Die Abhängigkeit der Arbeit vom Kapital und von der Intelligenz als eine Ursache des Proletariats

Aus: Vorlesung über Sozialismus und soziale Fragen
Autor: Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist und Professor für Philosophie, Erscheinungsjahr: 1847
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gesellschaft, Politik, Bildung, Philosophen, Sozialismus, Proletariat, Sozialdemokrat,
In den allerfrühesten Zeiten sielen Arbeit und Genuss unmittelbar zusammen. Jeder arbeitete direkt für seinen Genuss und Verbrauch, und verbrauchte unmittelbar Das, was er erarbeitet hatte. Der Jäger erlegte ein Wild, wenn er hungerte, und verzehrte das erlegte selbst, allein oder mit den Seinen. Jeder verschaffte sich damals seine sämtlichen Bedürfnisse selbst, denn diese Bedürfnisse waren sehr einfach und das Meiste davon gab die Natur ohne alle oder gegen geringe Mühe her. Als die Bedürfnisse wuchsen und zugleich der Tätigkeitstrieb sich mannigfaltiger zu entwickeln begann, da musste man ein anderes Verfahren einschlagen. Man fand es bequemer und leichter, dass nicht Einer Alles machte oder herbeischaffte, was er brauchte, sondern Jeder nur Das, wozu er am Meisten Lust, Geschick und Gelegenheit hatte, und dass man dann gegenseitig unter einander das so Gewonnene austauschte je nach dem Bedürfnis. Dies war schon eine Arbeitsteilung, aber eine noch sehr einfache und rohe. Man arbeitete nun schon nicht mehr bloß für den unmittelbaren eigenen Bedarf; der Jäger verzehrte sein Wild nicht mehr ganz oder warf den Rest weg, sondern gab, was er nicht brauchte, dem Fischer oder Hirten, und Diese gaben ihm dafür von der Beute des Fischzuges oder von der Herde Das, was er begehrte. Eine strenge Abwertung fand bei diesem Tausch anfänglich wohl nicht statt; Jeder gab Das hin, was er eben nicht für sich brauchte, und nahm dafür von dem Andern in Empfang, was er gerade brauchen und was Dieser seinerseits entbehren konnte, ohne über Qualität und Quantität des Hingegebenen und des dafür Empfangenen einen Vergleich anzustellen. Aber bald ward auch Dies anders. Man fing an, den Dingen einen größeren oder geringeren Wert beizulegen je nach ihrer Seltenheit, nach der Mühe, welche ihre Herbeischaffung verursachte, oder nach dem Verlangen und der Neigung, welche die Andern danach bezeigten. In noch höherem Grade ward Dies der Fall, als an die Stelle jenes einfachen Tausches ein mehr zusammengesetzter Verkehr trat, als in die Mitte zwischen jene ersten Beiden, den Produzenten und Konsumenten, ein Dritter, der Kaufmann, als Vermittler trat, der dem Einen alles Das abnahm, was er nicht für sich brauchte, dem Andern alles Das lieferte, was er zu haben wünschte. Der Kaufmann, in dessen Händen sich die verschiedenartigsten Produkte konzentrierten, bei dem die verschiedenartigsten Bedürfnisse ihre Befriedigung suchten, musste natürlich bald darauf kommen, seinen Waren einen verschiedenen Wert je nach ihrer Seltenheit und Gesuchtheit beizulegen. So rückten Produktion und Konsumtion, die schaffende Tätigkeit des Einzelnen und sein Verbrauch oder die Befriedigung seiner Bedürfnisse immer weiter aus einander, verloren immer mehr ihren unmittelbaren Zusammenhang. Nicht allein, dass der Einzelne nicht mehr bloß Das verbrauchte, was er selbst produzierte, und nicht mehr bloß Das produzierte, was er für sich brauchte; er tauschte auch sein Produkt nicht mehr unmittelbar gegen ein anderes um, dessen er eben bedurfte, sondern er gab es hin gegen ein allgemeines Tauschmittel, das Geld, und verschaffte sich mittelst dieses erst wieder die Gegenstände seines Bedarfs. Je mehr aber auf diese Weise der Kreis des Tauschens sich erweiterte, desto mehr drängten sich Zufall, fremde Spekulation und Gewinnsucht zwischen die Arbeit des Einzelnen und seinen Erwerb. Teils musste er diesen Erwerb mit dem Kaufmann teilen, teils war er auch noch überdies in Bezug auf den Preis seiner Arbeitsprodukte wie seiner Bedürfnisse von Letzterem abhängig, welcher die Verhältnisse von Angebot und Nachfrage besser, als der einzelne Produzent, zu übersehen vermochte und daher häufig auf Kosten dieses Letzten einen unverhältnismäßigen Gewinn davon zog.

