Die Guenderode

Einleitung zur neuen Taschenausgabe
Autor: Ernst, Carl Friedrich Paul (1866-1933) deutscher Schriftsteller und Journalist, Erscheinungsjahr: 1906
Themenbereiche
Die Briefbücher der Bettine sind weder als authentische Aktenstücke aufzufassen, noch als reine Erdichtungen; es liegt ihnen nicht nur im ganzen, sondern auch im einzelnen immer tatsächliches Erlebnis sowohl wie wirkliches Briefmaterial zugrunde, wahrscheinlich in viel stärkerem Maße, wie man heute gewöhnlich annimmt. Sie begann ihre Schriften herauszugeben, als die romantische Zeit in Deutschland vergangen war, und damit mangelte den meisten Menschen der unbefangene und dichterische Sinn, welcher sie genießen konnte; nüchterne und geärgerte Leute waren aufgekommen, welche gleich ihren Vorgängern im achtzehnten Jahrhundert überall ehrbar nach dem Nutzen fragten, in allen Fällen die genaue Wahrheit wissen wollten, wie alles zugegangen sei, und sich, wie es so biederer Leute Art ist, leicht gefoppt vorkamen. In einem reizenden Brief aus dem Goethebuch erzählt Bettine von ihrer so ganz andern Art gelegentlich eines Mannes mit einer Farbentheorie; „Da ein Dämon in mir dem allen entgegenarbeitet, was sich als Wirklichkeit behauptet, keine Form veredelt, alles Poetische leugnet oder höchst gleichgültig überbaut oder zertrümmert, so hab ich ihm durch meine großen Lügen, Parodien und Vergleichssammlungen wiederum das Leben, das ganz erstarren wollte, auf etliche Zeit gefristet.“ Man kann leicht begreifen, mit welchem Ärger die Leute vom Schlage jenes Mannes, die seitdem Ja in der Mehrheit sind, sich gegen das leichtfertige poetische Geschöpf gewendet haben. Die drei bedeutendsten Werke der hier gemeinten Art sind Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, die Gründerode, und Clemens Brentanos Frühlingskranz. Durch die Eigentümlichkeit sowohl ihrer Entstehung, aus der Überarbeitung wirklicher Briefe, wie der Verfasserin, als einer wenig auf Ziel und Zweck bedachten Schriftstellerin, kommt es, daß sie eine eigene zweideutige Stellung immer behalten werden; nämlich wirkliche Dichtungen, wie wir ja Romane in Briefen haben, sind auch nicht zustande gekommen; es fehlt Plan, Anordnung, Entwicklung, Steigerung, Schürzung eines Knotens und Auflösung, ja eigentlich Anfang und Ende; die beste Vorstellung von ihnen gibt eine Ermahnung Goethes im Briefwechsel eines Kindes: „Ein bisschen mehr Ordnung in deinen Ansichten könnte uns beiden von Nutzen sein; so hast du deine Gedanken, wie köstliche Perlen, nicht alle gleich geschliffen, auf losem Faden gereiht, der leicht zerreißt, wo sie dann in alle Ecken rollen können und manche sich verliert“; und ein andermal sagt er ebenso schön: „Ich muss ganz darauf verzichten, dir zu antworten, liebe Bettine; du lässt ein ganzes Bilderbuch herrlicher, allerliebster Vorstellungen zierlich durch die Finger laufen; man erkennt im Flug die Schätze, noch eh' man sich des Inhalts bemächtigen kann.“

So sind denn die Bücher zwar im außerordentlichsten Sinne poetisch, ohne doch Dichtungen zu sein: hierin ganz im äußersten bezeichnend für den Zweig der Romantik, welchem Bettina angehörte; wir können sie nicht anders betrachten, wie eine Schnur von Perlen von ungleicher Form, wie ein Bilderbuch, das die quecksilbrige Verfasserin mit großer Geschwindigkeit durch die Finger laufen lässt; und zu der Bemerkung wegen des Inhaltes müssen wir noch zufügen, auch wenn wir der Dichterin das bunte Heft aus der Hand nehmen und es langsam durchblättern, so wird es uns doch noch immer schwer, uns des Inhaltes zu bemächtigen, ihn für längere Zeit festzuhalten fast unmöglich. Wie bunte Seifenblasen steigen die Einfälle, Erzählungen, Vergleiche, Schnurren, Lügen, Gefühle vor unserm staunenden Auge in die Luft, die herrlichsten und verschiedensten Farben leuchten auf jeder und laufen über sie hin, und plötzlich sind sie verschwinden, und in der Erinnerung haben wir nur noch die allgemeine Vorstellung des Bunten, Reizenden, Beweglichen, Zarten, Geschwinden, aber von einer bestimmten und unterschiedenen Seifenblase wissen wir nichts mehr zu sagen, es geht uns alles durcheinander.

Auch das ist ein poetischer Genuss, und wir müssen der Dichterin auf das herzlichste danken, daß sie uns dieses Eigenartige gegönnt hat; wir mögen an die entzückenden Farbenspiele auf schönen Gläsern denken, oder auf die bewussteren Anordnungen auf einem herrlichen Teppich; nur ein heiteres Träumen aus gedankenlosem Schauen soll hier in uns erzeugt werden, gleichwie dort, wo der Zufall Maler geworden ist, in gleichem Maße eine unmittelbare und kindliche Freude sehr gebildeter und unkindlicher Menschen eintritt.

