Freitag, den 29. August, so ist es doch wichtig, zu betonen, dass dieser Zusammenhang sich nur auf das Datum beschränkt, denn schon lange vorher scheint die Inszenierung eines Pogroms in Homel beschlossene Sache gewesen zu sein. Diesbezügliche Proklamationen kursierten in großer Menge schon vor dem 29. August unter den Homeler Arbeitern. Die Juden wussten auch von diesen Vorbereitungen und waren darum auf das Schlimmste gefasst. Aber nach dem 29. August nahmen diese Befürchtungen eine ganz bestimmte Gestalt an. Der Polizeimeister beruhigte die Juden, indem er versicherte, es werde ein Leichtes sein, jeden Versuch, einer Plünderung zu unterdrücken. Eine gewisse Beruhigung empfanden auch die Juden, als die Soldaten der Homeler Garnison aus dem Lager in die Stadt einrückten.

Der gefürchtete Montag kam und brachte auch allen Versicherungen und Beruhigungen zum Trotz alle Schrecken eines Pogroms.

Gegen Mittag begab sich aus den Eisenbahnwerkstätten ein Haufen Arbeiter — es sollen etwa 200 Mann gewesen sein — nach der Stadt mit der festen Absicht, den Pogromplan zu verwirklichen. Sie waren mit dicken Stöcken und Eisenstangen bewaffnet. Um in die Stadt zu gelangen, hatten sie eine verhältnismäßig schmale Brücke zu passieren, die zu dem Eisenbahndamm führt. Der Polizeimeister Kajewski, der vielleicht aufrichtig bestrebt war, einen Pogrom zu verhindern, stellte hier eine Patrouille auf, die die Arbeiter aufhalten sollte. Die Patrouille wurde aber umgangen. Wohl gab es noch Gelegenheit genug, den Plünderern in den schmalen, zur Stadt führenden Straßen den Weg zu versperren. Aber die an den entsprechenden, zumeist richtigen Stellen aufgestellten Soldatenabteilungen Ließen sich entweder von den Plünderern umgehen, oder aber sie Ließen die Plünderer ohne weiteres passieren. So war es an der Technitscheskaja und an der Samkowaja-Strasse. Bald begannen nun hier auch die Plünderer ihr Zerstörungswerk. Vor den Augen der Soldaten und der Polizei wurden die Fenster der jüdischen Häuser eingeworfen, die Türen mit Eisenstangen erbrochen, Kissen — die wertvollsten Sachen der armen Leute — wurden zerrissen, die Möbelstücke zertrümmert.

Als schon einige Häuser demoliert waren, kam aus dem Zentrum der Stadt ein Haufen Juden, der gegen die Plünderer vorrückte. Im ersten Augenblick gelang es ihnen in der Tat, die Plünderer in die Flucht zu jagen, aber nun kamen die Soldaten, stellten sich mit der Front gegen die Juden auf und zwangen sie, zurückzuweichen. Während die Soldaten auf diese Weise die Juden hinderten, nach der Nowakowskaja-Straße vorzudringen, setzten hier die Plünderer hinter den Rücken der Soldaten ruhig ihr Werk fort und demolierten alle jüdischen Häuser.

Inzwischen wuchs die Menge der Juden an, und es gelang ihnen, die Kette der Soldaten zu durchbrechen. Sie kamen aber nicht weit, da sie auf eine andere Kompagnie stießen, die sie durch Drohungen, auf sie zu schießen, festhielt.

