Die Formen des geselligen Lebens im Mittelalter
Autor: Bartsch, Karl (1832-1888) Geschichtswissenschaftler und Altphilologe, gründete an der Rostocker Universität das erste Germanistische Institut Deutschlands, Erscheinungsjahr: 1862
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mittelalter, Sitten- Kultur- und Sozialgeschichte, Tischsitten, Verhaltenregeln, Geselliges Leben, Anstands- und Verhaltensregeln, Anstandslehre, Sitte und Anstand, Tugendlehre, höfisches Leben
Feste Formen für den geselligen Verkehr können sich erst entwickeln, wo ein Volk auf einer gewissen Höhe der Bildung steht. Bei einem Naturvolk, wo von einem geselligen Leben überhaupt nicht die Rede sein kann, werden wir zwar für bestimmte Ereignisse des Lebens feststehende Bräuche finden, vielleicht auch schon vereinzelte Spuren einer Sittenlehre, aber nicht Gesetze, die die Empfindungen einerseits, und die Gebärden und Worte, als den Ausdruck der Empfindungen, andrerseits bestimmten Regeln unterwerfen. Daraus ergibt sich, dass die ältesten Zeiten des deutschen Volkes nicht in den Kreis unserer Betrachtung fallen, weil sie ihr keinen Stoff bieten. Mit der Entwickelung des Königtums bildet sich um den Hof bereits ein Zeremoniell, das zu den Zeiten der Karolinger schon ziemlich bestimmte Formen anzunehmen beginnt, speziell in Deutschland unter den Ottonen sich regelt; allein auch dies lassen wir hier außer Acht, weil es nur einen kleinen Kreis berührt und nur auf ganz besondere Verhältnisse Anwendung findet. Eine weitere Beschränkung müssen wir uns nach einer anderen Seite hin auferlegen, die mit der Einführung des Christentums in Deutschland zusammenhängt. Die christliche Moral, die dem Menschen die Wichten gegen seinen Nebenmenschen verzeichnet, konnte nicht verfehlen ihren Einfluss auf das Leben der bekehrten Germanen auszuüben.
Aus ihr entwickelte sich eine Tugend- und Sittenlehre, der die bedeutendsten Theologen des Mittelalters ihre Kraft widmeten. Sie geht von der Schrift aus und stellt dem Neubekehrten die erhabenen Beispiele derselben als Aufforderung zur Nachahmung vor Augen. Sie steckt damit das Ziel, dem jeder zustreben soll, aber sie gewährt uns kein Bild von dem sittlichen Zustande des Volkes überhaupt, noch von den im Verkehr herrschenden Sitten insbesondere. Die Anstandslehre, die die Formen des Lebens zeichnet, und die Tugendlehre, die den Menschen innerlich zu bessern strebt, berühren sich in ihrer Grundlage, in ihrem Ausgangspunkte; aber von diesem gehen sie nach verschiedenen Richtungen hin auseinander, ja sie können sich sogar als schroffe Gegensätze offenbaren. Die Tugend- und Sittenlehre hat es mit der innern Vertiefung des Menschen, mit dem ernsten Ringen nach Besserung und Veredelung zu tun, die weltliche Sitten- und Anstandslehre dagegen ist eine wesentlich äußerliche, ihr eigentliches Ziel ist nicht, den Menschen von innen heraus zu bessern, sondern ihm diejenigen Schroffheiten zu nehmen, die seinem Verkehr mit andern entgegenstehen. Wir wollen damit nicht sagen, dass die Grundlagen dieser Anstandslehre unsittliche seien, im Gegenteil, sie geht, wie wir schon bemerkten, von den allgemeinen Grundlagen der Tugendlehre aus, sie wird daher, wo die Tugend zum wahrhaften Leben im Innern gelangt ist, die Früchte einer wahren Geistes- und Herzensbildung erzeugen, nicht über, wo sie auf den Grund innerer Unbildung gepflanzt wird.