Das Geheimnis der Wirkung liegt zum größten Teil in der Person der Verfasserin, zu einem geringern in der schönen Zeit und Umgebung, in welcher sie ihre Jugend leben durfte.

Bettina und ihr Bruder Clemens sind wohl unter unsern Dichtern diejenigen, von denen man am meisten sagen muss, daß sie poetische Naturen waren: sie fassten schnell auf, hatten ein sehr lebendiges Gefühl, eine geringe Nachhaltigkeit, fröhliches Gemüt, Lust am Komischen und jene schöne Gabe, alles Gewöhnliche und Langweilige in ein wundervolles phantastisches Licht zu setzen, daß es ein ganz neues Gesicht bekam. So mochten sie auf prosaische Gemüter den Eindruck machen, daß sie gern flunkerten, und Dichter, denen Großes gelang, mochten ihnen vorwerfen, daß sie ihre Fähigkeiten nicht zusammenfassen konnten zu wirklichen und vollendeten Werken; aber vielleicht ist bei jener Art Begabung das aufbauende und zusammenhaltende Genie nicht möglich und sollten wir den beiden nicht vorwerfen, was sie nicht gekonnt haben, sondern uns dessen freuen, das sie uns hinterließen, des ungeregelten Ergusses dichterischer Begabung.

Über die Umgebung, in welcher Bettina ihre Jugend verbrachte, ist den Kundigen unserer Dichtung nichts zu sagen: die Großmutter Sophie Laroche, die Freundin Wielands, die Mutter Maximiliane, die Freundin Goethes, Goethes Mutter, der Fürst-Primas, die Günderode, Arnim, Goethe, Wieland, Herder, Sinclair, Hölderlin, Tieck, Savigny — das sind nur einige Namen, denen man noch viele hinzufügen könnte. Und diese Namen bedeuteten damals mehr für eine Entwickelung , als sie heute bedeuten würden, denn damals waren die Verhältnisse einfacher und wahrer, der Verkehr freier, das gesamte Leben der Natur näher wie heute. So vermögen wir jetzt Lebenden noch eine besondere Freude zu haben, an welche die Verfasserin nicht denken konnte, wenn wir in ihren Erzählungen diese herrliche Bildung und klare Geistigkeit im einfachsten und natürlichsten Gewande sehen, wie es uns ja auch ganz besonders innig berührt, wenn wir das schlichte Arbeitszimmer Goethes betrachten.

Wenden wir uns nach diesen allgemeinen Betrachtungen nun zu unserm Buche im besondern, so dürfen wir hier wenig hinzufügen. Der Günderode sind einige Gedichte völlig gelungen, so dass sie durch ihren Klang und Fall der Verse zu unsern schönsten gehören; in den meisten zeigt sich jedoch, daß ihr Wollen größer war, als ihr Können. In diesen Briefen aber tritt das ganz zurück, da erscheint sie als die reifere und besonnenere Künstlerin, welche das hochbegabte und jüngere, frühreifere und poetische Wesen Bettinas anregt, zügelt und leitet. Diese gibt sich ihr als der Älteren mit der kindlichen Zutunlichkeit wie in dem Goethebriefwechsel, aber mit noch größerer Unbefangenheit und Ausgelassenheit. Kinder haben ein optisches Spielzeug, wo durch eine besondere Stellung kleiner Spiegel zueinander eine solche Möglichkeit vielfacher Widerspiegelung geschaffen wird, daß eine Nadel, welche man auf den bestimmten Punkt legt, als ein prächtiger Stern erscheint, ein Stück Moos als ein ungeheurer Wald fremdartiger Pflanzen. So ist in diesen Briefen das Wirkliche dargestellt; und dazu ist das schon Wirkliche in seiner Art abenteuerlich, schwungvoll, begeistert und hoch über aller Nüchternheit, ganz wie es in solcher Umgebung der vorzüglichsten Menschen in jener gesellschaftlich freien und natürlichen Zeit einem lebendigen, kecken, unverlegenen jungen Mädchen sein konnte.

In dem Briefwechsel mit Goethes Mutter hat Bettina von dem schmerzensreichen Ausgange der Günderode und von dem vorherigen Ende ihrer Freundschaft erzählt, auch hier, wie es scheint, nicht den Tatsachen ganz entsprechend. In diesem Buche hat sie alles Traurige vermieden: doch wohl aus einem künstlerischen Gefühl heraus, daß die Mädchenfreundschaft nur sonnig dargestellt werden dürfe; so ist denn das Werkchen ganz einheitlich geblieben und hat eine frohe und heitere Stimmung erzeugt.

Goethe. Zeichnung von Johann Heinrich Lips, 1791.

Goethe. Zeichnung von Johann Heinrich Lips, 1791.

Goethe in der römischen Campaga. Ölgemälde von J. H. W. Tischbein, 1787.

Goethe in der römischen Campaga. Ölgemälde von J. H. W. Tischbein, 1787.