Die Entwicklung der proletarischen Frauenarbeit

Die technische Revolution im Anfang des 19. Jahrhunderts. — Die Zunahme der Frauenarbeit infolge der Einführung der Maschinen. — Der Kampf der Arbeiter gegen die Maschine. — Der Kampf der Männer gegen die Frauenarbeit. — Die Entwicklung der modernen Hausindustrie. — Frauenlöhne um die Mitte des 19. Jahrhunderts. — Arbeiterwohnungen. — Die sanitären Zustände in den ersten Fabriken. — Die Lage der Landarbeiterinnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. — Die Entwicklung der Dienstbotenfrage. — Proletarische Frauenarbeit im Handel.

Wer die Geschichte der proletarischen Frauenarbeit im 19. Jahrhundert zu schreiben unternehmen wollte, müßte zugleich die Geschichte der Maschine schreiben. Sie war es, die wie ein Hexenmeister durch ihre eintönig rasselnde Rede und ihren feuersprühenden Atem jene dunklen, endlosen Scharen bleicher Frauen aus ihren stillen Heimstätten herauslockte und in ihre Dienste nahm. Zwar hat es nie eine Zeit gegeben, in der nicht durch die Handarbeit der Frau ein großer Teil der allgemeinen Bedürfnisse befriedigt wurde, aber erst von der Zeit an, wo die Kraft der Maschine anfing, die Muskelkraft des Menschen zu ersetzen, war es möglich, Arbeiter ohne Muskelkraft in Massen anzustellen. Mit Hammer und Zange, mit Hobel und Säge in der eigenen kräftigen Faust beherrschte der Mann die Produktion; er beherrscht sie auch dann noch, wenn die Triebkraft der komplizierteren Produktionsmittel auf Menschenkraft beruht, aber er muß dem Weibe neben sich Platz machen, je mehr die mechanischen Triebkräfte sich entwickeln und an Stelle der brutaleren Eigenschaften des menschlichen Körpers Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert werden. Frauen- und Kinderarbeit war daher die notwendige Folge der aufblühenden Großindustrie.372 Aber wie das rastlose Streben nach technischen Vervollkommnungen keine moralischen Beweggründe—etwa den Wunsch nach Entlastung des Menschen, nach verringerter Anstrengung und verkürzter Arbeitszeit—hat, sondern von dem Verlangen nach Verbilligung der Produktion beherrscht wird, so führt dasselbe Verlangen zur Beschäftigung weiblicher Arbeiter. Die Maschine wählt die in der Frau verkörperte billigste Arbeitskraft373, und ihre Wahl für eine Arbeit wird durch die Arbeitsarten bestimmt. Die Erfindung einer neuen Maschine oder die Benutzung motorischer Kräfte kann ein ungeübtes Mädchen den gelernten kräftigen Arbeiter ersetzen lassen. Erst die Veränderung des Arbeitsprozesses ermöglicht also die Beschäftigung der Frauen.374




Um die Wende des 18. Jahrhunderts vollzog sich jener große Umschwung auf dem Gebiete der Technik, der von so weittragender Bedeutung für die Entwicklung der Industrie sein sollte. Die Erfindung der Spinning-Jenny, der Kämmmaschine, der Bobbinetmaschine, des mechanischen Webstuhls, des Strumpfwirkerstuhls u.a.m., fiel in denselben Zeitraum wie die Erfindung der Dampfmaschine, und eine ungeheure Umwälzung im gewerblichen Leben war ihre Folge. In Wahrheit war es die Maschine, die den im Nebel phantastischer Träume schwebenden demokratischen Ideen eine reale Grundlage schaffen half: die gesteigerte Produktion entriß zahlreiche Gebrauchsartikel dem Alleinbesitz privilegierter Klassen und führte sie breiteren Massen des Volkes zu. An Stelle der einen Spindel, mit der der Mensch früher spann, treten schon im Anfang des Jahrhunderts durch die Maschine zwölf und mehr Spindeln, an Stelle der vier Nadeln, mit denen gestrickt worden war, trat der Strumpfwirkerstuhl mit Hunderten von Nadeln. Die Spinnmaschine war die erste, die ihren Eroberungszug durch die Kulturwelt antrat; Ende des 18. Jahrhunderts wurde sie in England zum erstenmal in Bewegung gesetzt, kurz darauf kam sie nach Massachusetts, wo bis zum Jahr 1809 87 Spinnereien mit 80000 Spinning-Jennys und einem Stamm von 66000 weiblichen Arbeitern ins Leben traten375; zu gleicher Zeit entstanden die drei ersten mechanischen Spinnereien in den Rheinlanden; vom Jahre 1806 datiert die Einführung der Spinnmaschinen in Deutschland, 1812 wurde eine von ihnen in Mülhausen bereits mit Dampf getrieben376, und sieben mechanische Spinnereien waren im Oberelsaß allein im Gang.377 Zwei Jahrzehnte später rief die geniale Erfindung des Selbstspinners neue Umwälzungen hervor. Aus der einen Spindel in der Hand der Frau ist die selbstthätig arbeitende Spinnmaschine entstanden, die heute bis zu 1200 Spindeln treibt. Aber auch sämtliche Vorbereitungsarbeiten, die früher in langsamster und z.T. ungesundester Weise ausgeführt wurden, sind von der Maschine übernommen worden: die Wollkämmer, die unter der schrecklichsten Staubentwicklung, mit den primitivsten Werkzeugen ausgerüstet, ihre Arbeit verrichteten, haben sie der bis zur höchsten Vollkommenheit ausgebildeten Kämmmaschine übergeben müssen, und sowohl das Waschen wie das Krempeln der Baumwolle und der Wolle geschieht auf mechanischem Wege. Am längsten widerstand die Seidenspinnerei der Einführung komplizierterer Maschinen. Erst neuerdings ist das langwierige und durch die dauernde Hantierung im Wasser gesundheitsschädliche Schlagen der Kokons mit der Hand durch Einführung von Schlagmaschinen ersetzt worden.

Gleichen Schritt mit der technischen Vervollkommnung der Spinnerei hielt die Weberei in allen ihren Arbeitszweigen. Während gemusterte Gewebe früher nur auf sehr mühsame und kostspielige Weise hergestellt werden konnten, ermöglichte die Erfindung Jacquards, die im wesentlichen auf der Anwendung der mit dem Webstuhl in Verbindung gebrachten durchlochten Musterkarten beruht, die Herstellung der Musterung auf mechanischem Wege. Wozu vorher ein hoher Grad von Uebung und Kunstfertigkeit notwendig war, das entstand jetzt mit Hilfe weniger, leicht gelernter Handgriffe. Die Erfindung des selbstthätig arbeitenden Webstuhls, mit dessen Problem sich schon Lionardo da Vinci beschäftigt hatte, bedeutete einen neuen Fortschritt. Schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten mechanischen Webereien in Amerika, England und Frankreich, durch die auch die Vorbereitungsarbeiten der Hausindustrie mehr und mehr entrissen wurden: statt daß eine Spulerin an dem Aufwickeln einer Maschine arbeitete, drehen sich an der Maschine fünfzig und mehr Spulen auf einmal; das Scheren und Aufbäumen, eine sehr beschwerliche Arbeit für die Handwerker früherer Zeit, besorgt eine Spule allein; auch das Schlichten oder Leimen, das durch Eintauchen der Garnsträhne in verschiedenartige Lösungen oder durch Bürsten der schon auf dem Webstuhl befindlichen Fäden besorgt wurde und nachher noch ein langwieriges Trocknen nötig machte, besorgt eine Maschine in erstaunlicher Geschwindigkeit. Während noch ein Jahrzehnt früher jedes gewebte Stück zum Appretieren, Walken, Rauhen, Scheren, Färben, Drucken und Pressen an ebensoviele andere Gewerbe überging, vereinigte die Fabrik bald auch diese Arbeitsweisen in ihren eigenen Räumen. Das Trocknen der appretierten Gewebe geschieht jetzt auf kupfernen, von innen geheizten Zylindern, ist also nicht mehr von der Laune der Sonne abhängig; das Walken des Tuchs, das unter großer Kraftanstrengung durch die Hände des Arbeiters im warmen Wasser geschah, wird jetzt von den schweren Hämmern der Walkmaschine besorgt; das Rauhen, das vor nicht allzulanger Zeit in der Weise vorgenommen wurde, daß der Arbeiter mit den rauhen Fruchtköpfen der Kardendistel das Tuch wiederholt stark andrückend bestrich—eine sehr zeitraubende Thätigkeit—ist jetzt durchweg Maschinenarbeit; das Scheren mit der Handschere, das Bedrucken mit der Handpresse, wodurch große Gewerbe Beschäftigung fanden, ist durch sie ersetzt worden. Wer heute neben der mit fabelhafter Geschwindigkeit rotierenden Walzendruckmaschine, die bis zwanzig Farben auf einmal in Anwendung bringen kann, den Handdrucker sehen könnte, der sein Druckmodel dem Stoff nach und nach aufpreßt und für jede neue Farbe immer wieder von vorne anfangen muß, oder wer zuschauen könnte, wie der Samtweber früherer Zeiten die wie in Schläuchen aufliegenden Faden des Gewebes mit dem Messer einzeln aufschneiden mußte, während der mechanische Webstuhl zwei miteinander durch die Florkette verbundene Stoffstreifen schafft, die zu gleicher Zeit mit dem Weben durch Schneidvorrichtungen auseinandergeschnitten werden, so daß zwei vollständig fertige Samtgewebe auf einmal entstehen—der würde sich von dem riesigen Fortschritt der Technik ein Bild machen können, vor dem die phantastischsten Märchenbilder verblassen müßten.



Aber noch tiefgreifender vielleicht, als auf das Spinnen und Weben, das ja schon lange die Anwendung gewisser, wenn auch primitiver Maschinen nötig machte, war der Einfluß der technischen Fortschritte auf die Spitzenindustrie, die Stickerei und die Wirkerei. Alle drei Arbeitsarten waren Jahrhunderte hindurch ausschließlich Handarbeit gewesen, die Klöppel, die Nähnadel und die Stricknadeln die einzigen Werkzeuge. Die Erfindung der Bobbinetmaschine, später noch vervollkommnet durch Verbindung mit der Jacquardmaschine bedeutete geradezu eine Umwälzung auf dem Gebiete der Spitzenerzeugung. Kaum ein Jahrzehnt nachher waren bereits allein in England 920 solcher Maschinen im Gange und vom einfachen Tüllgrund und dem Schleier angefangen bis zum gemusterten Vorhang und der feinsten Besatzspitze lieferten sie in Massen, was einst nur in wenigen Stücken den Reichsten zugänglich war. Noch tiefer griff die erst Mitte des 19. Jahrhunderts erfundene Plattstichstickmaschine in die häusliche Arbeit der Frauen ein. Statt daß mit der Nähnadel ein Faden vorsichtig neben den anderen gelegt wurde, hat die Stickerin nunmehr nichts weiter zu thun, als das kleine Musterbild mit dem Stift des Pantographen (Storchschnabel) nachzuziehen, der die Maschine, die es nachstickt, in Bewegung setzt. Diese Stickmaschine, bei der zunächst die mechanische Triebkraft nicht in Anwendung gebracht werden konnte, drang rasch in die fernsten Winkel der Hausindustrie, so daß die Weißstickereiproduktion einen enormen Umfang annahm; sie wirkte in ihrer weiteren Vervollkommnung aber auch noch revolutionierender auf die Spitzenindustrie, als die Bobbinetmaschine. Indem man nämlich ein Karbonisationsverfahren anwandte, durch das der Grundstoff oder Stickboden der Stickerei weggeätzt wurde, entstanden außerordentlich feine, sogenannte Luftspitzen, die manche künstlerische Gebilde früherer Zeit in den Schatten stellen.