Dasselbe Schauspiel wiederholte sich an vielen anderen Stellen. Die Juden waren überall bestrebt, den Plünderern entgegenzutreten und sie an ihrem scheußlichen Werke zu hindern. Dies erreichten sie oft überraschend leicht. An einer Stelle vermochte ein einziger mit einem Revolver bewaffneter Jude einen Haufen Hooligans vom Eindringen in eine Straße abzuhalten. Gewöhnlich erschienen aber bald darauf Soldaten, drängten die Juden zurück und überließen dann das gewonnene Terrain den Plünderern. An der Wetrennaja-Straße mussten viele Juden das Bestreben, ihren Angehörigen und Volksgenossen beizustehen, teuer bezahlen. Hier wurde von den Soldaten eine Salve abgefeuert, drei Juden fielen tot hin und viele wurden verwundet. Während diese sich in Qualen wanden, ergaben sich die Plünderer in der nächsten Nähe unter dem Schutze der Polizei und des Militärs den wüstesten Exzessen.

Der Homeler Pogrom ist so reich an erschütternden Szenen, dass ihre Beschreibung eine ganze Schrift füllen könnte. Wir beschränken uns auf einzelne Vorfälle.

An der Ecke der Irinenskaja-Strasse überfiel eine ganze Bande Exzedenten den 38 jährigen Juden Kewesch. In Gegenwart des Pristawgehilfen Tschornolusski schlugen sie auf ihn mit Knütteln und Steinen ein. Als ein Stein den Schädel zerbrach und der Unglückliche zu Boden fiel, hatten die Bestien noch nicht genug, sondern setzten die Tortur fort. Nach zwei Tagen erlöste der Tod den Märtyrer. Sein Schädel war an vielen Stellen zertrümmert.

Der alte Kolporteur Leckin büßte in ähnlicher Weise sein Leben ein. Es war entsetzlich, zu sehen, wie dieser wehrlose Greis unter den wuchtigen Schlägen der Plünderer zusammenbrach.

Das jung verheiratete Ehepaar Pjatezki fiel in die Hände der plündernden und mordenden Bauern, als es von Homel fliehen wollte. Der Mann wurde in unmenschlicher Weise vor den Augen der Frau getötet. Die verzweifelte Frau bat die Mörder, sie doch auch zu töten, aber dieser Gefallen wurde ihr nicht erwiesen.

Als die Juden sahen, dass eine Verteidigung unmöglich gemacht werde, suchten sie sich zu verstecken. In einem Keller waren einige jüdische Familien verborgen. Sie hörten von oben das Gejohle der Plünderer, das Klirren der eingeworfenen Fenster, die Klagerufe der Misshandelten und zitterten bei dem Gedanken, dass das Weinen ihrer Kinder ihren Zufluchtsort verraten könnte. In diesem finsteren und feuchten Keller brachte während des Exzesses eine der geängstigten unglückseligen Frauen ein Kind zur Welt und musste sich die ganze Nacht ohne Beistand quälen, ja, ohne sich einen Schrei, ein lautes Stöhnen erlauben zu dürfen.

Die ersten Schüsse, die auf Befehl des Polizeimeisters auf die Plünderer abgegeben wurden, genügten, um dieses feige Gesindel sofort auseinanderzujagen. Allerdings wurden durch diese Schüsse einige Plünderer verwundet und zwei getötet. Der Pogrom nahm damit sein Ende.

Alle Homeler Juden litten in diesen Tagen unsägliche moralische Qualen, einige verloren durch die Schrecken dieser Tage ihren Verstand. Der Korrespondent des ,,Wos'chod" schildert in erschütternder Weise den Zustand einer alten Frau, die in ihren Sinnestäuschungen von Pogrombildern verfolgt wurde. Die unglückliche Frau schrie fortwährend: ,,Man schlachtet, man ersticht, man schneidet Kindern den Bauch auf . . . Man plündert. — Man zertrümmert." Aber einige Familien hatten außerdem auch den Tod ihrer Angehörigen zu beklagen, und groß war die Zahl der mehr oder minder schwer Verwundeten. Materiellen Schaden erlitten etwa 400 Familien. Viele, die früher als bemittelt galten, wurden obdachlos und hatten keine Mittel, um sich die bescheidenste Wohnung zu mieten.

