Deutschland das Land der Mitte

Aus: Charakterbilder deutschen Landes und Lebens
Autor: Grube, August Wilhelm (1816-1884) deutscher Pädagoge und Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Landesbeschreibung, Deutschland, Land und Leute, Sitten und Gebräuche, Volksfeste, Mecklenburg, Pommern, Vorpommern, Rügen, Vaterland, Heimat, Schule, Unterricht, Schüler, Thüringen, Preußen, Bayern, Schwaben,
Wir Deutschen können unser Vaterland das Land der europäischen Mitte nennen mit viel größerem Recht, als die Chinesen das ihre in Bezug auf Asien. Welches Lebensverhältnis wir auch immer nehmen mögen, in Deutschland gleicht sich Alles aus, und seien es politische und moralische, oder physikalische und kosmische Extreme, in unserem Vaterlande finden wir das Zentrum aller europäischen Linien.

Wir Deutschen bewohnen den mittleren Hauptkörper Europas, an den sich seine Glieder nach allen Seiten hinaus erstrecken. Von Deutschland geht es nach Italien hinaus zu den heißen Gebieten der südlichen Zonen, und ihnen gegenüber rühmen wir, wenn wir auch seines schönen Himmels entbehren, die größere Frische und Kühle unserer Wälder und Quellen. Nach Norden in die Nachbarschaft der Polargegenden bauen sich Russland und Skandinavien hinaus, und wenn sie dort im Winter frieren und Baumstämme gegen die grimmige Kälte in ihren Öfen verlodern lassen, so erscheinen wir ihnen gegenüber als Südländer, spalten unser Holz in kleine, zierliche Stückchen und preisen es, dass wir den Frühling vier Wochen früher haben.

Alle Naturformen Europas finden sich in Deutschland zusammen; wir haben eine wahrhaft griechische Mannigfaltigkeit; wir haben die Plateaubildung Spaniens und die sarmatische Tiefebene; wir haben den eigentümlichen Wechsel zwischen Bergland und Ebene der britischen Inseln und die Hochgebirgsform Skandinaviens. Dabei ist Deutschland waldreicher, als die drei Südländer Europas, wo der Wanderer nur zu oft über nackte Höhen und baumlose Landschaften klagt. Haben wir auch keine Pomeranzenheine und Olivengärten (welche letztere überdies fahl aussehen) und keine Baumarten mit immergrünem Laub: so prangen dafür unsere Wälder mit herrlichen Eichen und Buchen, die nirgends schöner sind als bei uns, und zwar am stattlichsten im Norden (Mecklenburg, Holstein, Insel Rügen), so dass die Dichter nicht ohne Grund das Haupt der Germania mit Eichenlaub bekränzen. Tannen- und Fichtenwälder überziehen die höheren Berge; Linden, Ulmen, wilde Kastanien, Eschen, Akazien und Pappeln verschönern selbst im nördlichen Flachlande die Kirchhöfe, Dorfplätze und Straßen. Sümpfe, deren es in der Urzeit zwischen den Waldungen viele gab, sind größtenteils verschwunden, und nur wenige Gegenden durch Moräste ungesund, nirgends in solchem Maße, wie die pontinischen Sümpfe und Maremmen Italiens. Die Heiden und Moore des nördlichen Deutschlands sind reizlos, aber bei Weitem nicht so trübselig, als die Sandflächen südlich von Bordeaux in Frankreich, und hält man Abrechnung, so ist unser deutsches Vaterland bei Weitem schöner, als Frankreich. Die Seine lässt sich weder an Wasserfülle, noch an Herrlichkeit der nächsten Gegenden mit der Elbe vergleichen; nirgends bieten ihre Ufer solche Landschaften, wie die der Elbe bei Dresden. Schon daraus, dass sich in Deutschland viel mehr Gebirge verzweigen, als in dem größtenteils flacheren Frankreich, kann man schließen, wie viel mannigfaltiger und reizender die Natur der Landschaften in Deutschland sein muss. An der Rhone ist's schön, namentlich bei Lyon, doch nicht reizender, als im österreichischen Donauthale, und weder Rhone, noch Loire dürfen sich mit dem Rheinstrom messen, dessen prachtvolle Ufer mit Weinhügeln, Bergen, Städten und Burgruinen von den Reisenden aller Völker Europas gern besucht und hoch gepriesen werden.