Zu den beiden vorerwähnten Arten der Arbeitsteilung kam nun aber im Verlauf der Kulturentwickelung bald noch eine dritte. Hatte man erst die Erfahrung gemacht, dass es vorteilhafter sei, wenn nicht Einer Alles, sondern Jeder nur etwas Bestimmtes produziere und sodann die verschiedenen Produkte gegen einander umgetauscht würden, so kam man bald zu der weitern Einsicht, dass es sich eben so in Bezug auf die einzelnen Produkte verhalte. Wenn ein Einzelner ein ganzes Haus allein bauen oder als Landwirt alle Verrichtungen seiner Wirtschaft allein besorgen soll, so wird er dazu verhältnismäßig viel mehr Zeit brauchen und es wird überdies Alles viel schlechter ausfallen, als wenn sich Viele in diese Arbeit teilen, der Eine diesen, der Andere jenen Teil davon übernimmt. Eben so ist es bei den Handwerken und Manufakturen. Eine Kleiderfabrik, wo jeder Arbeiter nur einen bestimmten Teil eines Kleidungsstückes fertigt, kann in derselben Zeit und mit denselben Arbeitskräften viel mehr und bessere Ware liefern, als eine Werkstatt nach altem Stil, wo jeder Arbeiter ein ganzes Stück macht. Adam Smith hat berechnet, dass in einer Nadelfabrik in Folge der Arbeitsteilung ein Arbeiter durchschnittlich mindestens 500-, ja vielleicht mehre 1.000mal so viel Nadeln in der gleichen Zeit fertigen kann, als bei einer Einrichtung, wo jeder Einzelne alle Teile der Nadel fertigen und zusammensetzen muss.

Die Nationalökonomen pflegen mit großer Befriedigung und Bewunderung bei den außerordentlichen Erfolgen zu verweilen, welche diese nach allen Seiten hin durchgeführte Arbeitsteilung in staatswirtschaftlicher Hinsicht für die Vermehrung der Gütermasse, die Vervollkommnung aller Produktionszweige, den raschen und mannigfaltigen Umtausch aller Produkte hat. Und in der Tat sind diese Erfolge glänzend und bewundernswert. Allein wir haben es hier nicht damit, sondern nur mit den sozialen Folgen dieser Arbeitsteilung zu tun, mit den Folgen, welche dieselbe auf die Verwertung der Arbeitskraft, auf das Verhältnis der Produktion zur Konsumtion, insbesondere aber auf die Zustände der sogenannten arbeitenden Klassen äußert.

Um diese Folgen vollständig übersehen zu können, müssen wir aber noch eine andere Reihe von Betrachtungen anstellen.

Alle Gegenstände menschlichen Verbrauchs bedürfen zu ihrer Herstellung zweierlei Faktoren oder Elemente: eines Stoffes, den die Natur liefern muss, und einer Form, welche die menschliche Tätigkeit hinzufügt. Das Verhältnis dieser beiden Faktoren zu einander ist bei den verschiedenen Produkten ein sehr verschiedenes. Es gibt Dinge, bei denen die menschliche Tätigkeit fast Nichts, andere, bei denen sie fast Alles tut. Vergleichen Sie eine Frucht, bei welcher oft der ganze Anteil menschlicher Arbeit in der Mühe des Pflückens besteht, mit dem feinen Gespinnst, bei welchem der Wert der menschlichen Arbeit den Wert des Stoffes um das Hundertfache übersteigt, oder mit einem Kunstwerk, wo das Übergewicht der menschlichen Tätigkeit über den Stoff noch weit größer ist. Indes, wie gesagt, ganz ist weder die menschliche Tätigkeit, noch die Naturkraft bei der Hervorbringung der Produkte, die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen, jemals zu entbehren.