Wie die Plattstichmaschine, so bildete auch die erste Strickmaschine eine Unterstützung der Hausindustrie, da sie mit der Hand getrieben wurde, und statt des einen Paares grober Strümpfe, die eine Handstrickerin in einem Tage fertigstellen konnte, deren 10 bis 12 Paar erzeugte. Mit der Erfindung der mechanischen Strumpfstrickerei ging sie notwendigerweise zum Fabrikbetrieb über. Heute erzeugt die selbstthätige Standard-Rundstrickmaschine nicht weniger als sechs Dutzend fast völlig fertiger Strümpfe täglich. Auch die der Strickerei so außerordentlich ähnliche Wirkerei war zunächst für den Handbetrieb eingerichtet; ein Handwirkerstuhl macht in der Minute bis 40000 Maschen, eine geübte Handstrickerin höchstens 100. Neben diesen Stühlen, die nur einfache gewirkte Stoffbreiten herstellen, entstand schon Anfang des 19. Jahrhunderts der erste Rundstuhl, aus dem die Stoffe in Schlauchform hervorgehen. Die Entwicklung der gewirkten Leibwäsche und des übrigen gewirkten Unterzeuges ist auf sie zurückzuführen.

Die Thätigkeit des Arbeiters bei all diesen Maschinen, die Spinn- und Webemaschinen eingeschlossen, beschränkt sich, sobald sie im Gang sind, großenteils auf das Ausrücken des Stuhles, sobald ein Faden gerissen ist und auf das Anknüpfen desselben. Neuerdings werden schon vielfach mechanische Ausrückvorrichtungen in Anwendung gebracht, so daß die Notwendigkeit dauernden, angestrengten Aufpassens in Wegfall kommt und der Arbeiter nur, sobald die Maschine still steht, den gebrochenen Faden zusammenzuknüpfen braucht. Daß diese Arbeit, die feine, gelenkige Finger erfordert, zu einer Frauenarbeit wurde, ist selbstverständlich. Das Weben am Webstuhl mit Hand- oder Fußbetrieb war fast immer Arbeit des Mannes. Sobald statt der Muskelkraft die Kraft der Maschine der Bewegungsmotor wurde, mußte er Frauen, ja selbst Kindern weichen.

Auf allen Gebieten wuchs der umgestaltende Einfluß der Maschine. Noch erzählen unsere Großeltern, wie sie sich ihre Briefumschläge stets mühsam selbst herstellten, wenn sie nicht in den Häusern der Aermsten durch Kinder und Frauen mit keinen anderen Werkzeugen als Schere und Pinsel hergestellt wurden. Heute schneiden und gummieren die Maschinen die Kuverts und liefern bis zu 300000 täglich; und in einer anderen Maschine braucht nur auf der einen Seite das Papier eingelegt zu werden, damit sie die fertigen Umschläge—4000 in der Stunde!—auf der anderen wieder herauswirft. Aehnliches geschieht in der Kartonage. An Stelle des Zuschneidens, das kräftige Finger erfordert, stanzt die Maschine die Formen aus, sie klebt, sie verbindet die einzelnen Teile und bei der Ausnutzung aller Hilfsmittel der Technik bleibt der Hand wenig zu thun übrig. Die ganze Papierfabrikation hat durch ihre große Veränderung die Frauen in ihren Dienst gerissen. 1808 wurde der Handbetrieb zum erstenmal durch eine Maschine ersetzt, die heute so vervollkommnet ist, daß sie das Rohmaterial aufnimmt und selbstthätig zu fertigem Papier verarbeitet. Auch eine andere ungeahnte Entwicklung ist das Verdienst der Maschine: Die Verbreitung der Zündhölzchen. Sie wäre unmöglich gewesen, wenn nicht die mechanische Herstellung der kleinen Hölzchen, die früher Stück für Stück mit der Hand geschnitzt wurden, ihr zu Hilfe gekommen wäre. Jetzt werden selbst die Schachteln, die die Handarbeit armer Kinder gewesen sind, fabrikmäßig hergestellt und gefüllt—25000 täglich!



Es läßt sich schwer abmessen, welche von all diesen genialen Erfindungen die Frauenarbeit am meisten beeinflußte; wohl aber kann ohne weiteres behauptet werden, daß keine eine so nachhaltige, sich immer weiter ausdehnende Wirkung hatte, als die zur selben Zeit wie die Spinn- und Webstühle in ihrer einfachsten Gestalt auftauchende Nähmaschine. Sie blieb lange unbeachtet. Erst als der Amerikaner Elias Howe 1844 die erste, wirklich brauchbare Maschine erfunden hatte, verbreitete sie sich mit einer Geschwindigkeit, die insofern nichts Erstaunliches an sich hatte, als ihre verhältnismäßige Kleinheit, der Betrieb durch Hand oder Fuß, ihr in jedem Haus Eingang verschaffte und sie eine Arbeit verrichtete, die mehr als irgend eine andere, von jeher in den Händen der Frauen gelegen hatte. Sie verzwölffachte überdies die Leistung der Handnäherin und gab somit Aussicht auf besseren Verdienst.378 Auf ihrem Prinzip beruhen eine Menge anderer Maschinen: die Knopfloch- und Knopfannäh-, die Kurbel- und Festoniermaschine, die Handschuh-Nähmaschine, und endlich die verschiedenen, in der Schuhwarenindustrie benutzten Nähmaschinen, deren erstes Aufkommen schon das altehrwürdige Schuhmacherhandwerk zu untergraben anfing und den Frauen den Eingang dazu verschaffte. Heute hat die mechanische Herstellung der Schuhwaren einen Grad von Vollkommenheit erreicht, die der der Weberei annähernd gleich kommt. Auch hier sind fast alle Vorbereitungs- und Vollendungsarbeiten von der Maschine übernommen worden: vom Ausstanzen der einzelnen Teile des Schuhs, wodurch das Zuschneiden entbehrlich gemacht wird, dem Walken des Schaftes, das das für den Kleinschuhmacher sehr beschwerliche Façonbiegen des Oberleders mühelos ausführt, bis zum Glätten des fertigen Schuhs, dem Nähen der Knopflöcher und Annähen der Knöpfe. Die moderne Schuhfabrik, in der die meisten Maschinen durch Kraftmotoren in Bewegung gesetzt werden und die alte vielseitige Thätigkeit des Schusters beinahe zu einer bloßen Aufsicht führenden zusammenschrumpfte, ist eine der letzten großen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts. An seiner Wiege stand, wie einst die Gaben spendenden Feen an der Wiege der Märchenprinzessin, der graue König Dampf und ließ über ihr sein erstes, prophetisches, eintönig-dröhnendes Lied erklingen. Er beherrschte sein Leben; unter seinem Regiment wuchsen die subtilsten Maschinen und die gewaltigsten Eisenkolosse hervor, er hüllte die Scharen seiner Diener und Dienerinnen in sein eigenes schwarzgraues Gewand—das Kleid der Armut und der Trauer. Einen neuen Zauberer sah das alternde Jahrhundert erstehen, der mit stillem weißleuchtendem Licht seine letzten Lebensjahre überstrahlte und der mit seiner jungen Kraft den alten Dampf zu ersticken droht. Wird er seine Unterthanen in die Kleider des Lichts sich hüllen helfen?——

Wer seine Blicke auf die ununterbrochene Folge staunenswerter Erfindungen richtet, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte, und von der sozialen und politischen Entwicklung nichts weiß, der muß erwarten, eine von schwerer Arbeit befreite, durch die enorm gesteigerte Produktion reich gewordene, gesunde und glückliche Menschheit vor sich zu sehen. Aber er findet nichts von alledem. Die Maschinen, von denen hier nur einige der für unseren Zweck wichtigsten genannt werden konnten, machten die große Masse des Volks abhängig von ihren Besitzern; sie rissen, soweit sie infolge ihrer große und Kompliziertheit oder der Einführung des motorischen Betriebs das Fabriksystem zur Bedingung hatten, die Menschen aus dem eigenen Haus, der eigenen Werkstatt heraus, beraubten sie ihrer selbständigen Existenz und zogen auch die Frauen in ihre Dienste, weil sie ungelernte Arbeitskräfte brauchten und die billigsten die willkommensten waren. Darum ist die Zunahme der Frauenarbeit da am rapidesten, wo die Benutzung der Maschine am höchsten entwickelt ist.379 Das zeigt sich besonders in dem Mutterlande der Großindustrie, in England. Schon 1839 gab Lord Ashley an, daß von den 419560 Fabrikarbeitern in Großbritannien 242296 Frauen waren; in den Baumwollfabriken waren 56-1/4%, in den Wollfabriken 69-1/2%, den Seidenfabriken 70-1/2% und den Flachsspinnereien 70-1/2% aller Arbeiter weiblich.380 Und zwanzig Jahre später konstatierte der englische Fabrikinspektor Robert Baker, daß die männlichen Arbeiter seit 1835 um 92%, die weiblichen dagegen um 131% zugenommen hatten. Auf einen größeren Zeitraum berechnet, erhöht sich die Ziffer zu Gunsten der Frauen noch bedeutend: Von 1841 bis 1891 ist die Zahl der männlichen Industriearbeiter um 53%, die der weiblichen um 221% gestiegen.381 Die absoluten Zahlen veranschaulichen dieses Wachstum noch deutlicher382 (s. Tabelle).
1841 1851 1861 1871 1881 1891
Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen Männer Frauen
Töpferei 23600 7400 34800 11100 42500 13400 49700 17700 52200 19700 64300 23800
Gas, Chemikalien 5800 300 16400 1700 24800 1500 34900 4100 44000 4000 66400 6300
Pelzwerk, Leder, Leim 31600 2400 44500 6500 47300 2300 49400 10200 49400 13300 59100 18200
Holzwaren, Wagen 147500 4900 180200 8900 202200 14100 214200 19500 221600 18400 253600 23300
Papier etc. 8900 3200 13600 8300 14600 10700 20300 13400 24600 23200 28600 34200
Textilwaren, Färberei 346200 257600 462400 472100 439700 526500 414500 555500 396400 566200 430500 585600
Bekleidung 343600 177200 397500 471200 378600 550900 363300 552700 344700 609300 353800 681300
Ernährung, Getränke, Tabak 82700 8000 120100 12400 133400 15600 145700 18500 152300 28900 173100 50200
Uhren, Instrumente, Spielzeug 19600 800 23500 1300 32800 2900 35900 3000 41700 3400 44600 5500
Buckdruckerei, Buchbinderei etc. 21100 1800 30400 3800 41300 6200 57600 8600 75000 13100 102100 19100
Total: 1030600 463600 1324200 997900 1357200 1150100 1385500 1203200 1401900 1299500 1576100 1447500