Freilich wendet der unwissende Provenzale und der Italiener sein Angesicht hinweg von unserem teuren Vaterlande, und schilt es nebelig und feucht, — und der vorurteilsvolle Spanier meint gar, nur in Frankreich könne er es noch allenfalls aushalten, was jenseits liege, sei Alles ein nordisches Land ohne Sonne und Sterne. Mit Recht aber können wir diese Leute auf England verweisen, zu dessen Nebeln sich die unseligen verhalten wie zarte Schleier zu Sackleinwand, — mit Gleichmut hüllen wir uns eine Zeitlang in unsere Rhein- und Donaunebel und denken „die Sonne sieht nachher wieder um so schöner aus.“ Ein stets blauer Himmel, eine ewig blitzende Sonne, wie in Spanien, kein Deutscher könnte sie ertragen. Wir haben durchaus die Poesie der Wolken nötig, in welche sich unser Firmament bald so, bald so alle Tage mit einem andern Kostüm vermummt, ohne doch wie im Lande der Hyperboräer für immer in eine Nebelkappe gehüllt, gleich einem alten Greise dazusitzen.

Der schroffe, unzugängliche Engländer hat auf seiner rund vom Meere umwogten Insel außer sich selbst keinen einzigen Nachbar. Der Franzose hat nur zweierlei Nachbarn, romanische und deutsche. Wir Deutschen aber haben fast alle Europäer zu Nachbarn, germanische, romanische, slawische aller Art, ja sogar auch walachische und türkische. Mit den Slawen im Osten, mit den Russen, Polen, Böhmen, Serben, Kroaten — ja wer nennt diese Rassen alle! sind und waren wir in Freundschaft und Feindschaft vermischt. Die Italiener haben, wenn auch wider Willen, in unsere Gemeinschaft treten müssen, mit den Franzosen im Westen haben wir leider! nur zu sehr fraternisiert, und im Norden haben wir uns an Holländer und Normannen angeschlossen. Es ist keine dieser Nationen, deren Sprache und Sitten nicht entweder in ganz Deutschland oder doch in einem Teile desselben verstanden würde, und sie können alle zu uns kommen und irgend eine Gegend bei uns finden, in der sie sich fast wie zu Hause fühlen mögen. Wir haben daher Gelegenheit, alle europäischen Nationen ganz aus der Nähe zu beobachten und das Gute von ihnen anzunehmen. Daher sympathisieren wir auch am Rhein mit den Franzosen, an der Donau mit den Türken, an der Nordsee mit den Engländern, an der Ostsee hie und da sogar noch mit den Russen, — rühmen uns aber zugleich auch allen Nationen gegenüber irgend einer guten Eigenschaft, die sie nicht haben. Dem englischen Stolz setzen wir Duldsamkeit entgegen, dem französischen Leichtsinn gegenüber rühmen wir uns der langsamen Bedächtigkeit, — der italienischen glühenden Rach- und Eifersucht gegenüber zeigen wir Versöhnlichkeit und Ruhe, und dem slawischen gewalttätigen Despotismus Rechtssinn und Treue.

Alle religiösen und politischen Systeme Europas ragen mit ihren äußersten Zipfeln und Ausläufern in Deutschland herein, so das konstitutionelle System Frankreichs und Englands, das bei uns so viele Anhänger findet, so die Unumschränktheit des Ostens, die bis ins Herz von Deutschland vorgeht, obschon sie hier (wie die österreichische Regierung beweist) unendlich vielfach gemildert ist, ebenso wie die oft zügellose, zwischen republikanischer Ausgelassenheit und straffem Soldatenregiment schwankende Freiheit des Westens bei uns gemäßigt und gezügelt wird. Der poetische Katholizismus hat seine Basis in Italien und ragt bis tief nach Deutschland hinauf, sowie der kühle Protestantismus, der im Norden seine Quelle hat, bis tief nach Deutschland hinabgeht.