Zwei Umstände sind nun hier für unsere Betrachtung von wesentlichem Belang. Zuerst der, dass die notwendigsten Lebensbedürfnisse gerade die sind, zu deren Hervorbringung die Natur das Meiste, menschliche Tätigkeit und Kunst dagegen nur den geringeren Teil tun kann, wogegen die, bei denen die menschliche Arbeit das Überwiegende ist, mehr zu den Annehmlichkeiten, als zu den ersten Notwendigkeiten des Lebens gehört.

Das Zweite ist Dies, dass die natürlichen Quellen der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder, wie ich sie mit einem Worte nennen will, die natürlichen Güterquellen ihrem Umfange und ihrer Ergiebigkeit nach teils überhaupt, teils nach den besonderen Umständen ihres Gebrauchs immer nur begrenzte sind, während die menschliche Arbeitskraft quantitativ und qualitativ einer Steigerung ins Unbestimmte fähig zu sein scheint.

Nun sind im Verlauf der Zeiten allmählich die vorhandenen natürlichen Güterquellen, wenigstens in den zivilisierten Teilen der Welt, in das Eigentum Einzelner übergegangen; von diesen Einzelnen müssen daher die Übrigen teils die Mittel zu ihrer Existenz, teils die Stoffe, die sie verarbeiten wollen, entnehmen. Bevor der Arbeiter das Allergeringste durch seine Tätigkeit produzieren und folglich auch Etwas für sich erwerben kann, bedarf er nicht nur des notwendigen Lebensunterhaltes während seiner Arbeit, sondern auch mannigfacher Materialien und Werkzeuge für seine Arbeit selbst. Entweder nun muss er dies Alles direkt von dem Eigentümer der natürlichen Güterquellen, dem Grundbesitzer, beziehen und Diesem dafür seine Tätigkeit dienstbar machen, oder von Einem, der diese Dinge erst wieder vom Grundbesitzer sich verschafft hat und sie nunmehr dem Arbeiter unter der gleichen Bedingung darbietet, dass nämlich Letzterer für ihn, in seinem Dienste, arbeite. Es ist Dies der Kapitalist oder Geschäftsunternehmer, der auf diese Weise, nach dem früher dargestellten Verhältnis der fabrikmäßigen Arbeitsteilung, eine Menge von Arbeitern beschäftigt, ihnen ihren Lebensunterhalt in der Form von Arbeitslohn vorschießt, ihnen die nötigen Materialien und Werkzeuge der Arbeit liefert, dafür aber die Produkte ihrer Arbeit an sich nimmt, sie im eignen Namen verwertet und den ganzen Ertrag derselben für sich bezieht. Sonnt ist der Arbeiter nach allen Seiten hin abhängig, entweder vom Grundbesitzer oder vom Kapitalisten, Kaufmann, Fabrikanten oder dem Inhaber irgend eines andern industriellen Geschäfts. In jedem Fall muss er für einen Andern arbeiten, muss sein Arbeitsprodukt an einen Andern hingeben und sich mit einer Entschädigung für seine Arbeit, dem Arbeitslohne, begnügen.

In allen diesen Verhältnissen steht aber der Arbeiter in großem Nachteil gegen Die, mit denen er ein solches Geschäft eingeht. Sie Alle nämlich sind mehr oder weniger im Besitze derjenigen Dinge, welche die ersten Notwendigkeiten des Lebens bilden; sie alle stehen den natürlichen Güterquellen näher oder haben doch mehr und sicherere Mittel, sich in deren Besitz zu setzen, als der Arbeiter. Der Grundbesitzer kann allenfalls ohne fremde Hilfe so Viel von seinem Grundstück gewinnen, um davon zu leben — der Arbeiter vermag sich mit seiner bloßen Hände Arbeit Nichts zu schaffen, wovon er leben könnte. Er braucht Nahrungsmittel, er braucht ein Stückchen Grund und Boden, wenigstens so viel, um darauf zu schlafen — alles Dies muss er direkt oder indirekt vom Grundeigentümer beziehen. Der Kapitalist kann nötigenfalls von seinen Kapitalien leben: er kann sich durch sie in den Besitz von Vorräten und Werkzeugen der Arbeit setzen und mittelst dieser sich die Arbeit Andrer erkaufen. Auch Der, welcher zwar weder Grundbesitzer, noch Kapitalist, aber durch andere Verhältnisse — Bildung, gesellschaftliche Stellung, Spekulationsgeist oder auch wohl ein glückliches Ungefähr — in den Stand gesetzt ist, als Unternehmer und Inhaber eines eignen Geschäfts aufzutreten, hat dadurch den Vorteil, Andere gegen einen Lohn für sich arbeiten zu lassen und, als Leiter des Ganzen, den Gewinn der Gesamtproduktion an sich zu ziehen.