Selbst in solchen Industrieen, für die die Frauenarbeit ganz ungeeignet zu sein scheint, wie in den Gelbgießereien, der Minen- und Kohlenproduktion, der Ziegelei und Backsteinmacherei waren fast ausschließlich Frauen beschäftigt.383

Obwohl sich für andere Länder genauere auf längere Zeiträume sich erstreckende Berechnungen nicht machen lassen, so spricht alles dafür, daß die Entwicklung überall dieselbe gewesen ist. Seit 1840, wo die Textilindustrie in Deutschland überhaupt erst anfing, Bedeutung zu gewinnen, nahm die Frauenarbeit in erschreckender Weise zu. Die Landmädchen strömten in Scharen in die Fabrikstädte; kleine Orte, wie z.B. Gladbach, riefen in einem Jahr Hunderte von Frauen in ihre Mauern, und in Krefeld war ein Frauenüberschuß von 50% die Folge.384 In Nord-Amerika wurden allein in den Spinnereien von Massachusetts 1816 neben 10000 Männern 66000 Frauen gezählt385, und in den Baumwollfabriken von 25 Staaten der Union waren 1850 schon 62661 weibliche Arbeiter beschäftigt, die zehn Jahre später auf 75169 angewachsen waren, während sich zur selben Zeit in den Wirkereien dreimal so viel Frauen als Männer befanden.386 Für die Vereinigten Staaten im allgemeinen zeigt es sich, daß 1870 in der Industrie auf 100 arbeitende Männer gegen 17 Frauen, 1890 dagegen auf 100 Männer über 25 Frauen beschäftigt waren. Natürlich trat, wie es uns die Entwicklung der Maschine schon ohne weiteres lehrt, in den verschiedenen Industriezweigen eine mehr oder weniger starke Verschiebung der Geschlechter ein, die, besonders in der ersten Zeit, einer Verdrängung der Männer durch die Frauen gleich kam. So arbeiteten in 412 Fabriken in Lancashire im Jahre 1840 10721 verheiratete Frauen und nur 5314 ihrer Ehemänner waren in denselben Fabriken thätig, während 3927 als anderwärts beschäftigt, 821 als arbeitslos angegeben wurden und für 659 nähere Nachrichten fehlten. Es kamen demnach auf jede Fabrik zwei bis drei Männer, die von der Arbeit ihrer Frauen lebten. Das Bild einer vom arbeitslosen Mann geleiteten Hauswirtschaft, für deren Unterhalt die Frau allein sorgt, war zu jener Zeit durchaus kein seltenes.387 Die Maschine brauchte ihre gelenken Finger und das Unternehmertum ihre billige Arbeitskraft. Nach Adam Smith produzierten zehn Männer zu seiner Zeit durch Teilung der Arbeit etwa 48000 Nähnadeln täglich, Marx berichtet, daß die Maschine in elf Stunden 145000 Nähnadeln hervorbringt, und eine Frau vier solcher Maschinen beaufsichtigen kann, was einer Produktion von 600000 Stück täglich gleichkommt.388 Eine Frau ersetzte also fast 130 Männer! In Rheims waren im Anfang des 19. Jahrhunderts 10000 häusliche Wollkämmer vollauf beschäftigt; nach Einführung der Kämmmaschine gab es bald keinen einzigen mehr, während junge Mädchen an der Maschine standen.389 In die Nägel- und Schraubenfabrikation Englands drangen schon 1843 weibliche Arbeiter ein: die Maschine machte die männliche Kraft entbehrlich.390 Fünfzig Jahre früher führte der Teppichweber das Schiffchen mit der Hand, und produzierte 45 bis 50 englische Ellen, jetzt produziert die von einem Mädchen beaufsichtigte Maschine 360 Ellen wöchentlich391, d.h. sie schafft die Arbeit von sieben Männern. Ueberall zeigt sich dasselbe Bild: So war die Gravierung der Banknoten in England bis vor kurzem die schwierige Arbeit von Männern, eine neue Maschine ermöglicht es, ungelernte Frauen anzustellen, die für dieselbe Leistung statt 18 sh. nur 12 sh. wöchentlich erhalten. In den Konservenbüchsenfabriken, wo früher auch nur Männer für 15 bis 20 sh. wöchentlich thätig waren, arbeiten jetzt gleichfalls Frauen für den halben Lohn und die Arbeit des Stempelns vergoldeter Buchstaben auf Büchereinbände haben sie sogar für ein Drittel des Männerlohnes übernommen.392 Den größten Einfluß nach dieser Richtung hatte die Einführung der mechanischen Spinnerei und Weberei. An Stelle des Spuljungen, der eine Spule füllte, trat das Spulmädchen, das zwanzig und mehr an der Maschine beaufsichtigte; zahlreiche selbständige Kleinmeister sahen sich gezwungen, in die Fabrik zu gehen, wo ihre Frauen und Töchter, die die alten schweren Webstühle nicht hatten beherrschen können, ihre siegreichen Konkurrenten geworden waren.393 Ueberall dort, wo eine handwerksmäßige Ausbildung früher unausbleiblich schien, aber neue Erfindungen sie überflüssig machten, drangen die Frauen vor. So führte die Papiermachémasse sehr bald schon weibliche Arbeitskräfte in die Spielwarenindustrie ein, die, solange das Schnitzen und Bossieren ihren wesentlichen Inhalt gebildet hatte, ein Privilegium der Männer gewesen war.394 Und die Handmaler für Porzellan, die bis 1840 ihr gutes und reichliches Einkommen hatten, sahen sich sofort durch die Frauen beiseite geschoben, als die Möglichkeit, Porzellan zu bedrucken, den Anlaß bot, ungeübte Mädchen für einen Hungerlohn anzustellen.395 Die Schuhmacherei ist, wie wir schon gesehen haben, neuerdings derselben Wandlung unterworfen; die Schneiderei fängt an, denselben Weg zu gehen, seitdem in den großen Fabriken zu Leeds selbst der für ganz unentbehrlich geltende Mann, der Zuschneider, durch die Maschine, die die Stoffe in zahllosen Lagen ausstanzt, ersetzt wurde.



Es ist nun zwar notwendig, um von vornherein jedes schiefe Urteil zu vermeiden, sich stets vor Augen zu halten, daß dieses scheinbare Verdrängen der Männer durch die Frauen fast immer nur ein Verschieben ist, und die Zahlen fast überall beweisen, daß zwar das Wachstum der Frauenarbeit im Verhältnis bedeutend größer ist als das der Männer, jene aber von diesen, sobald die absoluten Zahlen in Frage kommen, noch immer bedeutend überflügelt werden; aber es ist auch begreiflich, daß die vollständig neue Erscheinung der weiblichen Konkurrenz im Erwerbsleben, wie sie zuerst im Anfang des 19. Jahrhunderts hervortrat, die Gemüter außerordentlich erregte. In Verbindung mit der gefährlichen Bedrohung des Handwerks durch die Maschine rief sie allerorten stürmische Empörungen hervor, die zu Anfang einen revolutionären Charakter annahmen. Jeder einzelne dieser fruchtlosen Kämpfe gegen den eisernen Riesen, der den Boden unterwühlte, auf dem der Arbeiter fest zu stehen glaubte, der die Bande der Familie lockerte, an denen das Glück und der Frieden des Volkes hing, hat etwas von jener antiken Tragik an sich, die den Helden mit der Gewalt eines Naturgesetzes der Vernichtung preis gab. Die erste Wut richtete sich in geheimen Verschwörungen und offenen Revolten gegen ihre blinden Werkzeuge, die Maschinen selbst. Unter dem Jubelgeheul der Massen zerstörten die Bewohner Blackburns Hargreaves Spinning-Jenny; kaum glaubte er in Nottingham eine Zuflucht gefunden zu haben, als die Empörung gegen ihn und sein Werk sich bis zum Volksaufstand steigerte und sein Haus, mit allem was es enthielt, dem Erdboden gleich machte. Er selbst starb im Armenhause, von denen am meisten verfolgt und verachtet, denen er sein Bestes gegeben hatte. Gegen Cartwrights Kämmmaschine richtete sich eine so wütende Agitation der Handkämmer, daß ihre Einführung erst Jahrzehnte nach ihrer Erfindung möglich wurde. Jacquards Webemaschinen gingen wiederholt in Flammen auf; er selbst sah sich wie einen Verbrecher von Land zu Land vertrieben und Heathcoats Spitzenmaschine fiel jener geheimen Verbindung der Ludditen zum Opfer, die sich gegen alle Maschinen verschworen hatte und ganz England in Schrecken versetzte. Ein Kampf, wenn auch ohne Feuer und Schwert, war es auch, wenn der Handwerker sich krampfhaft gegen die neu eingeführte Maschine zu behaupten versuchte, indem er die Produkte seiner Arbeit so lange im Preise herabsetzte396, bis er auf der untersten Stufe der Existenzmöglichkeit angekommen war, und sich nun mit Frau und Tochter in den Dienst des Feindes begeben mußte. Systematisch war der Feldzug, den die englischen Gewerkvereine um die Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die Maschine führten. Sie widersetzten sich mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln gegen ihre Einführung; sie nahmen lieber die Entbehrungen wochen- und mondelanger Streiks auf sich—wie z.B. die Schuster von Northamptonshire—, als daß sie nachgegeben hätten.397 Und mit derselben zähen Energie versuchten sie die Frauenarbeit nicht aufkommen zu lassen. So entspann sich ein heftiger Kampf der Setzer gegen die 1848 zuerst angestellten Frauen, und er wurde um so bitterer, als der Streik der Setzer von Edinburgh infolge der weiblichen Streikbrecher mit einer Niederlage endete.398 Zu dem Siege, den die Pariser Setzer errungen hatten, indem die Frauen durch gesetzliche Bestimmung von den Setzereien ausgeschlossen wurden, gelangten sie freilich nicht.399 Dagegen griffen die Gewerkschaften vielfach zur Selbsthilfe. Die Bestimmung, daß kein Mitglied neben einer Frau arbeiten dürfe, fand sich in zahlreichen Statuten und findet sich zum Teil heute noch darin. Wo weibliche Arbeiter zum erstenmal die Thore der Fabrik durchschritten, begegneten sie allgemeiner Verachtung, wenn nicht gar Beleidigungen gröbster Art. Es kam häufig vor, daß sie sich durch Hinterpförtchen in die Arbeitsräume schleichen mußten, um überhaupt hinein zu gelangen. Was in England, wo die industrielle Entwicklung eine rapide war, in besonders krasser Weise zu Tage trat, das wiederholte sich, wenn auch in abgeschwächter Form, auf dem Kontinent. Ueberall betrachteten die Männer ihre weiblichen Arbeitsgenossen mit Haß und Mißtrauen und versuchten sich ihrer zu entledigen. Die deutsche Handwerkerbewegung der Revolutionszeit führte an verschiedenen Orten des Landes sogar zu kleinen Revolten gegen die Frauen und die Berliner Schneiderinnung ging so weit, beim Gewerbeministerium zu beantragen, daß den Frauen, mit Ausnahme der Witwen von Schneidermeistern, das Schneiderhandwerk verboten werden sollte, und die Modemagazine fertige Damenkleider nicht mehr verkaufen dürften.400 Dasselbe Gefühl, das die Innung zu diesem Antrag trieb, beherrschte auch das Frankfurter Handwerkerparlament des Jahres 1848, als es kategorische Gesetze gegen das Fabriksystem, durch das der große Markt für die Frauenarbeit vorbereitet wurde, forderte.

