Der Choleratumult in Saratow (Russland) 1892

Aus: Illustrierte Zeitung Nr. 2565. 27. August 1892.
Autor: Redaktion: Illustrierte Zeitung, Leipzig - Berlin, Erscheinungsjahr: 1892

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Cholera, Seuche, Saratow, Unwissenheit, Aberglauben,
Die wohlmeinenden Vorkehrungen, die beim Ausbruch der Cholera im Innern Russlands von Seiten der Regierung zur Verpflegung der Erkrankten wie zum Schutz gegen die böse Seuche getroffen wurden, rufen bei den unteren Schichten der Bevölkerung allenthalben sie törichte Widersetzlichkeit und Erbitterung hervor, die sich namentlich in den Städten längs der Wolga in heftigen Ausschreitungen, ja vielleicht sogar blutigen Gewalttaten Luft macht. Überall haben die Behörden nicht bloß den Kampf mit der schrecklichen Epidemie, sondern auch mit der Unwissenheit und Rohheit des von Ruhestörern aufgehetzten Volkes zu führen. Nachdem in Astrachan am 21. und 22. Juni 1892 der rasende Pöbel mehrere nach dem Hospital fahrende Sanitätswagen zertrümmert und hierauf das Cholerahospital erstürmt und in Brand gesteckt, die Kranken ins Freie geschleppt, die Krankenpfleger und Ärzte aber furchtbar gemisshandelt oder getötet hatte, wiederholten sich ähnliche Gräuelszenen auch in Zarizyn [Wolgograd, Stalingrad], Kamyschin, Saratow, Wolsk, Chawalynsk und anderen wolgaaufwärts gelegenen Städten.

In Saratow, wo unter der Menge ebenfalls alle jene albernen Gerüchte Glauben fanden, als ob die Ärzte die Cholera erfunden hätten und verbreiteten, die Polizei mit Gewalt Kranke und Gesunde in die Hospitäler bringe und daselbst niemand wiederhergestellt, sondern vielleicht sogar Lebende eingesargt würden, kam es am 28. Juni zu einem argen Tumult. Bereits um 8 Uhr morgens sammelten sich auf dem oberen Bazar und den umliegenden Straßen Volksgruppen an, die ihrer gehässigen Stimmung gegen die Polizei und die Ärzte Ausdruck geben. An einer dieser Gruppen fuhr ein Fremder vorüber, den man für einen Arzt hielt, vom Wagen riss und misshandelte; nicht besser erging es einem jungen Realschüler, der auf dem Weg zur Schule vorbeikam und die Menge zu beschwichtigen sowie den Bedrängten zu befreien suchte. Mit wildem Geschrei stürzte sich der Pöbel auf die beiden und schlug sie mit Steinen tot. Dann zog die immer zahlreicher werdende Rotte durch die Straßen der Stadt, drang in die Wohnungen des Polizeimeisters und mehrerer Ärzte ein und zertrümmerte alles, zerstörte eine in der Nähe gelegene Apotheke und wurde nur durch das energische Auftreten des Militärs an der Fortsetzung ihres Vernichtungswerkes gehindert. Eine andere Gruppe der Aufrührer hatte inzwischen ebenso vandalisch in dem Amtslokal des ersten Polizeibezirks gehaust und an den Polizeibeamten ihre Wut ausgelassen, mehrere des Weges kommende Krankenwagen zertrümmert und war hierauf in das Cholerahospital eingedrungen, wo man die dort liegenden Kranken aus den Betten riss und auf die Straße schaffte, das Wärterpersonal schlug und verfolgte und das Hospitalgebäude schließlich niederbrannte. Die mittlerweile anrückenden Soldaten suchten die Aufrührer auseinander zu treiben, wobei es in der Nähe des Kathedralplatzes zu einem ernsten Zusammenstoß kam. Die Volksmenge beantwortete die Aufforderung zum Auseinandergehen mit Steinwürfen, die einen Soldaten am Kopf verletzten; darauf wurde eine Salve aus zehn Gewehren abgegeben, die mehrere Ruhestörer verwundete und einen derselben tötete. Jetzt flüchtete die Menge, und nachdem einige der ärgsten Schreier verhaftet sowie die Plätze und Straßen mit Militär besetzt waren, unterbleiben weitere Ausschreitungen in der Stadt.

Unsere Abbildung zeigt einen anderen tumultuarischen Auftritt, der sich gleichfalls zu dieser Zeit bei Saratow, und zwar auf einem Wolgadampfer abspielte. Der Dampfer Niagara, welcher am 24. Juni Astrachan verließ, hatte als Passagiere hauptsächlich eine Anzahl Arbeiter an Bord, die sich an den Unruhen vom 21. und 22. Juni in Astrachan beteiligt hatten und von dort flüchteten. Unter diesen Arbeitern kamen mehrere Cholerafälle vor, von denen einige einen tödlichen Ausgang nahmen. Noch weitab von Saratow wurde die gelbe Choleraflagge gehisst, und der Kapitän ordnete an, das der Dampfer in größter Entfernung von Saratow vor Anker gehe. Dies wollten die Arbeiter aus Astrachan nicht dulden und forderten, dass der Dampfer direkt nach Saratow fahre, worauf der Kapitän einen ablehnenden Bescheid gab, auf dem er trotz des Tobens der Wütenden beharrte. Die Leute drangen nun in den Maschinenraum, nahmen den Maschinisten gefangen und bedrohten ihn mit dem Tode, wenn er die Dampfmaschine zum Stillstand zu bringen versuche. Glücklicherweise hatte es der Kapitän möglich gemacht, einen Matrosen rasch und unbemerkt in einem Boot nach Saratow zu schicken, um die Lage der Dinge zu melden. Demzufolge kam nach kurzer zeit ein Regierungsdampfer mit Militär aus Saratow und richtete an den Dampfer Niagara den Befehl, zu halten. Die erregte Arbeiterschar widersetzte sich indes der nochmaligen Aufforderung, worauf die Soldaten feuerten und die Aufrührer in die Kajüten flohen und sich dort verschanzten. Als der Dampfer hiernach hielt und das Militär an Bord nahm, wurden die Aufsässigen nach längerem Handgemenge überwältigt und gefesselt.

Russland, Cholera-Epidemie in Saratow

Russland, Cholera-Epidemie in Saratow

Russland 060. Auf der Wolga

Russland 060. Auf der Wolga

Russland 060. Eine Landestelle an der unteren Wolga

Russland 060. Eine Landestelle an der unteren Wolga

Russland 061. Saratow, Kathedrale

Russland 061. Saratow, Kathedrale

Russland 058. Das Bergufer der Wolga zwischen Saratow und Zarizyn

Russland 058. Das Bergufer der Wolga zwischen Saratow und Zarizyn