Die russische Gesellschaft Homels war weit davon entfernt, das natürliche Gefühl der Scham für das Vorgefallene zu empfinden. Einige Polizeibeamte und Offiziere haben durch ihr Verhalten das Zustandekommen des Pogroms geradezu ermöglicht, die anderen Vertreter der Gesellschaft, die nicht in der Lage waren, aktiv einzugreifen, begnügten sich damit, ihre Zufriedenheit mit den Ergebnissen des Pogroms zu äußern. Nur wenige gebildete Russen fanden den Mut, ihrem Abscheu vor den begangenen Verbrechen Ausdruck zu geben.

Der Gouverneur erschien am 3. September in Homel, ließ einige jüdische Einwohner zu sich kommen und hielt an sie eine an und für sich empörende, angesichts der frisch begangenen Verbrechen unsäglich rohe Ansprache. Nach seiner Meinung wären die Juden an allem schuld, weil sie sich nicht genügend duckten, „In den Gymnasien" — sagte er — ,,verführen die Juden die Jugend, in der Universität rühren die Zusammenrottungen von Juden her. Überhaupt sind die Juden jetzt frech, ungehorsam, sie haben jede Achtung gegen die Behörden verloren . . . In diesen Tagen wurde meine Frau von einem Radfahrer überfahren. Wer war das? Ein Jude. Auf der Straße treffe ich einen Gymnasiasten mit der Zigarette im Mund. Er geht vorüber, ohne mich zu grüßen. Wer ist das? Wiederum ein Jude, eine Gymnasiastin streift meine Frau, während sie sich gerade anzieht, mit dem Ärmel. Gefragt, warum sie sich nicht entschuldige, antwortet sie: ,,Ich habe es nicht bemerkt." Wer war das? Eine Jüdin. Hier, meine Herren, liegen die Ursachen. Sie haben selbst schuld Die Regierung ist unparteiisch, und ich bin unparteiisch, und in meiner Unparteilichkeit sage ich Ihnen: Sie haben selbst schuld." Und so weiter im selben Ton.

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Mit großer Spannung wurde der Gerichtsverhandlung über den Pogrom entgegengesehen, namentlich als man erfuhr, dass die Verhandlung eine öffentliche sein werde. Zwar war die Voruntersuchung in unerhört parteiischer Weise geführt, Schutzleute und Soldaten wurden vom Untersuchungsrichter in Gegenwart ihrer Vorgesetzten vernommen, die sie vorher genau instruiert hatten, was sie auszusagen hätten, und dann die Ausführung ihrer Instruktionen überwachten, Angaben der misshandelten und ruinierten Juden über die an ihnen verübten Gewalttätigkeiten, über die Persönlichkeiten der Missetäter, über das Verhalten der Polizei und des Militärs wurden entweder gar nicht angehört oder, wenn sie schon mit höhnischer Miene entgegengenommen wurden, ganz ignoriert und trotz des Drängens der Aussagenden nicht zu Protokoll gebracht. Man hoffte aber, dass sich vieles bei der Gerichtsverhandlung nachholen lassen würde.

Eine Vorahnung dessen, wie sich der Prozess gestalten werde, erhielt man bei der Lektüre der Anklageschrift, die allgemeine Entrüstung hervorrief. In ausführlichster Weise werden da zunächst sämtliche Juden Homels der schrecklichsten Dinge bezichtigt: sie wären anmaßend und frech Andersgläubigen gegenüber, sie hegten eine erbitterte Feindschaft und Verachtung gegen die Christen und äußerten diese Gefühle bei jeder Gelegenheit. Es war, als ob das Programm zu diesem Teile der Anklageschrift der erwähnten Rede des Gouverneurs entnommen worden wäre. Dann heißt es hier weiter, die Juden hätten den Plan gefasst, sich an den Christen für Kischinew zu rächen. Daher die Schlägerei des 29. August. In ausführlicher Weise werden die weisen Maßregeln der Polizei und des Militärs geschildert, die nur durch die Haltung der Juden nicht zum gewünschten Erfolg geführt hätten, da sich die Juden merkwürdigerweise durchaus nicht beschützen lassen wollten und in blinder Wut gegen ihre Beschützer vorgingen. Die Missetaten der Juden werden meist nur in allgemeinen Redensarten geschildert, da die von der Anklagebehörde gesammelten konkreten Tatsachen wohl nicht ausreichten, und es konnte außerdem leicht geschehen, dass sich diese Tatsachen in der Gerichtsverhandlung als falsch herausstellten. Dagegen werden die an den Juden verübten Gräuel recht kurz und nebenbei behandelt.