Man hat häufig versucht, den erbitterten Kampf der Männer gegen die Frauenarbeit ihnen zum persönlichen Vorwurf zu machen, ein Versuch, der sich nur aus einer völligen Unkenntnis der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgeschichte erklären läßt. Thatsächlich war und ist zum Teil heute noch dieser Kampf ihre notwendige Begleiterscheinung. Wollte man überhaupt einen Vorwurf erheben,—was allgemeinen Erscheinungen des Wirtschaftslebens gegenüber immer thöricht ist,—so müßte er sich weit eher gegen die Frauen richten. Nicht, weil sie überhaupt arbeiteten, das war eine bittere Notwendigkeit für sie, sondern weil sie die männlichen Konkurrenten statt durch bessere Leistungen, durch geringere Ansprüche zu besiegen suchten. Aus der häuslichen Vereinzelung, aus der sie früher großenteils auch dann nicht herauszutreten brauchten, wenn sie um Lohn arbeiteten, traten sie unvorbereitet in das Gemeinschaftsleben der Industriearbeiter hinein. Sie dachten nur an die Befriedigung der nächsten persönlichsten Bedürfnisse, die außerordentlich geringe waren; die jahrhundertelange Niederdrückung des weiblichen Geschlechts, die unaufhörliche Predigt von der Demut und Bescheidenheit, die ewige Wiederholung von der Minderwertigkeit der Frauen, an die sie schließlich selber glaubten, rächte sich nun an den Männern: die weiblichen Arbeiter waren mit Löhnen zufrieden, die ihnen grade nur ein Stück Brot gewährleisteten; sie, die zu Sklaven erzogen worden waren, hatten nichts von einer Rebellennatur mehr in sich. Sie wurden zu Streikbrechern, ohne etwas anderes dabei zu empfinden, als Freude über Arbeitsgelegenheit; sie ließen sich ausbeuten bis aufs äußerste und nahmen es hin, wie ein Fatum, wenn sie nur ihren Kindern dafür einen Tag lang den schlimmsten Hunger stillen konnten. Das Gefühl von Solidarität mit den Genossen ihrer Arbeit müßte denen völlig fremd sein, deren höchste Tugend bisher die gewesen war, ihr Haus allein als ihre Welt zu betrachten. So mußten sie werden, was sie waren, und leider noch sind,—ein Jahrhundert verwischt nicht die Spuren von Jahrtausenden—: Schmutzkonkurrenten der Männer. Sie drückten die Löhne und machten es infolgedessen immer mehr Männern unmöglich, ihre Familien allein zu erhalten; so zog jede neu eintretende Industriearbeiterin Scharen anderer nach sich. Daß die Männer eine Gefahr darin sahen, daß sie nicht blinden Auges und kalten Herzens an der Zerstörung der Häuslichkeit und der Verwahrlosung der Kinder vorübergehen konnten, war nur natürlich.

Nicht allzu lange sollten die Männer allein unter dem Wachstum des Großbetriebs leiden. Ihr eigenes Schicksal wurde bald auch das der Frauen: die Maschine, die sie in die Fabrik gezogen hatte, trieb sie wieder hinaus. Während früher z.B. je 2 Seidenhasplerinnen 1 Mädchen zum Schlagen der Kokons nötig hatten, versorgte die Schlagmaschine 25 und mehr Hasplerinnen, warf also mindestens 6 Mädchen aufs Pflaster. Die Einführung verbesserter Maschinen in den Webereien des Oberelsaß hatte zur Folge, daß die Arbeiterzahl trotz der starken Vermehrung der Fabriken von 23000 im Jahre 1828 auf 19000 im Jahre 1851 gesunken war401; in 35 englischen Spinnereien waren 1829 1060 Spinner mehr angestellt als 1841, obwohl die Zahl der Spindeln sich um 99000 vermehrt hatte402 und in den sechziger Jahren beseitigte eine einzige verbesserte Spinnmaschine die Hälfte aller Arbeiterinnen.403 Am furchtbarsten waren die Folgen der Einführung der Nähmaschine. Eine einzige Fabrik New-Yorks, die 1862 400 Nähmaschinen aufstellte, von denen eine die Arbeit von 6 Handnäherinnen ausführte, machte ca. 2000 Näherinnen brotlos. Der Segen, den viele sich von der Nähmaschine versprachen, weil sie der Frau ermöglichte, im eigenen Heim ihrem Erwerb nachzugehen, verwandelte sich rasch zum Fluch: sie erschlug die schwächsten Handarbeiter; in London lief die Zunahme des Hungertods parallel mit ihrer Ausbreitung.404 Da die Einführung neuer oder die Verbesserung alter Maschinen nun keineswegs eine Steigerung der Löhne zur Folge hatte, sondern die Entlassung von Arbeitern nur dem Kapitalisten zu Gute kam, mußte die überflüssig gewordene menschliche Arbeitskraft sich nach anderen Arbeitsgebieten umsehen. Sie fand sie dort, wo auch der Handwerker seine letzte, elende Zufluchtsstätte fand, in der Hausindustrie.

Der Begriff, der sich mit diesem Namen verbindet, ist durchaus kein feststehender. Die deutsche Reichsstatistik, die sich in ihren beiden letzten Berufszählungen eingehend mit der Hausindustrie beschäftigte, versteht darunter die "Arbeit zu Hause für fremde Rechnung". Die Bezeichnung ist vieldeutig, sie kann z.B. nur die Heimarbeiter, d.h. diejenigen, die im eignen Wohnraum für die Unternehmer beschäftigt sind, umfassen und die Werkstattarbeiter ausschließen. Das geschieht ausdrücklich durch die neueste belgische Statistik, die als Hausindustrielle nur diejenigen ansieht, "die bei sich zu Hause auf Rechnung von Fabrikanten oder Kaufleuten arbeiten". Das österreichische Handelsministerium hat gleichfalls den Begriff der Hausindustrie darauf beschränkt, indem es "Erwerbsarbeiter in eigener Werkstätte ohne gewerbliches Hilfspersonal" höchstens mit Angehörigen des eigenen Hausstands, darunter verstanden wissen will. Auch die Gelehrten sind verschiedener Meinung: so wird z.B. auf der einen Seite die Hausindustrie als Großvertrieb von Waren, die im Kleinbetriebe hergestellt werden405, bezeichnet, während nicht die Art des Vertriebes, sondern die des Betriebes sie kennzeichnet, auf der anderen erklärt man sie für großindustrielle Arbeit in kleinen Werkstätten und in der Wohnung406, wobei wieder die Bezeichnung "klein" ein schwankendes Bild giebt. Die sinngemäßeste, die Sache klar bezeichnende Erklärung dagegen ist diese: Hausindustrie ist diejenige Betriebsform der kapitalistischen Unternehmung, bei welcher die Arbeiter in ihren eigenen Wohnungen oder Werkstätten beschäftigt werden.407

Mit der Hausindustrie früherer Zeiten hat diese fast nur noch den Namen gemein, sie ist ein modernes Erzeugnis der Großindustrie. Einerseits nährt sie sich vom untergehenden Handwerk,—der einst selbständige Meister wird zum Verleger,—andererseits von der um jeden Preis sich verkaufenden menschlichen Arbeitskraft, die in den Industriestädten infolge der sich zusammendrängenden proletarischen Bevölkerung massenhaft emporschießt oder vereinzelt in abseits liegenden Gebirgsthälern und Hochplateaus zu finden ist. Besonders das billige Produktionsmittel, die weibliche Arbeitskraft, konnte die Industrie sich nicht entgehen lassen. Mit der Möglichkeit der Arbeitszerlegung, der Ausgabe von Teilarbeiten aus dem Betrieb, verstärkte sich noch die Tendenz, die Hausindustrie groß zu ziehen. Dazu kam, daß nicht nur die Ersparnisse in Bezug auf die Löhne sich als bedeutende erwiesen: sowohl die Kosten für Miete, Instandhaltung der Fabrik, Beleuchtung, Beaufsichtigung kamen in Fortfall und das beförderte selbstverständlich eine weitere Dezentralisierung des Großbetriebs. Beweis hierfür ist unter anderem die Rückentwicklung des Cigarrengroßbetriebs zur Hausindustrie; 1882 betrug in Deutschland die Verschiebung vom Groß- zum Kleinbetrieb 57%, 1895 59%. Die Schwächsten, die die Fabrik als die wenigst Brauchbaren abschob, die Aermsten, die in ihrem versteckten Elend kein Hauch der neuen Zeit berührte, die Frauen, die Kinder und die Greise wurden die ersten Opfer der Hausindustrie. Und wieder war es die Maschine, durch deren Hilfe sie bis in die einsamsten Berggehöfte, die entlegensten Landstädtchen vordrang, sich in die Dachkammern und die Keller der Großstädte einschlich. Alle Maschinen, die zum Antrieb menschliche Kraft gebrauchen konnten und klein genug waren, um überall Platz zu finden, sind in der Hausindustrie vertreten; der Hausindustrielle kauft sie auf Abzahlung, nimmt sie in Pacht, oder bekommt sie vom Fabrikanten, für den er arbeitet, geliefert. Nähmaschinen aller Art, von der einfachsten bis zur komplizierten Stiefelstepp- und Knopflochmaschine, rasseln in den engen Behausungen der elendesten Sklaven des Kapitalismus; über die Strickmaschine sitzen sie gebückt, und die Plattstichmaschine, die sich besonders in der Schweiz verbreitet hat, macht aus den blühenden Kindern der Berge dieselben flachbrüstigen, blassen Gesellen, wie die Fabrikarbeiter der Großstädte es sind. Und so lange die menschliche motorische Kraft billiger ist als Dampf und Elektrizität, werden die Unternehmer sie für sich ausnutzen und die Hausindustrie, dieser Bastard der Großindustrie, den sie mit der Not, ihrem Kebsweib, gezeugt hat, wird wachsen, daß sie fast ihren Vater überragt.