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Aus ihr entwickelte sich eine Tugend- und Sittenlehre, der die bedeutendsten Theologen des Mittelalters ihre Kraft widmeten. Sie geht von der Schrift aus und stellt dem Neubekehrten die erhabenen Beispiele derselben als Aufforderung zur Nachahmung vor Augen. Sie steckt damit das Ziel, dem jeder zustreben soll, aber sie gewährt uns kein Bild von dem sittlichen Zustande des Volkes überhaupt, noch von den im Verkehr herrschenden Sitten insbesondere. Die Anstandslehre, die die Formen des Lebens zeichnet, und die Tugendlehre, die den Menschen innerlich zu bessern strebt, berühren sich in ihrer Grundlage, in ihrem Ausgangspunkte; aber von diesem gehen sie nach verschiedenen Richtungen hin auseinander, ja sie können sich sogar als schroffe Gegensätze offenbaren. Die Tugend- und Sittenlehre hat es mit der innern Vertiefung des Menschen, mit dem ernsten Ringen nach Besserung und Veredelung zu tun, die weltliche Sitten- und Anstandslehre dagegen ist eine wesentlich äußerliche, ihr eigentliches Ziel ist nicht, den Menschen von innen heraus zu bessern, sondern ihm diejenigen Schroffheiten zu nehmen, die seinem Verkehr mit andern entgegenstehen. Wir wollen damit nicht sagen, dass die Grundlagen dieser Anstandslehre unsittliche seien, im Gegenteil, sie geht, wie wir schon bemerkten, von den allgemeinen Grundlagen der Tugendlehre aus, sie wird daher, wo die Tugend zum wahrhaften Leben im Innern gelangt ist, die Früchte einer wahren Geistes- und Herzensbildung erzeugen, nicht über, wo sie auf den Grund innerer Unbildung gepflanzt wird.
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Dies letztere nun war im Mittelalter der Fall. Es fehlten zu sehr die Vorbedingungen, die dem geselligen Verkehr seine Hohlheit nehmen; es wurde der Schleier eines verfeinerten äußeren Gesetzes über innere Rohheit geworfen, und darum konnten, bei allem ernsten Streben der Männer, denen es um Besserung und Veredelung ihrer Zeitgenossen zu tun war, die Früchte keine segensreichen sein. Sie konnten es in Deutschland um so weniger, als das Gesetze für den geselligen Verkehr nicht etwas im Volke erwachsenes, sondern von außen herangebrachtes und eingeführtes waren. Unsere westlichen Nachbarn, die mit der römischen Sprache auch die Grundlagen römischer Sitte als Erbteil übernommen hatten, entwickelten ungleich früher als Deutschland ein höfisches Leben und Gesetze für den geselligen Verkehr, die seit dem zweiten und dritten Kreuzzuge, als Deutsche und Franzosen zum erstenmal in größeren Massen in Verkehr traten, allmählich (Dank der Empfänglichkeit des deutschen Volks für alles ausheimische) auch auf deutschem Boden Eingang fanden. Es muss anerkannt werden, dass die Rohheit deutscher Sitten, die wir uns im zwölften Jahrhundert auch in den höheren Kreisen des Lebens ziemlich stark zu denken haben, dadurch gemildert und gemindert wurde; es wurde dem ungeschlachten Leben ein feiner glatter Anstrich gegeben, aber nur zu oft verhüllte derselbe die innere Fäulnis. Die Macht der Leidenschaft, ihre rohen und wilden Ausbrüche zu beschränken war das Hauptgesetz dieser weltlichen Sittenlehre; ihr eigentlicher Mittelpunkt ist das Maß (diu mâze), das nach keiner Seite hin überschritten werden darf. Sie trachtet den Menschen zahm, gefügig zu machen, aber sie zerstört die Individualität und nivelliert die Menschen durch Auferlegung eines gleichmäßigen Zwanges.