Als der Zeuge Plotkin bei seiner Vernehmung vor Gericht mit seinem Urteil über die Anklageschrift nicht zurückhalten konnte und trotz der Strafe, die ihm dafür drohte, ausrief: ,,Was darin steht, ist eine gemeine Lüge!", hatte man das befreiende Gefühl, dass die Wahrheit über dieses schändliche Schriftstück nun doch ausgesprochen wurde.

Die Befürchtungen, die durch die Anklageschrift erweckt waren, wurden durch die Verhandlung noch bei weitem übertroffen. Vom ersten Tage an konnte man sich überzeugen, dass der Zweck der Verhandlungen nicht die Feststellung der Wahrheit oder die Ermittlung der Schuldigen, sondern einzig und allein die Erlangung mehr oder minder plausibler Beweise für die Behauptungen der Anklageschrift war. Was diesem Zweck nicht dienen konnte oder gar hinderlich war, musste aus den Verhandlungen ausscheiden. So durften Zeugen nicht herangezogen werden, die über die Aufrufe, die noch vor dem 29. August zu Pogromen aufgefordert hatten, aussagen konnten. Man durfte nicht die Haltung der Polizei und des Militärs während des Pogrom» schildern. Man durfte keine Vorgänge berühren, die sich außerhalb des Weichbildes der Stadt abgespielt hatten, obgleich diese Vorgänge Aufklärung über die frühzeitige Organisation des Pogroms geben konnten. Der Vorsitzende ließ es nicht zu, dass man irgend etwas über die Anstifter des Pogroms aussagte, mit der Begründung, dass diese Anstifter nicht angeklagt wären. Die Verteidiger und die Zeugen durften nicht von den Juden sprechen, die am 29. August verwundet worden waren, da die Anklageschrift behauptete, an jenem Tage wären nur Christen verwundet.

Während der ganzen Dauer der Verhandlungen, die sich über mehr als zwei Monate hinzogen, hörte man fortwährend schroffe Zurechtweisungen seitens des Vorsitzenden: ,,Darüber dürfen Sie nicht sprechen!" „Diese Frage erlaube ich nicht zu stellen!" ,,Das interessiert den Gerichtshof nicht!" usw. Die Verteidiger, die Zeugen, die Berichterstatter waren ob einer solchen Verhandlungsleitung ebenso verblüfft wie entrüstet. Die Verteidiger versuchten fortwährend, dem Vorsitzenden klar zu machen, dass gewisse Aussagen absolut notwendig seien, um die Behauptungen der Anklage nachzuprüfen. Aber weder Gründe der Logik noch Hinweise auf Gesetzesbestimmungen, die hier mit den Füssen getreten wurden, konnten etwas ausrichten. Es wurde nur erreicht, dass die Verteidiger sich eine Zurechtweisung nach der anderen zuzogen. Sie fügten sich indes im Interesse der Angeklagten und im Glauben, dass es ihnen doch gelingen werde, das Gewebe der Lügen der Anklageschrift zu zerreißen. Es kam aber doch zu einem gewaltsamen Ende.