Ein riesiges Arbeitsfeld eröffnete sich den Frauen durch die Konfektionsindustrie. Vor der Erfindung der Nähmaschine gehörte die Herstellung der Wäsche und der Kleidung im wesentlichen in das Bereich häuslicher Thätigkeit. Hausfrau und Haustöchter, eventuell die verfügbaren Dienstmädchen, beschäftigten sich damit. In einer späteren Periode erst kam die im Hause der Kundschaft arbeitende Näherin als Hilfskraft hinzu und die bei sich für die Kunden arbeitende Schneiderin war schon ein Produkt der Neuzeit. Modegeschäfte, die mit Hilfe der hausindustriell thätigen Näherinnen fertige Kleider verkauften, kamen erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als die Nähmaschine die Massenproduktion ermöglichte. Sie wuchsen wie Pilze aus der Erde und suchten sich gegenseitig zu unterbieten, was nur durch steigende Ausbeutung der Arbeiterinnen möglich war. "Alle Näherinnen," sagte ein englischer Arzt, "leiden an dreifachem Elend—Ueberarbeit, Luftmangel und Mangel an Nahrung." Während der Saison saßen in London gegen 30 Mädchen in Räumen zusammen, die kaum für ein Drittel die nötige Luft gewährten, sie schliefen zu zweien in einem Bett in engen Sticklöchern, wenn sie überhaupt zum Schlafen kamen, denn eine ununterbrochene Arbeitszeit von 18 bis 24, ja 26 Stunden gehörte durchaus nicht zu den Ausnahmen; die physische Unfähigkeit, die Nadel noch länger zu führen, war die einzige Grenze ihrer Arbeitsleistung. Gingen sie nicht infolgedessen an Ueberarbeitung zu Grunde,—wie die arme Mary Anne Walkley, von der Marx erzählt408,—so drohte ihnen in der toten Zeit der Hunger. Für 4-1/2 sh. wöchentlich arbeiteten in den vierziger Jahren Londoner Kleidernäherinnen 16 und mehr Stunden täglich. Und doch waren sie noch in glänzender Lage im Vergleich zu ihren Kolleginnen, die Wäsche nähten: Für ein gewöhnliches Hemd bekamen sie—1-1/2 pence, für elegante Hemden, deren Fertigstellung 18 Stunden Arbeitszeit erforderte, betrug ihr Lohn 6 pence. Wochenlöhne von 2-1/2 bis 3 sh. waren bei angestrengter Thätigkeit gang und gäbe.409 Aber Thomas Hoods Lied vom Hemde, das der Not der Arbeiterinnen so ergreifenden Ausdruck gab, galt nicht nur für die armseligsten Töchter des reichen England; ihre Unglücksgefährten verteilten sich über die ganze zivilisierte Welt. Mit Tagelöhnen von 20 bis 50 cents sollten nicht weniger als 20000 Arbeiterinnen Bostons ihr Leben bestreiten; dieselbe Zahl von Frauen lebte in New-York in ständigem Kampf mit Hunger und Pauperismus.410 Die Pariser Näherinnen der fünfziger und sechziger Jahre, die, infolge der hohen Entwicklung der Pariser Konfektion, zu den bestgestellten gehörten, mußten sich mit Löhnen von 40 und 60 c. täglich begnügen411, während, nach Berechnungen jener Zeit, 60 c. ein Minimum allein an täglicher Nahrung gewährleisteten.412 Dabei hatten diese sogenannt freien Arbeiterinnen, die thatsächlich ein weit elenderes Leben führten, als die schwarzen Sklaven Amerikas, für deren Befreiung eine ganze Welt sich begeisterte, noch dauernd gegen eine Konkurrenz anzukämpfen, die großenteils von jenen geschaffen wurde, die sich Wohlthäter der Armen nennen ließen. So nötigten die Armenhäuser Londons, deren Insassen Hemden nähten, die Näherinnen zur Herabsetzung ihrer Preise auf dasselbe niedrige Niveau und die Klöster Frankreichs, in denen Männerhemden für 10 bis 25 c., und Babyausstattungen von 20 Stück für 1,10 fr. hergestellt wurden, die im Jahre 1870 allein 150000 Frauen beschäftigten und von denen Jules Simon berichtete, daß von 100 Dutzend Hemden, die in Paris in den Handel kamen, allein 85 Dutzend in den Klöstern hergestellt wurden413, warfen sie mitleidlos dem Hunger oder der Prostitution in die Arme.414 Kein Wunder, daß 1866 doppelt so viel Frauen als Männer der Armenpflege anheim fielen.

Dieselbe Konkurrenz drückte auch auf die Spitzenindustrie, die durch Colberts Einfluß in Frankreich eine riesige Verbreitung gefunden hatte; 1866 waren 250000 Frauen in ihr beschäftigt. Zwanzig Jahre früher sah Blanqui in Dieppe Arbeiterinnen, die bei fünfzehnstündiger Arbeitszeit nicht mehr als 52 c. täglich verdienten und in den Vogesen, wo der Wert der jährlich produzierten Spitzen auf 3 Millionen Franken berechnet wurde, betrug ihr höchster Verdienst 80 c.415! Noch 1860 konstatierte Jules Simon, daß für die Herstellung der points d'Alençon, jener kostbaren Spitzen, bei denen Hunderte von Arbeiterinnen ihr Augenlicht einbüßten, 75 c., und für die wunderbarsten Spitzen Belgiens, die Brüsseler, gar nur 30 c. täglich an Lohn gezahlt wurde.416 Die Stickerinnen waren in derselben Lage: Von den ca. 200000, 1866 in Frankreich beschäftigten, verdiente die größte Mehrzahl nicht mehr als 20 bis 30 c. Das Bild jener Arbeiterfamilie von Lille,—Mitte der vierziger Jahre,—wo der Mann in guten Zeiten 2 frs., die Frau als Spitzenarbeiterin 10 bis 15 c.(!) täglich verdiente und die vier Kinder betteln gingen, weil sie, trotz angestrengter Arbeit, bei der kümmerlichsten Lebenshaltung und einer Behausung 3 m unter dem Erdboden, allein für Wohnung und Nahrung 12,75 frs. wöchentlich gebrauchten417,—dürfte für das Proletariat jener Zeit typisch sein.

Die Fabrikarbeiterinnen waren in keiner wesentlich besseren Lage. In den dreißiger Jahren betrugen die Frauenlöhne in den englischen Leinenwebereien bei einer zwölf- bis sechzehnstündigen Arbeitszeit 4 bis 5 sh. die Woche, von denen für Material noch 1 bis 2 sh. abgingen; in den Baumwollfabriken sanken die Löhne auf 1 bis 4 sh., junge Mädchen unter sechzehn Jahren verdienten bei zwölfstündiger Arbeitszeit oft nicht mehr als 4 sh. in drei Wochen!418 In der Periode von 1830 bis 1845 überstieg der Verdienst der französischen Fabrikarbeiterinnen selten 1,60 frs. pro Tag.419 Die Seidenweberinnen Lyons erreichten bei vierzehnstündiger Arbeitszeit nur ausnahmsweise einen höheren Jahresverdienst als 300 frs.420 Zwar stiegen die Löhne sowohl in der Wollmanufaktur Frankreichs wie in der Baumwollmanufaktur des Oberelsaß in den dreißiger Jahren von 1840 bis 1870, aber der niedrigste Lohn betrug auch dann noch l bis 1,25 frs. und der höchste, selten erreichte, 3 frs.421, und die Steigerung hielt weder Schritt mit der Steigerung der Wohnungen, der Lebensmittel und sonstigen Bedürfnisse, noch war sie eine stetig fortschreitende. Alle Krisen, denen die Großindustrie im 19. Jahrhundert so oft unterworfen war, bedeuteten für die Arbeiterin Hunger und Entbehrung. Die geringfügigste Trübung des geschäftlichen Horizontes wurde von den Unternehmern gleich zu Lohnreduktionen ausgenutzt. In den dreißiger Jahren sanken die Löhne der Weber am Niederrhein bei einer Arbeitszeit von 1/2-5 Uhr morgens bis in die sinkende Nacht auf 1-1/2 bis 3 Thaler die Woche422 in den schlimmen Jahren von 1845 bis 1850 waren in Krefeld allein 12000 Personen vollständig brotlos423,—von dem Weberelend in Schlesien gar nicht zu reden! Die große wirtschaftliche Krisis, die infolge des Krieges zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas über Europa hereinbrach, steigerte die Not aufs neue. In Rouen feierten nicht weniger als 40000 Arbeiter, in Belfort sanken die Frauenlöhne bis auf 20 c.424 Kaum weniger empfindlich für die deutschen Arbeiter waren die Jahre nach dem französischen Krieg. Die Einnahmen sanken vielfach um 25 bis 30% und Tausende von Webstühlen gerieten vollständig in Stillstand.425

Aber die industriellen Umwälzungen und die wirtschaftlichen Krisen waren nicht die einzigen Gefahren, die die Existenz der Arbeiter bedrohten und untergruben. Der Kapitalismus machte keinen Unterschied zwischen dem Arbeiter und der Maschine: er verausgabte für beide nur genau so viel, als notwendig war, um sie in Bewegung zu erhalten, und wie er jede neue Errungenschaft der Technik freudig ergriff, wenn sie ihm einen höheren Profit zusicherte, so war ihm jedes Mittel recht, durch das er aus der menschlichen Maschine mehr Gewinn herauspressen konnte. Das Trucksystem war eines dieser Mittel. Der Arbeiter wurde statt mit Geld mit Nahrungsmitteln entlohnt, deren Preis der Unternehmer willkürlich stellen konnte. Um die Frauen noch besonders willfährig zu machen, wurde auf ihre Eitelkeit spekuliert: an Stelle des baren Verdienstes traten Schürzen und Bänder, Tücher und Mützen. Wie oft kam die arme Arbeiterin am Ende der Woche nach Hause und hatte, trotz angestrengter Arbeit nichts, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen. Vergebens wartete sie auf die Heimkehr des Mannes—er saß im Kramladen seines Chefs und ließ sich in Branntwein den Lohn auszahlen. Vielleicht brachte er noch einen Laib Brot nach Hause,—um den doppelten Preis als er ihn von seinem Geld hätte kaufen können! Das unverschleierte Trucksystem, d.h. die Auszahlung des Lohnes durch Waren, war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts überall zu finden. Nach und nach versteckte es sich hinter den Thüren der Kaufläden, die der Fabrikherr oder seine Beamten hielten, und in denen einzukaufen der arme Arbeiter gezwungen war, wenn er die Entlassung nicht fürchten wollte. So verkaufte der Konfektionär wie der Zwischenmeister den Näherinnen Garn und Seide und zog ihnen durch die Preise, die er dafür anrechnete, ein Bedeutendes von ihrem so wie so schon kärglichen Lohne ab. So verkauft noch heute der kleine Krämer des Dorfes, der zugleich der Verleger oder Zwischenhändler der Hausindustriellen ist, das Material für ihre Arbeit zu Wucherpreisen an sie.