Ungleich freier sind unsere geselligen Verhältnisse als sie es im Mittelalter waren. Das Mittelalter stellte für vieles Regeln und Gesetze auf, was uns selbstverständlich scheint, weil es ein integrierender Teil unserer Bildung geworden. Aber grade, dass es notwendig schien, so einfache und selbstverständliche Regeln als Gesetz auszusprechen, grade das zeigt uns, wie niedrig die Bildungsstufe im allgemeinen war, auf der im Mittelalter auch die höheren Kreise standen. Die höheren Kreise d. h. der Adel, das Rittertum, denn auf diesen muss die Betrachtung im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, wo in Deutschland sich die ersten Spuren von Formen des geselligen Verkehrs zeigen, beschränkt bleiben. Nur für den ritterlichen Junker und für das Edelfräulein, nicht für das Bürgertum, das kaum erst sich zu entwickeln begonnen, oder für den Bauern, der die altgermanische Sitteneinfachheit, freilich auch Sittenrohheit beibehielt, waren diese Gesetze gegeben. Auch nicht für die Geistlichkeit, die in ihren Klöstern eigenen Gesetzen folgte, Gesetzen, die sich innig an die christliche Moral anschießen und am wenigsten darauf ausgingen, das äußere Benehmen des Mönches oder der Nonne im weltlichen Sinne zu verfeinern. Wie streng aber der Unterschied und die Trennung der Stände sein mochte, so konnten Berührungen in dieser wie in jeder anderen Beziehung nicht ausbleiben. Daher finden wir bereits im dreizehnten Jahrhundert Bürger und Bauern, die in äußerer Erscheinung, in Tracht und Benehmen es den Vornehmen, den Adeligen gleichtun; aber das waren vereinzelte Fälle, es waren Übergriffe aus einer Sphäre in eine andere, die sich meist selbst straften1). Sie zeigen den grellen Gegensatz zwischen innerlicher Rohheit und äußerem feinen Anstrich am deutlichsten. Anders wird das Verhältnis mit der steigenden Gewalt des Bürgertums, mit der Entwickelung des städtischen Lebens; sie füllt mit dem Verfall des Ritterwesens zusammen, die Städte werden neue Herde der Bildung, das ritterliche Leben verfällt wieder in dieselbe oder noch größere Rohheit, aus der es, innerlich unreif, im zwölften Jahrhundert gerissen worden war. Das Bürgertum tritt mit den Veränderungen, die durch andere Verhältnisse geboten waren, in die Erbschaft der ritterlichen Auslands- und Sittenlehre, und nimmt die Formen des geselligen höfischen Lebens in sich auf; es wird aber diese Sittenlehre mehr und mehr eine äußerliche, immer mehr des ethischen Gehaltes, der ethischen Grundlage entkleidet, ein dürrer Formelhaufe, den man wie das Abc auswendig lernen konnte. Erst mit der Reformation kehrt auch in die geselligen Verhältnisse die Natürlichkeit zurück. Die alten Anstandslehren werden über den Haufen geworfen, es tritt für eine Zeit lang wieder äußere Rohheit in den Vordergrund, die jedoch im Mittelalter bei aller scheinbaren Kultur nie gewichen war; aber mit dem Abstreifen des Zwanges ist der Anfang zu einer wahren Entwickelung von innen Heraus gegeben, die den echten Anstand, der nichts angelerntes, sondern aus Geist und Herzen von innen erwachsen ist, erzeugt.
1) Das bekannteste Beispiel aus der Dichtung, der auch hier wenigstens in den Verhältnissen Wahrheit zu Grunde liegt, ist der Meiersohn Helmbrecht von Wernher dem Gärtner (Mitte des 13. Jahrhunderts); herausg. von M. Haupt in der Zeitschrift für deutsches. Altertum 4, 321—385.
Unsere Betrachtung wird sich hauptsächlich mit der Blütezeit des höfischen Mittelalters, dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert, beschäftigen, die zugleich auch die Entfaltung des Ritter-Wesens, des Frauendienstes und der höfischen Dichtung in sich schließt. Die Quellen, aus denen wir das gesellige Leben des Mittelalters, und die dafür geltenden Formen kennen lernen, sind direkte oder indirekte. Unter jenen verstehen wir diejenigen Schriften, die es ausschließlich mit der Sitten- und Anstandslehre zu tun haben, dieselbe zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen; unter diesen die Schilderungen des mittelalterlichen Lebens, wie sie uns z. B. die epischen höfischen Dichtungen gewähren.