Allen diesen Begünstigten steht nun Der, welcher Nichts hat, als seine Arbeitskraft, in der nachteiligsten Stellung gegenüber: dem Grundbesitzer als der Besitz- und Obdachlose; dem Kapitalisten als Der, welcher mit Nichts anfängt und selbst die Mittel seiner Arbeit und seiner Existenz während der Arbeit sich von einem Andern muss vorschießen lassen; dem Geschäftsunternehmer als Der, welcher Beschäftigung sucht und um jeden Preis haben muss.

Das ist die Stellung des Arbeiters, d. h. des bloßen Arbeiters, der nicht zugleich Grundeigentümer, Kapitalist oder im Besitz eines eignen Geschäfts ist: Das ist seine Stellung in der heutigen Gesellschaft, im heutigen Verkehr; Das ist sein Verhältnis zu den übrigen Klassen; Das ist’s, was ihn zum Proletarier, und was den Proletarier zu einer besonderen, allen andern Klassen gegenüberstehenden Klasse der Gesellschaft macht. Der Proletarier ist also der Besitz- und Mittellose, ist Der, welcher Nichts hat, als seine Arbeitskraft, und welcher bloß durch diese Arbeitskraft sich die zu seiner Existenz notwendigen Güterquellen erschließen soll, die im Besitze Anderer sind und von denen diese Andern ihm gerade nur so Viel zufließen lassen, als sie vermöge der Kombinationen des Verkehrs, vermöge des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage unumgänglich müssen. Der Proletarier ist Der, welcher nicht selbst hinausgehen und sich die Frucht pflücken kann, die er zu seiner Nahrung braucht, wie es der Grundbesitzer tut, sondern der erst warten muss, ob Einer ihm seine Arbeit abkaufen und ob ein Anderer ihm für den erhaltenen Lohn die Frucht, die er begehrt, verkaufen wolle. Der Proletarier ist Der, welcher nicht, wie der Kapitalist, im Besitz von Vorräten, Werkzeugen, Gebäuden oder andern wertvollen Gegenständen sich befindet, von denen er sicher sein könnte, im Umtausch gegen sie alles Das zu erhalten, was er wünscht; er hat nur Eines anzubieten, die Kraft seiner Arme oder die Geschicklichkeit seiner Hände oder auch wohl seinen Verstand; aber es ist ungewiss, ob, wie und zu welchem Preis er diese Ware werde in den Kauf bringen können. Wie die Verhältnisse sind, bedarf er dazu in der Regel eines Vermittlers, des Arbeitgebers, des Geschäftsunternehmers, des Spekulanten, und gar oft bleibt in dessen Händen der beste Teil von Dem, was der Arbeiter durch seine Arbeit verdient, zurück, er selbst aber muss sich mir dem kärglichen Lohn, welchen Jener ihm bietet, begnügen.

So ist also eine Hauptursache des Proletariats das Auseinanderreißen der beiden Faktoren aller Produktion, der natürlichen Güterquellen und der Arbeit, der Umstand, dass die Arbeit, abgetrennt von ihrer natürlichen Basis, den Naturprodukten, gleichsam in der Luft schwebt und erst wieder durch eine Menge künstlicher Mittelglieder nach dem Besitz jener Naturprodukte, als dem unentbehrlichen Mittel der Arbeit selbst so wie der Existenz der Arbeiter, zurückstreben muss.