Die Folgen dieser Ausbeutung im einzelnen darzustellen, hieße ein Buch schreiben, dessen Bilder in seiner Grauenhaftigkeit die Phantasie eines Höllenbreughel weit hinter sich ließen. Blicken wir in die Wohnungen jener Sklaven der Industrie: In einem Arbeiterviertel Londons, einer ihrer Hochburgen, hausten 1844 in 1400 kleinen Häusern 12000 Personen; ganze Familien, ja ganze Generationen besaßen nur ein kleines Zimmer, in dem sie lebten und arbeiteten, oft fehlte jede Art von Einrichtung, ein Haufen Lumpen war das Bett aller. Und doch waren sie noch glücklich zu nennen, denn nicht weniger als 50000 Menschen besaßen überhaupt kein Obdach; sie drängten sich nachts, soweit es irgend ging, in den Logierhäusern zusammen—Männer, Weiber, Alte, Junge, Kranke und Gesunde, Nüchterne und Betrunkene, alle durcheinander, zu fünf und sechs in einem Bett. Nicht anders sah es im Zentrum der Baumwollindustrie, aus dem die Millionäre des Landes herauswuchsen, in Manchester aus. Am Irk, einem schwarzen, stinkenden Fluß voll Schmutz und Unrat, ragten die Arbeiterkasernen auf; um fürchterlich kleine Höfe drängten sie sich, verräuchert, verfallen, oft ohne Thüren und Fenster, mit winzigen Stübchen, die für zahlreiche Familien kaum zwei Betten fassen konnten; die meisten enthielten nichts als Strohhaufen.426 In derselben Verfassung waren die Arbeiterquartiere in Frankreich. Schmale Straßen, in denen kaum zwei Menschen nebeneinander gehen konnten, trennten in Lille die Häuser voneinander. In der Mitte befand sich ein stinkender Rinnstein, der alle Abwässer aufnahm; aus Sparsamkeitsgründen waren die Fenster der Zimmer nicht zum Oeffnen eingerichtet und in den überfüllten, nur mit Stroh und Lumpen eingerichteten Räumen herrschte ein pestilenzialischer Geruch. Greisenhafte Kinder mit geschwollenen Gliedern, zerfressen von Ungeziefer, starrten mit blöden Augen dem Fremden entgegen, der sich in diese Hölle verirrte.427 Welch ein Glück für sie, daß der Tod sie fast immer von der Verdammnis zum Leben erlöste, denn von 21000 Kindern starben 20700 vor dem fünften Jahr!428 Zwanzig Jahre später hatten sich die Verhältnisse noch um kein Haar gebessert!429 In Rouen waren die Zustände ähnlich: Der Eingangsflur war zugleich offener Kanal für die Abwässer; Wendeltreppen ohne Licht und ohne Geländer führten in die oberen Stockwerke.430 Entsetzlich ist das Bild, das Villermé von Mülhausen entwirft, wo infolge des raschen industriellen Aufschwunges auf demselben Raum, den früher 7000 Menschen innehatten, nun 20000 sich zusammendrängten. Jules Simon sah in Reims einen feuchten, dunklen, über einem Kloset befindlichen Raum, den zwei Arbeiterinnen und ein Ehepaar gemeinsam bewohnten; in Roubaix fand er einen dunklen Hängeboden über einem kleinen von sechs Personen bewohnten Zimmer, in dem eine Arbeiterin mit einem Säugling, der Tags über im Bett angebunden wurde, hauste, und einen dunklen Raum unter einer Treppe, 2 zu 1-1/2 m groß, den eine andere schon 2-1/2 Jahre bewohnte. Wie groß das Elend war, bewies eine alte Frau, die, auf ihr feuchtes Kämmerchen zeigend, ausrief: "Ich bin nicht reich, aber ich habe einen Strohsack, Gott sei Dank!"431 Wo die Industrie den Fuß hinsetzte, folgte ihr die Not und der Jammer, wie ihr Schatten. So spotteten die Wohnungsverhältnisse Berlins in den fünfziger Jahren jeder Beschreibung. Charakteristisch für sie waren besonders die zahlreichen Kellerwohnungen, in denen das Wasser oft 1/2 bis 3 Fuß hoch stand. Noch 1875 machten sie 10% aller Wohnungen aus; ein einziger solcher feuchtdunkler Raum war vielfach von einem Ehepaar, Kindern, Schlafburschen und Schlafmädchen zugleich besetzt.432

Kamen die Arbeiter aus ihren elenden Höhlen,—denn der Ausdruck Wohnung erscheint solchen Behausungen gegenüber ganz ungeeignet,—in die Werkstatt oder in die Fabrik, so fanden sie hier ähnliche Zustände wieder. Die ersten Fabriken wurden bis tief in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinein in alten Häusern, Klöstern und Schlössern eingerichtet. Die Räume wurden ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Arbeiter auf das äußerste ausgenutzt, sodaß sich der Einzelne nur mit großer Vorsicht zwischen den schwingenden Rädern hindurchwinden konnte. Weder Sicherheits-, noch Ventilationsvorrichtungen waren vorhanden. In der furchtbaren Hitze der Baumwollspinnereien,—bis zu 37° Celsius,—schlugen die Arbeiterinnen bis in die fünfziger Jahre die Baumwolle behufs Lockerung und Reinigung mit Ruten, und atmeten den dichten Staub 14 bis 16 Stunden lang ein. Die Spinnerinnen standen halbnackt vor den Maschinen, bis zu den Knöcheln im Wasser, das zur Feuchterhaltung des Fadens notwendig war.433 In den Seidenspinnereien saßen die Frauen selbst im heißesten Sommer zwischen glühendem Ofen und kochendem Wasser, in das sie immerfort ihre Finger tauchen mußten, was schwere Erkrankungen zur Folge hatte.434 In feuchten, halbdunklen Kellern saßen die Spitzenarbeiterinnen, weil die feuchtkalte Luft der Feinheit der Arbeit zu Gute kam. Dabei gab es für diese Unglücklichen kaum ein Ausruhen; mitten im Schmutz und Staub mußten sie hastig ihr Essen hinunterschlingen; den Kindern wurde es von den Aufsehern häufig in den Mund geschoben, damit die Maschine keine Sekunde still zu stehen brauchte und dem Unternehmer kein Atom Profit entging.435 Wohnten sie außerhalb der Fabrikstädte, so hieß es früh um vier schon sich aufmachen, um abends um zehn erst heim zu kehren.436 Eine Schar bleicher, magerer Frauen, in Schweiß gebadet, ohne schützende Hülle, bloßfüßig waten sie im Schmutz,—so schildert ein Augenzeuge die Heimkehrenden,—daneben laufen eine Menge Kinder, nicht minder schmutzig, nicht minder abgezehrt, bedeckt mit Lumpen, triefend vom Oel der Maschine, das in der Fabrik dauernd auf sie niederträufelte.437 Kartoffeln und wieder Kartoffeln, im besten Fall etwas Hafermehl oder ein Stückchen Hering sollen die Körperkräfte aufrecht halten, um sie täglich aufs neue im Dienst das Kapitals aufzureiben. Und selbst dafür reicht der karge Lohn kaum aus. Fast alle sind verschuldet, die Zahl der Pfandleiher, zu denen nur zu oft das letzte Bett wanderte, nahm in allen Industriezentren erschreckend rasch zu.438

Aus der Qual endloser Arbeit, die keinen Sonntag kannte, der die Nacht nicht heilig war, aus den überfüllten, schmutzstarrenden Häusern, aus den Wolken von Staub und glühendem Dampf, der die Fabriken erfüllte, wuchs in riesenhafter Größe jenes hohläugige Gespenst hervor, das von nun an rastlos, erbarmungslos durch die Straßen der Armen schritt und die Luft mit seinem Hauch vergiftete: die Schwindsucht. Allein in der Spitzenindustrie Englands kam im Jahre 1852 ein Schwindsüchtiger auf 45 Arbeiter und zehn Jahr später schon einer auf acht.439 Kein Weber konnte darauf rechnen, das Alter von 25 Jahren zu überleben440 und dann schon sah er aus wie ein Greis; von den Kindern der Weber, die schon im Mutterleibe vergiftet waren, starb die Hälfte vor dem zweiten Jahr. Sie kannten keine Pflege; schon drei bis vier Tage nach der Entbindung trieb die Not ihre Mütter zurück in die Fabrik; die Milch, durch die ihre Kleinen groß und stark hätten werden können, lief ihnen bei der Arbeit aus den Brüsten!441 Die deutsche Reichserhebung von 1874 erklärte mit einem eigenen Cynismus, daß die Arbeiterinnen in den Zündholzfabriken zwar an Nekrose litten und den Unterkieferknochen ganz oder teilweise verlören, ihnen das aber gar nichts schadete!442 Sie konstatierte ferner, daß die Atmosphäre der Fabriken diejenigen lungenkrank machen muß, die "Anlage dazu haben".443 Und wer hatte diese Anlage nicht?! Die zunehmende körperliche Degenerierung der arbeitenden Bevölkerung sprach deutlicher als alle Erhebungen es vermocht hätten.



