§ 1. Einleitung.

Die beiden Volksepen spiegeln — ein notwendiges Ergebnis ihrer allmählichen Gestaltung — nur teilweise die kulturgeschichtlichen Verhältnisse der Zeit ihrer endgültigen Abfassung wieder (das Nibelungenlied also ungefähr die um das Jahr 1200, die Kudrun die um 1210). Wie bei den biblischen Gestalten eines Dürer und Holbein im 16., eines Uhde in unserem Jahrhundert, ist vielfach in den Epen nur die äußere Form dem Empfinden der eigenen Zeit angepasst, während die Charaktere und die durch sie bedingten Handlungen das Gepräge einer weit zurückliegenden Epoche aufweisen. Das Darstellungsvermögen der höfisch beeinflussten letzten Bearbeiter der Sagenstoffe hat die Spuren längst verschollener Kulturperioden nicht zu verwischen gewusst; und wie Rudimente früherer Bildungsstufen treten altertümliche Formen neben den neuen zu Tage.

So herrscht neben dem modernen Rittertum das der Völkerwanderung angehörende, ungefüge, wild- trotzige und todesmutige Reckentum, das z. B. im Vernichtungskampf der Nibelungen, unter anderem in einzelnen Zügen der Brautfahrt Günthers erscheint und dem Dienstverhältnis Siegfrieds zu Günther zu Grunde liegt. Ger und Schwert weisen wie die Ruderkunst der Helden auf die frühere Zeit hin. Nicht im kunstmäßigen Turnier, in den alten Waffenspielen, im Speer- und Steinwurf, im Sprung messen sich Brünhild und Günther. Wate und der wilde Hagen, der König von Irland in der K., Siegfrieds Mörder im N. sind typische Vertreter dieses Reckentums.


So oberflächlich wie das höfische Element haben auf die Gestaltung der Epen auch die kirchlichen Anschauungen des 11. und 12. Jahrhunderts gewirkt. Die von Laien, von den Spielleuten verbreiteten Epen sind frei von jener asketisch-hierarchischen Weltauffassung, die am Anfange des 13. Jahrhunderts in den Gestalten eines Innocenz III. († 1216), eines Konrad von Marburg († 1233), einer heiligen Elisabeth († 1238) ihren Höhepunkt erreichte. Der Grundgedanke des Nibelungenliedes, die unversöhnliche Rache Kriemhilds, steht in grellem Widerspruch mit der christlichen Forderung der Feindesliebe; und die zur Kirche schreitende Brünhild ist in ihrem Wesen noch völlig die von Hass und Groll durchbebte Walküre der nordischen Sage. Nur der Schauplatz hat sich verändert — die Münsterpforte ist an die Stelle des Rheinufers getreten. Bei Besprechung der einzelnen kulturgeschichtlichen Erscheinungen wird auf diese nebeneinander herlaufenden Kulturepochen einzugehen sein. N. bedeutet Nibelungenlied, K. Kudrun; die mit * versehenen Zahlen beziehen sich auf Strophen, die in den Ausgaben der Sammlung Göschen nicht aufgenommen sind. Für das N. wurde die Ausgabe von Bartsch (Leipzig 1879), für die K. die von Martin (Halle 1872) benützt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsches Leben im 12. Jahrhundert