Am 21. Dezember 1904, nachdem der Prozess schon über zwei Monate gedauert hatte, sollte der Arbeiter Schustow als Zeuge vernommen werden, auf dessen Aussage die Verteidigung großes Gewicht legte. Schustow begann mit der Darstellung der Ereignisse vom 29. August, wie er sie beobachtet hatte. Er wurde aber sofort vom Vorsitzenden unterbrochen mit der Aufforderung, die Ereignisse vom 1. September zu schildern. Er könne dann nachher über den 29. August berichten. Umsonst beteuerte der Zeuge, es wäre ihm unmöglich, von hinten anzufangen. Der Vorsitzende verharrte bei seinem Verlangen und erlaubte dem Schustow nicht, vom 29. August zu sprechen. Unter diesen Umständen lehnte es Schustow ab, überhaupt irgend etwas auszusagen. Die Verteidiger der jüdischen Angeklagten wollten aber nicht so leicht auf seine Aussage verzichten und versuchten immer wieder den Vorsitzenden zur Zurücknahme seines ebenso widersinnigen wie ungerechten Verlangens zu bewegen. Der Erfolg war, dass dem Rechtsanwalt Sokolow ein Verweis erteilt wurde. Die Verteidiger der jüdischen Angeklagten sahen nun ein, dass unter diesen Umständen von den weiteren Verhandlungen nichts für die Ermittelung der Wahrheit zu erwarten wäre, dass sie auch für ihre Mandanten nichts leisten könnten und dass es eine Verletzung der Würde des Anwaltsstandes wäre, wenn sie sich noch weitere Zurechtweisungen seitens des Vorsitzenden gefallen lassen würden. Sie legten daher nach Darlegung ihres Standpunktes sämtlich die Verteidigung nieder. Die Aufregung der Angeklagten und der Zuhörer während der dieser Erklärung vorangegangenen Beratung der Verteidiger lässt sich kaum beschreiben. Man hatte das Gefühl, dass man hier Männer, die nur das Beste gewollt, die zur Ermittelung der Wahrheit monatelang unter Hintansetzung ihrer persönlichen Interessen unermüdlich gearbeitet hatte, schikanieren und erniedrigen wollte. Die Niederlegung der Verteidigung wurde denn auch mit stürmischen Beifallsäußerungen begrüßt.*) Mit Tränen in den Augen dankten die Angeklagten den Verteidigern für ihren bisherigen Beistand und versicherten, dass sie die Niederlegung der Verteidigung absolut billigten. Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, dass der Saal nach diesen Beifallsäußerungen sofort geräumt wurde. Gleichzeitig lehnten die jüdischen Angeklagten trotz der für sie geschaffenen kritischen Lage den vom Gericht bestellten und jeden anderen Verteidiger ab.

*) In den folgenden Tagen erhielten die Verteidiger fast aus allen bedeutenden Orten Russlands in begeisterten Worten abgefasste Zustimmungserklärungen verschiedener juristischer und anderer Korporationen und zahlreicher Privatpersonen.

Nach diesem Tage ging beim Publikum das Interesse für den Prozess verloren. Und doch waren die Verhandlungen nicht ohne Nutzen gewesen. Trotz aller ungünstigen Umstände war es doch gelungen, den Schleier, mit dem die Behörden den wahren Sachverhalt so sorgfältig verhüllt hatten, an manchen Stellen zu zerreißen. Die Behauptungen der Anklageschrift wurden in keiner Weise bestätigt. Manche Zeugen sagten unter ihrem Eide aus, dass sie dem Untersuchungsrichter nur das berichtet hätten, was ihnen von ihren Vorgesetzten befohlen worden wäre, und dass jene Berichte vollständig falsch wären. Die Unwahrhaftigkeit anderer Belastungszeugen wurde beim Kreuzverhör evident. Kurz, der Plan der Regierung, aus dem Prozess ein Mittel zur Rechtfertigung der Plünderer und ihrer Begünstiger zu machen, war kläglich gescheitert.