Ungleich freier sind unsere geselligen Verhältnisse als sie es im Mittelalter waren. Das Mittelalter stellte für vieles Regeln und Gesetze auf, was uns selbstverständlich scheint, weil es ein integrierender Teil unserer Bildung geworden. Aber grade, dass es notwendig schien, so einfache und selbstverständliche Regeln als Gesetz auszusprechen, grade das zeigt uns, wie niedrig die Bildungsstufe im allgemeinen war, auf der im Mittelalter auch die höheren Kreise standen. Die höheren Kreise d. h. der Adel, das Rittertum, denn auf diesen muss die Betrachtung im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, wo in Deutschland sich die ersten Spuren von Formen des geselligen Verkehrs zeigen, beschränkt bleiben. Nur für den ritterlichen Junker und für das Edelfräulein, nicht für das Bürgertum, das kaum erst sich zu entwickeln begonnen, oder für den Bauern, der die altgermanische Sitteneinfachheit, freilich auch Sittenrohheit beibehielt, waren diese Gesetze gegeben. Auch nicht für die Geistlichkeit, die in ihren Klöstern eigenen Gesetzen folgte, Gesetzen, die sich innig an die christliche Moral anschießen und am wenigsten darauf ausgingen, das äußere Benehmen des Mönches oder der Nonne im weltlichen Sinne zu verfeinern. Wie streng aber der Unterschied und die Trennung der Stände sein mochte, so konnten Berührungen in dieser wie in jeder anderen Beziehung nicht ausbleiben. Daher finden wir bereits im dreizehnten Jahrhundert Bürger und Bauern, die in äußerer Erscheinung, in Tracht und Benehmen es den Vornehmen, den Adeligen gleichtun; aber das waren vereinzelte Fälle, es waren Übergriffe aus einer Sphäre in eine andere, die sich meist selbst straften1). Sie zeigen den grellen Gegensatz zwischen innerlicher Rohheit und äußerem feinen Anstrich am deutlichsten. Anders wird das Verhältnis mit der steigenden Gewalt des Bürgertums, mit der Entwickelung des städtischen Lebens; sie füllt mit dem Verfall des Ritterwesens zusammen, die Städte werden neue Herde der Bildung, das ritterliche Leben verfällt wieder in dieselbe oder noch größere Rohheit, aus der es, innerlich unreif, im zwölften Jahrhundert gerissen worden war. Das Bürgertum tritt mit den Veränderungen, die durch andere Verhältnisse geboten waren, in die Erbschaft der ritterlichen Auslands- und Sittenlehre, und nimmt die Formen des geselligen höfischen Lebens in sich auf; es wird aber diese Sittenlehre mehr und mehr eine äußerliche, immer mehr des ethischen Gehaltes, der ethischen Grundlage entkleidet, ein dürrer Formelhaufe, den man wie das Abc auswendig lernen konnte. Erst mit der Reformation kehrt auch in die geselligen Verhältnisse die Natürlichkeit zurück. Die alten Anstandslehren werden über den Haufen geworfen, es tritt für eine Zeit lang wieder äußere Rohheit in den Vordergrund, die jedoch im Mittelalter bei aller scheinbaren Kultur nie gewichen war; aber mit dem Abstreifen des Zwanges ist der Anfang zu einer wahren Entwickelung von innen Heraus gegeben, die den echten Anstand, der nichts angelerntes, sondern aus Geist und Herzen von innen erwachsen ist, erzeugt.
1) Das bekannteste Beispiel aus der Dichtung, der auch hier wenigstens in den Verhältnissen Wahrheit zu Grunde liegt, ist der Meiersohn Helmbrecht von Wernher dem Gärtner (Mitte des 13. Jahrhunderts); herausg. von M. Haupt in der Zeitschrift für deutsches. Altertum 4, 321—385.
Unsere Betrachtung wird sich hauptsächlich mit der Blütezeit des höfischen Mittelalters, dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert, beschäftigen, die zugleich auch die Entfaltung des Ritter-Wesens, des Frauendienstes und der höfischen Dichtung in sich schließt. Die Quellen, aus denen wir das gesellige Leben des Mittelalters, und die dafür geltenden Formen kennen lernen, sind direkte oder indirekte. Unter jenen verstehen wir diejenigen Schriften, die es ausschließlich mit der Sitten- und Anstandslehre zu tun haben, dieselbe zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen; unter diesen die Schilderungen des mittelalterlichen Lebens, wie sie uns z. B. die epischen höfischen Dichtungen gewähren.
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