Diese ungünstige Stellung des Proletariats wird nun noch erhöht dadurch, dass, wie ich schon früher erwähnt, der Umfang der natürlichen Güterquellen ein mehr oder weniger begrenzter, dagegen die Zahl Derer, welche daraus schöpfen wollen und dafür ihre Arbeitskraft zu Markte bringen, eine immerfort steigende ist, sodann auch noch durch die Wirkungen, welche die ins Unendliche gesteigerte Arbeitsteilung auf die Qualität und den Wert der einzelnen Arbeiten hat. Namentlich durch die Zerlegung der einzelnen Arbeitsprodukte in eine Menge von Teilarbeiten ist es dahin gekommen, dass jede dieser Teilarbeiten in der Regel nur eine ganz mechanische, oft selbst physisch nur schwache Kraftanstrengung erfordert, während die geistige Tätigkeit, die Intelligenz, die Überlegung, welche dazu gehört, um aus den einzelnen Teilen ein Ganzes zu machen durch diese Art der Arbeitsteilung immer mehr und mehr aus den einzelnen Arbeiten und Arbeitern gleichsam herausgezogen und in der Hand oder dem Geiste eines Einzigen, des Unternehmers und Leiters eines solchen Fabrikgeschäfts, konzentriert wird. Der Arbeiter, der ein Kleidungsstück in allen seinen Teilen fertig herrichtet, bedarf nicht bloß der mechanischen Geschicklichkeit für die einzelnen Teile, sondern auch der Kenntnis, der Berechnung und des Geschmacks für die Verbindung dieser Teile zum Ganzen; der Arbeiter dagegen, der nur eine Naht zu machen oder das Kleid zu bügeln hat, arbeitet rein mechanisch nach der Anweisung eines Andern. Und so ist es mehr oder weniger in allen andern Geschäftszweigen.

Dazu kommt endlich die Einführung der Maschinenarbeit, welche die Menschenarbeit noch mehr zur bloß mechanischen herabdrückt, der Intelligenz und dem Kapital des Unternehmers ein noch größeres Übergewicht über den Arbeiter verleiht. Wie durch die Maschine eine Beschäftigung entgeistigt werden könne, davon will ich Ihnen nur ein Beispiel anführen, welches mir gerade recht einleuchtend zu sein scheint. Sie kennen wahrscheinlich die sinnreiche Erfindung des Jacquardstuhles. Das Eigentümliche dieser Erfindung besteht darin, dass die verschiedenartigen Verschlingungen der Fäden, welche zur Hervorbringung eines gewissen Musters gehören und welche bei den gewöhnlichen Webstühlen jedesmal von dem Arbeiter selbst, teils durch eine besondere Vorrichtung des Stuhls, teils durch bestimmte Manipulationen während der Arbeit zuwege gebracht werden, hier vermöge eines höchst einfachen und sinnreichen Mechanismus, ohne jedes weitere Zutun des Arbeiters, vor sich gehen. Offenbar ist dadurch die Arbeit des Webers eine viel mechanischere geworden; die Intelligenz, die er Vorher anwenden musste, um das Muster auf den Stuhl überzutragen, ist gleichsam auf die Maschine übergegangen, und der Nutzen, den der Arbeiter aus dieser Aufwendung von Intelligenz zog, geht ihm nun verloren und fällt dem Eigentümer der Maschine, dem Geschäftsunternehmer, zu. Der Arbeiter ist also dadurch auf doppelte Weise in Nachteil gegen früher gekommen, einmal dadurch, dass er jetzt nur noch seine mechanische Kraft und Geschicklichkeit bei dieser Arbeit anwenden und folglich verwerten kann, sodann aber auch dadurch, dass er nicht im Stande ist, sich einen solchen, viel teureren Jacquardstuhl anzuschaffen, dass er also nicht mehr selbstständig als sein eigner Arbeitgeber, sondern nur im Dienst und Lohn eines fremden Arbeitgebers diese Beschäftigung treiben kann.