Aber es blieb nicht bei der körperlichen allein. Die Zusammenarbeit der Geschlechter in glühender Hitze, fast unbekleidet, das fast völlige Fehlen gesonderter Wasch- und Ankleideräume, die gemeinsame Arbeit von Mann und Weib in den verschwiegenen, dunklen Gängen der Bergwerke und der frühe Eintritt der Kinder mitten in dieses Leben und Treiben, steigerte den ungeregelten Geschlechtsverkehr und verwüstete schon die Unschuld der Kinder. Die Wohnungszustände unterstützten diese moralische Degeneration. Nicht nur, daß die Geschlechter, die Schlafburschen und Schlafmädchen und die Kinder regellos in engen Räumen zusammen wohnen mußten, sie wurden von den Unternehmern selbst dazu gedrängt. In Ziegeleien, bei Bergwerken, zur Landarbeit—überall wurden ihnen elende Baracken zum Schlafen angewiesen, wo man sie zusammentrieb wie das Vieh. Weit mehr noch als diese äußeren Umstände, unter denen Männer und Frauen gleichmäßig litten, wirkten die Lohnverhältnisse der weiblichen Arbeiter auf ihre Sittlichkeit. Sie wurden durch die Bedürfnisse der verheirateten Frauen, die zum Verdienst des Mannes nur einen Zuschuß brauchten, und der bei den Eltern wohnenden Mädchen, die oft nur für ihre Kleidung zu sorgen hatte, bestimmt; die Alleinstehenden waren durch die bitterste Not gezwungen, sich nach einer andern Ergänzung umzusehen. Die einen,—die Glücklichsten von ihnen,—hatten keine eigene Schlafstelle, sie brachten die Nächte bei ihren Liebhabern zu444, das Konkubinat verbreitete sich infolgedessen; so kam in Frankreich, wo das Gesetz es noch dadurch förderte, daß es das uneheliche Kind der Mutter allein zur Last fallen ließ, nach einer Enquête der vierziger Jahre in einer Industrie auf einen verheirateten zwölf im Konkubinat lebende Arbeiter.445 Den anderen,—und das waren die Unglücklichsten,—lehrten Not und Hunger frühzeitig, ihren Körper verkaufen, wie ihre Arbeitskraft. Jede industrielle Krisis steigerte ihre Zahl. Wie oft siegten sie im Kampf ums Brot gegen die Konkurrentin um die Arbeitsstelle nur dadurch, daß sie sich dem Herrn oder dem Werkführer preisgaben. Das Fabrikmädchen stand infolgedessen häufig nicht höher im Ansehen, als die Straßendirne.

Das ist der Weg, den die Industriearbeiterin im 19. Jahrhundert hat gehen müssen. Aus dem Hause vertrieben, um das tägliche Brot gebracht, glaubte sie in der Fabrik ihre Rettung zu finden. Sie opferte sich auf, unermüdlich Tag für Tag; endlich, so hoffte sie, sollte die Arbeit Erlösung bringen, Nahrung, Obdach, Kleidung ihr und ihren Kindern! Sie war ja so bedürfnislos, sie dachte kaum daran, den Reichen, für die sie schaffte, ihren Reichtum zu neiden. Was hatte sie erreicht? Kaum ein Dach über dem Haupt, kaum ein Kleid auf dem Leib, kaum das Nötigste, den Hunger zu stillen, und die drohenden Gespenster,—Not und Schande,—rastlos auf ihren Fersen.

Warum strömten trotzdem die Frauen in immer wachsender Zahl diesem Elend zu? Waren sie als Landarbeiterinnen, als Dienstboten nicht in weit besserer Lage? Das ist oft behauptet worden, obwohl die Thatsachen dagegen sprechen.

Den ersten klaren Einblick in die Verhältnisse der Landarbeiter vermittelte die englische Untersuchungskommission im Jahre 1867.446 Das Bild, das sie entrollte, war ein schauerliches. Die Mädchen und Frauen wurden allgemein bei der schwersten und schmutzigsten Arbeit, z.B. Heu-, Korn- und Dungladen, verwendet.447 Ihre Arbeitszeit war grenzenlos und ein Auflehnen dagegen schon deshalb oft ganz unmöglich, weil ihr Dienstgeber zugleich der Landlord war, ebenso wie der deutsche Gutsbesitzer sehr häufig zugleich Amtsvorsteher ist. Dabei war auch für die Wohnung der Landarbeiter in der unzureichendsten Weise gesorgt. Ganze Familien wohnten nicht nur in halb verfallenen, einzimmerigen Hütten, es wurden ihrer oft zwei und drei zusammengepfercht. An eine Trennung der Tagelöhner beiderlei Geschlechts dachte man kaum; Scheunen und leere Ställe dienten ihnen nur zu oft zum Aufenthalt und waren der Ausgangspunkt sittlicher Verwilderung. "Es ist unmöglich," sagt die englische Kommission, "den schädlichen Einfluß der Wohnungen nach der physischen sowohl wie der moralischen, sozialen, ökonomischen und intellektuellen Seite hin zu übertreiben."448 Die traurigste Erscheinung aber im Leben der englischen Landarbeiter war das Gangsystem, das darin bestand, daß Agenten Scharen von Mädchen und jungen Männern,—den Mädchen wurde übrigens immer der Vorzug gegeben,—mieteten und sie zur Feldarbeit auf eine bestimmte Zeit aufs Land führten. Nicht nur, daß die in der Entwicklungszeit sich befindenden Mädchen durch die harte Arbeit körperlich schwer geschädigt wurden, frühzeitige geschlechtliche Ausschweifungen ruinierten sie vollends. Dachte doch keiner der Gutsherren daran, ihnen anständige Unterkunft und Beaufsichtigung zu gewähren. Für ihn waren sie nichts als billige Arbeitsmaschinen, die ihn im übrigen nichts angingen. Natürlich war die Konkurrenz dieser jungen Leute auch verderblich für die alten eingesessenen Tagelöhner. Für den Gutsherrn war es viel billiger und bequemer, zur Zeit dringender Arbeit über ein Heer von Arbeitskräften zu verfügen, die er entlassen konnte, wenn er wollte, als die Gutstagelöhner durch die stille Zeit mit durchfüttern zu müssen. Auch das Gangsystem trieb daher die Tagelöhner beiderlei Geschlechts vom Lande fort in die Stadt.449 In der Sachsengängerei Deutschlands, deren erstes Aufkommen gleichfalls mit der Ausbreitung der Industrie zusammenfällt, haben wir eine ähnliche Erscheinung. Auch sie ist zugleich Folge und Ursache der Landflucht der Arbeiter. Welchen Umfang diese annahm und wie sie zunimmt, geht z.B. daraus hervor, daß in der Periode 1871 bis 1876 in Frankreich 600000, und 1876 bis 1881 800000 Personen vom Lande in die Industriestädte übersiedelten.450 In England verringerte sich die Zahl der Landarbeiter von 1861 auf 1881 um 273000. Die Maschine spielte auch hierbei eine wichtige Rolle. So machte die Dreschmaschine nicht nur thatsächlich eine Menge Arbeiter überflüssig, sie führte auch eine andere Arbeitseinteilung herbei; das Dreschen, eine früher wochenlang sich hinziehende Arbeit vieler Hände, wurde jetzt in kürzester Zeit mit wenig menschlicher Hilfskraft erledigt.451 Für die Frauen fiel besonders schwer der Umstand ins Gewicht, daß das Spinnen und Weben, die allgemeine Winterbeschäftigung der Landarbeiterinnen, durch die Konkurrenz der Maschine ihnen entrissen wurde. Die arbeitslosen Zeiten verlängerten sich daher für sie mehr und mehr, und diese wachsende Unsicherheit der Existenz trieb sie in die Stadt, wo sie sich eher durchschlagen zu können glaubten. Hatte doch auch der im Verhältnis hohe Lohn der Industriearbeiterin viel Verlockendes für sie. Eine französische Landmagd verdiente Mitte des vorigen Jahrhunderts z.B. selten mehr als 90 frs. im Jahr und erhielt als Ergänzung vielfach eine ungenügende Kost und Wohnung. Eine Tagelöhnerin brachte es nicht über 60 bis 75 c. täglich.452 Aber noch andere Schwierigkeiten verbitterten das Dasein der Landarbeiterinnen: Sie waren soweit abhängig von ihren Herren, daß auch häufig die Eheschließung ihnen erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wurde.

Etwas von dem neuen Geist, der die Arbeiterwelt durchglühte, trugen erst die Eisenbahnen mit ihrer steigenden Ausdehnung in die fernen Dörfer und Gutshöfe. Den Druck der Abhängigkeit fingen die Landarbeiter an nach und nach zu spüren das Bewußtsein ihres Sklaventums, die Sehnsucht nach Freiheit dämmerte in ihnen. Stadt und Freiheit galt ihnen bald als verwandter Begriff. Je stärker das Klassenbewußtsein sich in ihnen regte, desto entschiedener strebten sie vom Lande fort. Das ländliche Gesinde, meist aus unverheirateten, daher leichter beweglichen jungen Leuten bestehend, verminderte sich am schnellsten. So kamen in Preußen auf 100 Personen der Bevölkerung gewerbliches (landwirtschaftliches) Gesinde:
1819: 8,5
1837: 7,0
1849: 6,9
1852: 6,4
1855: 6,7
1861: 5,7
1871: 3,6.

In Bayern sank die Zahl des landwirtschaftlichen Gesindes von 10,8% im Jahre 1840 auf 6,6% im Jahre 1882, in Sachsen von 7,5% im Jahre 1861 auf 3,5% im Jahre 1882, in Hessen von 3,17% im Jahre 1861 auf 1,38% im Jahre 1882.453 Wenn auch der Mangel an ländlichen Arbeitern durchaus keine neue Erscheinung ist—suchte man ihn doch schon vor fast 300 Jahren durch die Einführung des Gesinde-Zwangsdienstes zu bekämpfen—, in seiner heutigen Gestalt aber, wo er der Ausdruck des Klassenbewußtseins und nicht nur die sporadische Folge besonders drückender Verhältnisse ist, kann er als der Beginn ernster sozialer Kämpfe angesehen werden.