Dieses Fiasko wird uns ganz besonders klar, wenn wir das; gegen Ende Januar 1905 gefällte Urteil betrachten. 16 christliche und 13 jüdische Angeklagte wurden freigesprochen, 16 Russen und 18 Juden wurden zu kurzfristigen Gefängnisstrafen (von 10 Tagen bis zu 5 Monaten und 20 Tagen) verurteilt. Außerdem beschloss der Gerichtshof, eine Herabsetzung der Strafe auf dem Gnadenwege anzustreben. Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme hatte auch dieser Gerichtshof nicht den Mut, die Juden zu hohen Strafen zu verurteilen. Er konnte sie aber auch nicht sämtlich freisprechen, ohne die Behörden zu desavouieren. Es wurde also der mittlere Weg gewählt: man Ließ Gnade über Gerechte und Ungerechte leuchten, so dass die Plünderer ebenso gut wegkamen wie die Opfer. Mit Recht bemerkt aber die Zeitung Prawo (das Recht): „Wenn sowohl die jüdischen als die christlichen Angeklagten nur in geringem Masse an den Morden, Plünderungen und sonstigen Gewalttätigkeiten schuld sind — denn nur unter dieser Voraussetzung lässt sich die auffallende Milde des Urteils erklären — so muss sich doch jedermann fragen: wer ist aber der wirkliche Schuldige? Für den, der den Gang der gerichtlichen Untersuchung aufmerksam verfolgt hat, kann es nur eine Antwort geben: dieser Schuldige ist die politisierende Bureaukratie. Dieser Schuldige saß nicht auf der Anklagebank, aber er ist verurteilt. Der bessere Teil der russischen Gesellschaft und ganz besonders die Juden lechzten nach Gerechtigkeit und erwarteten mit Sehnsucht die Ermittelung der Wahrheit, aber gerade dieser Schuldige scheute die Wahrheit und verhüllte sie durch eine allgemeine Amnestie."

Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

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Russland 011. Eine Nebenbahn

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Russland 011. Lastfuhrwerke

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Russland 011. Schlitten

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Russland 017. Im Nordrussischen Waldgebiet

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Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

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Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

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Russland 022. Ein Narr in Christo

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Russland 022. Speicher im Gouvernement Olonezk

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Russland 022. Vorstadtkinder

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Russland 023. Industriearbeiter aus Jaroslaw

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Russland 025. Das Russsische Bad (2)

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Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

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Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

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Russland 038. Russische Großstadtstraße (1)

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Russland 038. Russische Großstadtstraße (2)

Russland 038. Russische Großstadtstraße (2)

Russland 046. Kleinrussin

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Russland 047. Großrusse

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Russland 050. Eine Altgläubige (Raskolniza)

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Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

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Russland 054. Großrussischer Junge mit selbstgefertigtem Hackbrett

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Russland 054. Junge auf der Wanderschaft

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Russland 064. Eine Tatarenfamilie vom Unterlauf der Wolga (Auf dem Tisch der Samowar, die im ganzen Russischen Reich verbreitete Teemaschine)

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Russland 064. Kalmükischer Buddhistenpriester (Lama) aus der Steffe der Donkosaken

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Russland 064. Wolgatataren als Hafenarbeiter

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Russland 076. Das Grab des Baal-Schem, Der Baal-Schem war der Begründer des Chassidismus einer jüdischen Sekte, deren Anhänger zu seinem Grabe wallfahren

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Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa

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Russland 077. Ein Cheder (Judenschule) in Wolhynien

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Russland 078. Der Chacham (Oberrabbiner) der Karaiten (jüdische Sekte) leben großenteils auf der Krim

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Russland 078. Jüdische Handwerkerfamilie in Podolien

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Russland 079. Die Ältesten einer jüdischen Dorfgemeinde in Wolhynien

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Russland 079. Jüdischer Dorfladen in Podolien

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