So, verehrte Anwesende, glaube ich Ihnen hinlänglich ausgeführt zu haben, auf welche Weise durch die Entwicklung der allgemeinen Verkehrs- und Eigentumsverhältnisse, insbesondere durch die unendlich gesteigerte Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Arbeitsgebiete oder Geschäfte, sich allmählich ein Proletariat bilden musste. Mit dem immer stärkeren Wachsen der Bevölkerung und der mangelhaften Verteilung derselben über die Erde mussten die natürlichen Güterquellen in den Teilen, wo sich diese Bevölkerung zusammendrängte, immer unzureichender, die Möglichkeit, an denselben Teil zu haben, immer seltener und schwieriger werden. Die, welche im Besitz solcher natürlicher Güterquellen oder Vorräte waren, kamen immer mehr in Vorteil gegen Die, welche Dies nicht waren. Durch die Arbeitsteilung und den kaufmännischen Verkehr konzentrierten sich die Mittel der Produktion und Konsumtion ebenfalls in immer wenigem Händen, und die Übrigen wurden von diesen Wenigen abhängig. So traten aus der allgemeinen Strömung des Verkehrs die Besitzenden, die Kapitalisten, die selbstständigen Geschäftsunternehmer und Spekulanten gleichsam als die festen und erhabenen Punkte hervor, um welche alles Übrige sich an, setzte, woran es sich zu halten suchte; neben ihnen aber blieb, als halt- und gestaltlose Masse, zurück — das Proletariat oder die Klasse der Besitz- und Mittellosen, Derer, die, ohne festen Fuß im Leben, von den Wogen des Verkehrs hin- und hergeworfen, nicht selten auch verschlungen und in die Tiefe hinabgerissen werden.

Die Formen und Stufen des Proletariats sind äußerst mannigfache. Proletarier ist der Handarbeiter und Tagelöhner, auf dem Lande wie in der Stadt, der täglich sich seine Arbeit und seinen Unterhalt suchen muss, ohne sicher zu sein, ob er Beides finde. Proletarier ist der Handwerker, der nicht als Meister ein selbstständiges Geschäft betreibt, sondern als Gesell oder Gehilfe in fremdem Lohne arbeitet. Proletarier sind die Fabrikarbeiter und die ganze zahlreiche Klasse Derer, welche bei der großen Industrie in den verschiedensten Beschäftigungen als Lohnarbeiter ihr Brod finden.

Und nicht bloß in der Sphäre mechanischer Arbeiten, auch in der Sphäre geistiger Beschäftigungen gibt es ein Proletariat. Der Tagesarbeiter mit der Feder und dem Kopfe — von dem Lohnschreiber an bis zu dem Schriftsteller, der im Lohne des Verlegers fabrikmäßige Arbeit liefert — sie alle gehören mehr oder weniger dem Proletariat an; sie alle müssen fast Tag für Tag nach Arbeitsverdienst und nach Brot ausgehen, sind der Not und dem Mangel preisgegeben, wenn sie keine Arbeit finden; sie alle haben eben so, wie ihre Schicksalsgefährten, die Proletarier in der Fabrik oder auf dem Felde, vor allen übrigen Klassen der Gesellschaft mit den Nachteilen der Übervölkerung und dem Druck einer maßlosen Konkurrenz zu kämpfen, haben vorzugsweise unter der Kargheit und den hohen Preisen der vorhandenen Subsistenzmittel zu leiden.