Dasselbe gilt für die Entwicklung der Dienstbotenfrage. Es ist nicht nur die Thatsache, daß die häuslichen Arbeiter sich mehr und mehr in industrielle verwandeln, und die Hauswirtschaft zusammenschrumpft, durch die die Abnahme der häuslichen Dienstboten ihre natürliche Erklärung findet, denn thatsächlich übersteigt die Nachfrage überall das Angebot, es ist vielmehr das erwachende Selbstgefühl, das die Mädchen vom Dienstbotenberuf in immer stärkerem Maße zurücktreibt. Kaum giebt es einen Beruf, an dem die Verachtung der Handarbeit im allgemeinen, die das klassische Altertum aufweist, so unveränderlich haften geblieben ist, wie an diesem. Kein anderer erinnert aber auch bis in die neueste Zeit hinein so an die Sklaverei, wie er: Der Arbeiter verkauft hier nicht seine Arbeitskraft, sondern gewissermaßen seine ganze Person, er steht Tag und Nacht im Dienst und unter Aufsicht des Herrn. Luther gab seinerzeit nur der allgemein herrschenden Ansicht Ausdruck, wenn er das Gesinde als eine "Plage von Gott", als die "Allerunwürdigsten", als "Unflat" und "Madensack" bezeichnet, und die Zuchthaus- und Prügelstrafe als allein richtige Erziehungsmittel anführt.454 Und der Geist Luthers spukte weiter in allen Köpfen. Die Klagen über die schlechten Dienstboten sind keine Errungenschaften moderner Damenkaffees, Am Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb ein Arzt: "Noch nie war vielleicht eine Klasse von Menschen übermütiger, trotziger und widerspenstiger als der größte Teil unserer jetzigen Dienstboten."455 Ueber Putzsucht und Unzucht, über Unredlichkeit und Untreue werden die beweglichsten Klagelieder angestimmt, den Ursachen dieser Fehler wird entweder gar nicht nachgeforscht, oder man sucht sie im Mangel an Erziehung und Religion. Wie diese Auffassung sich durch Jahrhunderte hindurch gleich geblieben ist, geht aus folgenden Aussprüchen hervor: "Bei den Gesindeschulen," sagt Kränitz456, "muß man sein Hauptaugenmerk darauf richten, daß man darin frommes und gottesfürchtiges, in der Religion wohl unterrichtetes Gesinde zu erziehen suche"; und 1873 erklärt v.d. Goltz: "Die Ursache der sich durch die Jahrhunderte ziemlich gleich bleibenden Klagen über die dienende Bevölkerung liegen in der Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit der menschlichen Natur begründet."457 Amalie Holst sieht 1802 die Hauptursache der Sittenlosigkeit des Gesindes "in dem Mangel einer zweckmäßigen Erziehung der niederen Volksklassen,"458 und Mathilde Weber ist keinen Schritt weiter gekommen, wenn sie 1886 schreibt: "Die Dienstbotenfrage ist vielfach ein Produkt der Nichterziehung."459 Wo solche Ansichten über die Ursachen der "Dienstbotennot" herrschten, unter der man nicht die Not der Dienstboten, sondern die Not der Herrschaften an guten Dienstboten verstand, konnten auch die Besserungsversuche nur falsche Wege einschlagen. Keine Befreiung, sondern eine stärkere Knechtung war ihr wesentlicher Inhalt. Das spiegeln die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen oder umgewandelten Dienstbotenordnungen ebenso wieder, wie alle privaten Bestrebungen auf diesem Gebiete. Die Wiederherstellung des "patriarchalischen Zustandes", jenes Märchens, das sich die deutschen Hausfrauen besonders so gern immer wieder als lautere Wahrheit einreden lassen, wird allseitig als das erwünschteste Ziel betrachtet. Daß es die rechtlichen, sozialen und ökonomischen Zustände sind, die einer Besserung dringend bedürfen, und aus denen sich sowohl die durch sie gezüchteten Eigenschaften der Dienstboten wie ihre Abnahme erklären lassen, ist bis zum 20. Jahrhundert nur sehr selten jemandem in den Sinn gekommen.



Der Mangel an Dienstboten wurde immer fühlbarer und sie kehrten nicht nur ihrem Beruf den Rücken, sondern sie sprachen sich auch, wenn auch nur sehr schüchtern und vereinzelt, über ihre Lage aus. Im April 1848 fand in Leipzig sogar eine Versammlung weiblicher Dienstboten statt, die Erhöhung der Löhne, bessere Kost und längere Nachtruhe forderte. Wie es thatsächlich um alle diese Dinge stand, das schilderte 1867 ein deutscher Autor460 folgendermaßen: "Man giebt ihnen die roheste Kost; sie müssen zu zwei und drei in Räumen schlafen, die nicht einmal den Namen einer Kammer verdienen, ja oft zu zwei in einem Bett. Und was das für Marterinstrumente, welche Pfühle voll Krankheitsstoff diese sind! Außerdem, daß die Dienstboten nicht allein vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang zur Arbeit angehalten werden, können die Dienstherren doch nicht genug kriegen und verlangen darüber und immer noch mehr!" Was die Lage der häuslichen Dienstboten aber noch verschärfte, waren die sittlichen Gefahren, denen sie ausgesetzt waren. Mehr noch als andere Arbeiterinnen galten sie dem verrohten Teil der Männerwelt, besonders der gebildeten, für vogelfrei. 1866 waren in Paris fast die Hälfte der Frauen in den öffentlichen Entbindungsanstalten Dienstmädchen, und mehr als die Hälfte der unehelichen Kinder hatten Dienstmädchen zu Müttern. Wie tief die armen Mädchen sanken, beweist die Thatsache, daß zur selben Zeit unter zehn Prostituierten in Paris sich ein verführtes Dienstmädchen befand und sie den dritten Teil der Kindsmörderinnen in Frankreich ausmachten.461

Die psychologischen, die ökonomischen und die moralischen Gründe sind nach alledem stark genug, um die Abnahme der Dienstboten begreiflich erscheinen zu lassen. Wie sich ihre Zahl im Verhältnis zur Bevölkerung veränderte, läßt sich, abgesehen von den letzten Zählungen, schwer feststellen, weil die Erhebungen ungenaue waren, das häusliche Gesinde auch vielfach mit dem landwirtschaftlichen zusammen gerechnet wurde. Einen annähernden Begriff von der Zu- resp. Abnahme der häuslichen Dienstboten giebt folgende Tabelle.462

Auf 100 Personen der Gesamtbevölkerung kamen Dienstboten in
Länder 1811/19 1847/49 1861/66 1871 1880 1882 1885
Preußen 0,9 1,1 3,2
Hamburg 10,5 12,1 7,5 6,3 5,7 4,8
Oldenburg 3,1 2,4 2,5
Sachsen 2,2 2,7
Bayern 0,9 1,7
Mecklenburg 3,6 2,2
Hessen 2,77 2,50 1,94
Sachsen - Altenburg 2,1 1,7
Sachsen - Weimar 2,4 1,5
Schwarzburg- Sondershausen 2,0 1,6

So unzulänglich und wenig beweiskräftig auch diese Zusammenstellung ist, so geht doch aus ihr schon hervor, daß auch dieser proletarische Frauenberuf,—der älteste vielleicht, den es überhaupt giebt,—im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts anfing, einer Umwandlung entgegenzugehen, die sich im weiteren Verlaufe der Zeit immer deutlicher ausprägt. Die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung drängt eben immer stärker dazu, diejenigen Frauenberufe, die früher als die fast einzigen angesehen wurden und die in mehr oder weniger direkter Beziehung zum Hause und zur Hauswirtschaft standen, durch andere zu entwerten und abzulösen.

Als ein ganz moderner Beruf, dessen rapide Ausbreitung in die jüngste Zeit fällt, ist der der Verkäuferinnen anzusehen. Während die fachmännisch vorgebildeten weiblichen Handelsangestellten meist aus bürgerlichen Kreisen stammen, strömen dem Beruf der ungelernten Verkäuferinnen immer mehr Proletariertöchter zu. Diese Bewegung begann schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts, aber es blieb bei vereinzelten Fällen. Erst als Schichten der Arbeiter sich durch Bildung und höhere Lebenshaltung, infolge besserer Arbeitsbedingungen, aus den Massen emporhoben, konnten sie für ihre Töchter an Stellungen denken, die ein gewisses Maß von feinerer Lebensart erforderten, und, äußerlich betrachtet, einige Stufen höher standen, als die der Fabrik- oder Werkstattarbeiterin. Wer näher zusah, bemerkte freilich vor lauter Schatten kaum mehr das Licht: niedriger Lohn und Ausbeutung bis zum äußersten gingen meist Hand in Hand und das enorm rasche Anwachsen der Zahl der Verkäuferinnen war leider großenteils darauf zurückzuführen, daß sie sich Bedingungen unterwarfen, die jeder Mann mit Entrüstung von sich wies. Sie thaten es nicht nur aus einer gewissen naiven Unkenntnis dessen, was sie hätten beanspruchen können, sondern auch im scharfen Konkurrenzkampf gegen die vielen Mädchen aus dem Mittelstand, die, weil sie Anschluß an ihre Eltern oder ein eigenes kleines Einkommen hatten, mit jedem Lohn, der ihnen nur ein Taschengeld war, sich zufrieden gaben.

Die Zunahme der proletarischen Frauenarbeit im 19. Jahrhundert beschränkt sich auf die Industrie und den Handel. Sie ist hier wie dort eine rapide. Für die Industrie wird sie durch die großartige Entwicklung der Technik unterstützt, ja vielfach überhaupt erst durch sie ermöglicht. Das wachsende Mißverhältnis zwischen dem Einkommen der Männer und den Bedürfnissen der Familie trieb die Frauen zur Lohnarbeit; durch ihren massenhaften Eintritt in das Erwerbsleben übten sie jedoch wieder einen Druck auf die Löhne aller aus. Sie befinden sich demnach in einem Zirkel, aus dem ein Entrinnen unmöglich scheint.

Die Abnahme der proletarischen Frauenarbeit in der Landwirtschaft und im Hausdienst ist teils auf ökonomische Motive,—niedrige Löhne und lange Arbeitszeit,—teils auf psychologische,—das Freiheits- und Freudebedürfnis erwachender Individualitäten,—zurückzuführen, und bei oberflächlicher Betrachtung gewinnt man den Eindruck, als sei dem entstehenden Mangel an Arbeitskräften in beiden Berufsgebieten ebensowenig abzuhelfen, wie dem Ueberangebot in Handel und Industrie.

Die Erwerbsarbeit der Frauen war schon vor dem 19. Jahrhundert eine bekannte Erscheinung gewesen, aber sie bewegte sich im großen und ganzen in den Grenzen des Hauses und dessen, was man unter spezifisch weiblicher Arbeit verstand. Ihr massenhaftes Heraustreten aus dem Hause, ihr Zusammenströmen in den Betrieben der Großindustrie, ihre durch die Maschine bedingte veränderte Organisation, die die Frau von der Stellung eines gewissermaßen selbständigen Handwerkers, der seine Arbeit in all ihren Teilen allein ausführte, zur Teilarbeiterin und Bedienerin der Maschine herabsinken ließ, rief eine Umwandlung hervor, die einer Neuschöpfung gleich kam. Die moderne Proletarierin hat mit der Arbeiterin vergangener Zeiten nicht mehr viel gemein. Und sie hat vieles vor ihr voraus. Denn die Maschine, die sie in Not und Elend stürzte, hilft ihr auch, sich daraus zu befreien. Ohne sie wäre die Frau stets in ihrer allen Fortschritt hemmenden Vereinzelung geblieben. Durch sie wurde sie dem Heere der Proletarier eingegliedert, der reiche Strom ihrer Liebe und ihres Mitempfindens wurde über den Kreis der Familie hinausgeführt; sie lernte leiden mit ihren Arbeitsgenossen, und wird mit derselben Hingebung auch mit und für sie kämpfen lernen, mit der sie einst nur für ihr eigen Fleisch und Blut gekämpft hat.