Reist man von Russland nach Deutschland, so glaubt man im Lande der Freiheit zu landen, geht man von Frankreich her über die Grenze, so ist es einem zu Mut, als sei man von dem Gipfel eines im Innern stets drohenden, unheilbrütenden Kraters auf den Boden der Ordnung, Ruhe und Sicherheit gekommen. Naht man sich von Belgien, so freuet man sich, der bigotten, finsteren Menschengesichter los zu sein, und lobt im Stillen deutsche Aufklärung und Schulbildung, Offenheit und Freimütigkeit. Verlässt man Italien, so dankt man Gott, nun mit gutmütigen und ehrlichen Leuten zu verkehren, und hat man Ungarn im Rücken gelassen, so ist man herzlich froh, das Land der Mitte zu erreichen, in welchem auch so viele ungarische Steine des Anstoßes sich wegpolieren, so viele Knoten ihre Auflösung finden.

Wie alle europäische Kriege ihre endliche Lösung und Entscheidung in Deutschland gefunden haben, so ist auch andrerseits wieder die Ruhe und der Frieden Europas durch die Haltung Deutschlands bedingt. Unser Vaterland ist das Herz Europas, und darum das Herz der Welt; alle tieferen Lebenssäfte des Geistes und Gemütes gehen von diesem Lebensmittelpunkte aus und in denselben wieder zurück. Wie Deutschland die Bildung aller Länder und Zonen, Kunst und Wissenschaft aller Völker in sich aufnimmt und verarbeitet, so geht von seinem Geiste, wenn auch oft unmerklich und unsichtbar, der innere Bildungstrieb über die ganze Erde, gleich einem befruchtenden Tau und Regen. Sollte einst dieses Herz Europas krank werden und dahin siechen, dann wäre es auch mit der europäischen Bildung vorbei. Daraus folgt aber auch, dass der Deutsche seine Freiheit nicht verlieren kann, wofern er nur sich nicht selber verliert. Was ihm aber vor Allem nottut, ist Vertrauen zur eigenen Kraft, die mit Gottes Hilfe schon so Großes geleistet hat und noch Größeres leisten wird, — Kenntnis der eigenen Mittel und hohen Güter des Vaterlandes und Brudersinn, der um alle so mannigfaltigen Lebensrichtungen und Eigentümlichkeiten im lieben deutschen Vaterlande das Band der Einheit schlingt, und stark wird durch „vereinte Kraft“.

Bergen auf Rügen, Ansicht um 1611/15. Aus der Stralsunder Bilderhandschrift

Bergen auf Rügen, Ansicht um 1611/15. Aus der Stralsunder Bilderhandschrift

Schweriner See bei Vicheln

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Bernitt, Dorfkirche

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Gingst, St. Jacob-Kirche

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Parchim, Elde

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Penzlin, Stadt-See

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Ratzeburg, Altstadtinsel

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Rostock, Universität

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Das Großherzogliche Residenz-Schloss zu Schwerin

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Ehemaliges Rathaus von Stavenhagen mit Fritz-Reuter-Denkmal, heute als Fritz-Reuter-Literaturmuseum dem Dichter gewidmet

Ehemaliges Rathaus von Stavenhagen mit Fritz-Reuter-Denkmal, heute als Fritz-Reuter-Literaturmuseum dem Dichter gewidmet

Wismar, Wassertor

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Ostseebad Zingst, Dorfkirche

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Schwerin, Schloss 5

Schwerin, Schloss 5

Schwerin, Schloss 4

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Wolgast, Rathaus

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Aachen, Hauptpostamt

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Altenburg, Rathaus

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Bremen, Rathaus

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Brunshaupten (Kühlungsborn), Kurhaus

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Der Dom in Schwerin

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Nürnberg, Albrecht Dürer Haus

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Königswinter, Blick von Drachenfels auf die Drachenburg

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Friedrichroda - Kirche

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