Das charakteristische Merkmal des Proletariats ist also, wie Sie sehen, dieses, dass der Proletarier, ohne feste Stellung im Leben, ohne einen selbstständigen Geschäftsbetrieb, ohne einen eignen Besitz, seine Existenz durch den bloßen Erwerb seiner Arbeit fristet, und dass ihm selbst dieser Erwerb noch geschmälert wird, weil er ihn mit seinem Arbeitgeber teilen muss. Nicht Jeder, der in dürftigen Umständen lebt, ist darum schon ein Proletarier; sonst würden z. B. unsere Volksschullehrer und ein großer Teil unsrer Niederen Beamten ebenfalls dahin zu rechnen sein. Allein sie haben doch, vermöge ihrer festen Anstellung, ein gesichertes, wenn auch kärgliches Einkommen. Ich zähle ferner zu den Proletariern nicht die kleinen Gewerbetreibenden, so lange sie noch ein eignes Geschäft haben, wenn schon ihre Nahrungsverhältnisse oftmals kaum besser, ja bisweilen schlechter sind, als die der bloßen Arbeiter. Sie sind noch nicht Proletarier, aber sie werden es freilich oft, wenn die Not sie dazu zwingt, ihren eigenen Geschäftsbetrieb aufzugeben und im Dienste Anderer zu arbeiten oder gar beschäftigungslos nach Arbeit zu suchen. Die kleinen Grundbesitzer, z. B. die sogenannten Häusler auf unseren Dörfern, deren Grundbesitz sie und ihre Familien nicht ausreichend ernährt und die deshalb daneben noch durch ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienen müssen, stehen ebenfalls auf der Grenze des Proletariats, wenn man sie auch noch nicht gänzlich den Proletariern beizählen kann, weil sie doch eben an ihrem Besitze wenigstens noch einigen Rückhalt haben. Andrerseits sind Die als Proletarier nicht zu betrachten, welche, obschon lediglich auf den Ertrag ihrer Tätigkeit und deren Verwertung angewiesen, doch durch die Art dieser Tätigkeit gegen den Mangel lohnender Beschäftigung und somit gegen die Not des Lebens mehr, als die gewöhnlichen Arbeiter, geschützt sind. Der Künstler, der durch seine Kunstfertigkeit sich sein tägliches Brod verdient, kann freilich ein Proletarier sein und ist es gar oft, wenn seine Leistungen sich nicht über das Gewöhnliche erheben und ihn deshalb einer gefährlichen Konkurrenz aussetzen. Aber derselbe Künstler, wenn er Ungewöhnliches leistet, kann sicher sein, nicht nur sorgenfrei zu leben, sondern sogar Reichtümer zu erwerben. Der Gelehrte, der vom Ertrage schriftstellerischer Tätigkeit lebt, kann, wie ich früher bemerkte, zum bloßen Lohnarbeiter des Buchhändlers herabsinken und in steter Angst um sein tägliches Brot schweben, aber er kann auch, bei einem tüchtigen Talente und reichen Kenntnissen, sich einer vollkommen gesicherten Existenz erfreuen. Selbst unter den mechanischen Arbeitern macht es einen großen Unterschied, ob die Arbeit, die Einer verrichtet, eine bloß mechanische oder eine zugleich mit geistigen Elementen — Geschicklichkeit, Kunstfertigkeit und Verstandesbildung — verbundene ist. Die letztere ist natürlich immer weit mehr gesucht und hat weit weniger Konkurrenz zu bestehen, als die erstere, gewährt also auch dem Arbeiter eine weit größere Selbstständigkeit, dem Arbeitgeber gegenüber, und eine weit größere Sicherheit in den Wechselfällen des Verkehrs.

Daher ist, wie gesagt, das Proletariat in sich wieder mannigfach abgestuft und schattiert in Bezug auf seine Erscheinungsformen und seine Wirkungen. Eines jedoch ist Allen, die unter diese Kategorie fallen, gemein: die Unsicherheit eines Erwerbs, der von keinem Kapital, von keinem Grundbesitz, von keiner überwiegenden Intelligenz und von keiner festen gesellschaftlichen Stellung unterstützt wird, der daher fortwährend, selbst wenn augenblicklich keine wirkliche Not ihn drückt, doch die ewige Angst vor einer solchen, die ewige Sorge um das tägliche Leben, um die eigne und der Seinigen Erhaltung wie ein drohendes Damoklesschwert über seinen Häuptern schweben sieht.

Das Proletariat ist keine gegen die andern Klassen der Gesellschaft abgeschlossene Klasse oder Kaste, indem sowohl ein Hinaufsteigen aus demselben in die andern Klassen, als auch ein Herabsinken aus diesen in jene nicht selten stattfindet. Leider das Letzte häufiger, als das Erste. Zwar gibt es manche erfreuliche Beispiele von Proletariern, von einfachen Arbeitern, die durch Sparsamkeit, Fleiß, Geschicklichkeit oder auch durch glückliche Erfindungsgabe und außerordentliche Naturanlagen mit eigner Kraft sich eine bessere Lebensstellung, zum Teil Reichtümer, Rang und Ehren erworben haben; allein zahlreicher noch sind leider die Fälle, wo kleine Grundbesitzer oder Gewerbetreibende, überhaupt Solche, die schon an der Grenze des Proletariats standen, zu wirklichen Proletariern herabsinken und ihre bisher mühsam behauptete Selbstständigkeit gegen die Dienstbarkeit bei Andern und die Unsicherheit eines Lohnerwerbes zu vertauschen genötigt sind.

Ich komme endlich noch auf ein Moment, welches bei der Betrachtung des Proletariats nicht übersehen werden darf. Es ist Dies die politische und bürgerliche Stellung der untern oder arbeitenden Klassen zu den oberen, verglichen mit ihrer sozialen und ökonomischen. Früher waren diese Klassen auch politisch und bürgerlich in einer unfreien, ja beinahe rechtlosen Lage. Der Sklave in den alten Staaten, der Leibeigene in den Zeiten des Feudalrechts waren mit Leib und Leben einem Herrn untertan, von seiner Gnade abhängig, ihm zu allen Diensten verpflichtet. Sie sahen es fast als eine Schickung, als etwas Unabänderliches, als den natürlichen Gang der Dinge an, dass ihre Herren, dass überhaupt die bevorrechteten Klassen von ihrem Schweiße zehrten und sie unterdrückten. Das alles hat sich nun geändert; die politische und bürgerliche Emanzipation dieser Klassen hat sie rechtlich, vor dem Gesetze, den andern Klassen gleichgestellt; die Leibeigenschaft und selbst die milderen Nachklänge derselben, die Fronpflichtigkeit und wie sonst diese persönlichen Dienste und Lasten alle heißen, sind in dem größten Teile der zivilisierten Welt aufgehoben.

Der Arbeiter steht jetzt seinem Arbeitgeber als freier Mann gegenüber, er arbeitet für Denselben nicht mehr in Folge eines gesetzlichen Zwanges, einer Dienstuntertänigkeit, sondern in Folge eines freien Vertrags. Um so härter empfindet er aber die faktische Abhängigkeit und Unfreiheit, in welcher er sich gegen seinen Arbeitgeber befindet; um so schwerer lastet auf ihm das Gefühl, dass die gleiche Berechtigung mit den andern Klassen der Gesellschaft, welche das Gesetz ihm zuspricht, fast niemals für ihn zu einer Wahrheit wird. Daher hat sich der unteren Klassen ein Gefühl der Bitterkeit und des Unbehagens bemächtigt, welches sie ihre politische und rechtliche Emanzipation nur als ein halbes und zweideutiges Geschenk betrachten lässt, weil dieselbe nicht von einer sozialen gefolgt ist. Was hilft uns die Freiheit? sagen oder denken sie; gibt sie uns Brot? verschafft sie uns einen ausreichenden Arbeitsverdienst? Was hilft uns die bürgerliche Gleichstellung mit den oberen Klassen, wenn die Unterschiede der Besitztümer, wenn das Vorrecht des Reichtums eine ewig unübersteigliche Grenze zwischen ihnen und uns ziehen? Was hilft es uns, dass Jene uns rechtlich nicht zwingen können, unsere Kraft ihnen dienstbar zu machen, wenn sie es faktisch dennoch tun kraft der Macht, welche der Besitzende über den Besitzlosen, der Reiche über den Armen hat, und wenn sie diese Macht jetzt nur noch schonungsloser üben, als selbst unter der Herrschaft der völligen Dienstuntertänigkeit, wo wenigstens die Erhaltung der Existenz und Gesundheit des Arbeiters im eignen Interesse seines Herrn lag?

Fassen wir alle diese Momente zusammen — die immer wachsende Bevölkerungsmasse, namentlich in den untern Schichten; den immer steigenden Druck, den die täglich schwieriger werdenden Verhältnisse des Verkehrs und der Konkurrenz vorzugsweise auf diese untersten Schichten der Gesellschaft ausüben; endlich das mit der allgemeiner werdenden Bildung sich auch unter diesen Klassen immer mehr ausbreitende und immer lebhafter werdende Gefühl von der Unangemessenheit ihrer Lage zu den Ansprüchen, die sie als Menschen und als Bürger zivilisierter und mehr oder weniger politisch freier Staaten zu erheben sich berechtigt glauben, fassen wir alles Dies zusammen, so werden wir inne, dass der Pauperismus oder das Proletariat Mehr ist, als eine vorübergehende Erscheinung, dass es Mehr und etwas Anderes ist, als frühere Erscheinungen ähnlicher Art. Wir werden inne, dass hier eine Frage vorliegt, welche tief in die innersten Verhältnisse unsrer Zivilisation eingreift und deren Lösung nicht bloß eine Sache der Humanität, auch nicht bloß eine Sache der politischen Notwendigkeit, sondern Mehr als Das, eine Sache der Gerechtigkeit und der Zivilisation selbst ist.

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie