Das alte Zuchthaus von Sing-Sing

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Dr. Erwin Stranik, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sing-Sing, Staatsgefängnis, Zuchthaus, Tragödien, Todestrakt, Todesstrafe, Elektrischer Stuhl,
Eines der berühmtesten — freilich im negativen Sinne berühmtesten — Gebäude der Vereinigten Staaten von Nordamerika wird in kurzer Zeit abgetragen und durch einen Neubau ersetzt werden: es ist dies das beinahe hundert Jahre bestehende Hauptgebäude des bekanntesten Zuchthauses der Welt, von Sing-Sing. Unendliche Tragödien haben sich hier bereits abgespielt, viel Leid und wenig Freude haben in diesem Hause gewohnt.

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Das weltbekannte amerikanische Staatsgefängnis Sing-Sing im Staat New York, das niedergerissen und durch einen Neubau ersetzt wird, der den Anforderungen des modernen Strafvollzugs entspricht. Die Zellen in diesem hundert Jahre alten Gefängnis waren nur 2 1/2 Meter lang, 2 Meter hoch und etwa 1,20 Meter breit. Keine Fenster führten nach außen, und das einzige Licht fiel durch die schmalen Gitter in den stählernen Türen. Die Gefangenen schliefen auf Pritschen, die an der Wand heruntergeklappt wurden. Manchmal mussten zwei Gefangene eine solche Zelle teilen. Nun verschwindet endlich diese eines großen Volkes unwürdige Strafanstalt. (Atlantic)

45 Kilometer von New York entfernt, reizvoll am Ufer des Hudson gelegen, präsentiert sich die Sommerfrische Ossining in der malerischen Lieblichkeit einer amerikanischen Kleinstadt, die noch ländlichen Einschlag aufweist und vom modernen Fabrikleben nicht durchpulst wird. Nach Ossining fährt der Neuyorker auf Wochenende oder für längere Zeit zur Erholung, dort fühlt er sich wohl, denn er braucht weder die Annehmlichkeiten der Weltstadt zu vermissen noch auf irgend etwas zu verzichten, was ihm zur Entspannung seiner Nerven nötig ist. Zu all den Villen und kleinen Holzbauwerken mit den friedlichen, sorglos dreinblickenden Einwohnern stand bisher nur ein Gebäude in scharfem Gegensatz, das Haus Hunterstreet 345, eben das Gebäude von Sing-Sing, von dem man sich erzählt, dass früher, als dieser Komplex noch kein eigenes Elektrizitätswerk besaß, in den Zimmern von Ossining die Lichter verlöschten, wenn „drüben“ der elektrische Stuhl in Wirksamkeit trat.

Aber man darf nicht glauben, ganz Sing-Sing sei immer unter dem Zeichen jenes schrecklichen Todes gestanden. Im Gegenteil: wenn man diesen Riesenkomplex mit seinem alten Gefangenenhaus, den Wiesen, Gartenanlagen und Arbeitssälen betrat, dachte man eher, in eine landwirtschaftliche Kolonie geraten zu sein. Ein Zuchthaus? Der Himmel auf Erden ließe sich nicht besser einrichten — schien es, wenigstens von außen.

Seit dem Jahre 1914, wo für alle Sträflinge ein überaus humanes „Lebensgesetz“ erlassen wurde, verließen diese an Werktagen schon am frühen Morgen ihre Zellen. Wo man hinkam, bewegte sich alles frei und unbehindert. Breite Sonne drang durch große Fenster in alle Säle und Gänge. War es kühl, sorgten elektrische Heizkörper neuester Konstruktion für angenehme Temperatur. In den in den letzten Jahren geschaffenen Zubauten befanden sich nicht nur die Büros der Beamtenschaft, sondern auch ein Lesezimmer, ein Spielzimmer, Werkstätten aller Branchen, ja sogar ein Theater. Was der Gefangene einstmals in der Außenwelt war, durfte und sollte er auch hier sein: Schneider, Schuster, Tischler, Wäscher, Gärtner, Köche lebten in ihrem Metier. Drei Dollar pro Tag betrug die Pauschalentlohnung für Dienstleistung gleichgültig welcher Art. Im Gegensatz zu der europäischen Gepflogenheit, erst nach Verbüßung der Strafe dem nun aus dem Gefangenenhause wieder ins Leben Hinaustretenden das während seiner Haft verdiente Geld auszuhändigen, durften hier die Gefangenen über ihr Geld frei verfügen. Auch die Methode, sie in Unkenntnis aller Vorgänge der Tagesgeschichte zu lassen, hatte man hier schon längst aufgegeben. Ein Zeitungstand, bot stets die neuesten Blätter und Magazine feil, das Radio verkündete durch seinen Lautsprecher die jüngste politische Konstellation und die Ergebnisse aller internationalen Sportwettspiele. Dazwischen gab es Konzerte, Jazz und ernste Musik. Auf diese Weise suchte die Anstaltsleitung zu verhindern, dass die hier kasernierten Leute von ihrem früheren Niveau noch herabsanken, ja, es gelang ihr bisweilen, dieses bei einzelnen Sträflingen sogar noch zu heben, denn man hielt hier auch eine eigene Schule, in der höher gebildete Gefangene minder gebildete unterrichteten. Außerdem wollte man dadurch, dass man den Aufenthalt in Sing-Sing den Leuten erträglich gestaltete, Ausbrechversuche und unnützes Blutvergießen verhindern. Denn die Wächter, die sich anscheinend ganz bescheiden im Hintergründe hielten, passten doch sehr scharf auf und hatten Befehl, sofort zu schießen, wenn es einem Gefangenen einfiele, entfliehen zu wollen.

In einem anderen Trakt wurde für Unterhaltung gesorgt. Einmal wöchentlich veranstaltete man einen Filmabend, bisweilen auch eine Varietévorstellung. Theater spielte man nur selten, aber Balletttänze gingen mehrmals des Jahres in Szene. Und einmal im Fasching gab es den „großen Ball der Gefangenen von Sing-Sing“, der einen Höhepunkt der Saison bildete und zu dem von weit und breit Gäste — allerdings nur als Zuschauer — herbeieilten. Ein Platz auf der Galerie kostete einen Dollar. Beinahe immer war man ausverkauft.

Zwischendurch machte man auch Gottesdienst, denn der Amerikaner bildet sich ein, fromm zu sein. Und konnte er nicht, auf das Glaubensbekenntnis jedes einzelnen Rücksicht nehmen, so befahl er des Sonntags einfach alle Gefangenen zu einem „überkonfessionellen“ Gottesdienst und befriedigte damit sein Gewissen.

Hatte einer der Sträflinge sein Tagewerk vollbracht, so durfte er sich, gemäß den jüngst getroffenen Erleichterungsvorschriften, ein wenig auf eigene Faust vergnügen, konnte musizieren, schreiben, lernen, Fußball spielen — was er wollte. Bis zum Abendessen. Nach diesem freilich war die Freiheit wieder für eine Nacht zu Ende. Dann mussten die Sträflinge in ihre kleinen Zellen, eben in jenes Gebäude, das nun abgerissen wird. Diese Zellen standen im scharfen Gegensatz zu den sonstigen Humanitären Einrichtungen Sing-Sings. Sie waren bloß 2,5 Meter lang, 2 Meter hoch und etwa 1,2 Meter breit. Keine Fenster führten nach außen, und das einzige Licht, das sie hatten, fiel durch die schmalen Gitter in den stählernen Türen. Die Gefangenen schliefen auf Pritschen, die an der Wand heruntergeklappt wurden. Manchmal wurden zwei Gefangene in einer solchen Zelle untergebracht. Bis 1914 mussten die Sträflinge beinahe den ganzen Tag in diesen engen, dumpfigen Löchern verbringen und wurden nur einmal für kurze Zeit herausgelassen. Am Sonntag gab es überhaupt keinen „Ausgang“, und fiel auf den Montag auch ein Feiertag, so mussten sie von Samstagmittag bis Dienstag in den Zellen zubringen. 1914 wurde dann endlich der Versuch einer neuen Belüftung durchgeführt, und der letzte Gefängnisdirektor befreite die Gefangenen aus der Qual dieser Behausungen dadurch am radikalsten, dass er sie den ganzen Tag über in andern Räumen unterbrachte und die Sträflinge nur noch des Nachts in ihre Zellen eingepfercht wurden. Trotz all dieser Nachteile verrieten die einzelnen Zellen aber doch die Wesensart ihrer Insassen: denn die Sträflinge schmückten die Wände mit allerlei Bildern, und ganz im Anfang, als das Zuchthaus gebaut worden war, hatte sich ein Journalist, der einmal im Handgemenge einen Mann getötet und hierher zu lebenslänglicher Gefängnishaft gekommen war, von einem Freunde einen Vogel schenken lassen und das Bauer in seiner Zelle aufgehängt. Man erlaubte ihm, das Tier zu behalten, später ließ er sich noch andere Vögel schicken — so entstand der Name Sing-Sing von jenen Singvögeln, die des Unglücklichen einzige Zerstreuung während der Haft bildeten.

Und neben diesem Sing-Sing bleibt noch jenes andere zu erwähnen, das Deathhouse — die Todesstätte, bei deren Betreten alle Erinnerung an die Milde gegenüber den „nur“ zu langer Kerkerstrafe Verurteilten sofort vergessen ist! — Dieser Pavillon lag bisher abseits im Garten, zu beiden Seiten des schweren Eingangstores hatte man Bäume gepflanzt. Primitiv war alles, was sich in diesem Bau befand. Nur ein kleiner Vorraum, dann folgte bereits das Zimmer, in dem die Urteile vollzogen wurden. Keine Seitenfenster, nur Oberlicht. An den Wänden die Aufschrift „Silence“ (Schweigen). Eine Heizanlage, ein Waschtisch, ein elektrischer Schalter für den Hochfrequenzstrom. Türen ringsherum aus den Zellen, in einer Ecke vier Holzbänke für die Zeugen der Exekution: den Direktor von Sing-Sing, die Anwälte, den Arzt.

In der Mitte des Raumes: der elektrische Stuhl. Er sah aus wie ein bereits sehr abgenutzter Schreibtischsessel. Hatte bequeme Armlehnen. Aber Gurte hingen herab und allerlei Drähte. Furchtbar zu denken, dass die Menschen hier angeschnallt werden mussten, weil die meisten sich bäumten vor wahnsinniger Todesangst. Und doch trat der elektrische Stuhl immer wieder in Aktion. Zehn Menschen durchschnittlich im Jahre wurden hier hingerichtet. Seit Bestand des Zuchthauses gab es da schon über 250 Leichen. Der bekannteste Scharfrichter von Sing-Sing, Johann Hulbert, hatte allein 140 Personen während seiner zwölfjährigen Dienstzeit hingerichtet. Für jede Exekution waren ihm 150 Dollar ausbezahlt worden. 1926 schied er aus seinem Amte, im Februar 1929 wurde er im Keller seines Hauses erschossen aufgefunden. Während man anfänglich glaubte, dass ein Verwandter eines Delinquenten ihn ermordet habe, stellte sich später heraus, dass er aus tiefer seelischer Depression selbst seinem Leben ein Ende gemacht hatte. Aber als er den elektrischen Stuhl nicht mehr bediente, meldeten sich sofort neue Bewerber. Selbst das Töten auf diese Art schreckt also die Menschen nicht ab.

Überhaupt, welch furchtbare Grausamkeit wurde hier bisher den zum Tode Verurteilten gegenüber angewendet, wem einmal das Schicksalswort gesprochen war, der musste in dieses Haus, in eine der hier liegenden Zellen, die — ein breites Bett und ein Zimmerklosett aufwiesen. Aber kein noch Lebender (mit Ausnahme des Aufsehers) durfte mehr zu ihm. Nicht Priester, nicht Anwalt, nicht Verwandte hatten mehr das Recht, den zum Tode Verurteilten zu sehen. Ehe er wirklich begraben wurde, begrub man ihn bereits lebendig. In der Nacht vor der Hinrichtung bekam er eine neue Zelle. Die lag nun unmittelbar neben dem Exekutionsraum. Hier wurde er geschoren, damit der elektrische Strom „besser angreife“. Aber er hörte nichts, wenn seine Schicksalsgenossen bereits vor ihm ins Jenseits befördert wurden. Er konnte nur in unsäglicher Angst und Pein zittern, bis seine Stunde schlug. Unausdenkbar, was diese Menschen in ihren letzten Minuten leiden mussten!

War der Delinquent tot, brachte man die Leiche in ein Nebenzimmer, wo ihr die Ärzte zu Studienzwecken das Gehirn entnahmen. Wünschten die Verwandten den Toten zu eigenem Begräbnis, so konnten sie ihn am nächsten Morgen abholen, sonst wurde die Leiche auf Gefängniskosten bestattet.

So offenbarte sich der große Gegensatz: einerseits Mitleid in den durchgeführten Reformen zugunsten der nur mit Gefängnisstrafe Bedachten, die mit dem Jahre 1914 begannen und die jetzt durch den Bau eines neuen Gefangenenhauses ihren vorläufigen Abschluss finden sollen, anderseits grausamste Brutalität, die für den zum Tode Verurteilten nicht einen Funken Milde mehr aufzubringen für nötig hielt. Freilich, wer zum Tode verurteilt wurde, tat selber eine furchtbare Tat. Und es bleibt zu bedenken, dass man kaum in Sing-Sing einen sieht, dessen Gesicht nicht die typische Verbrecherphysiognomie aufweist. Über fünfzehnhundert sind hier, davon gegen dreihundert Schwarze. Weiß und Schwarz bildet im Zuchthaus keinen Unterschied.

Was bildet überhaupt noch einen Unterschied im Angesicht des Todes? Man schaudert, wenn man Sing-Sing wieder verlässt, und fühlt sich erst befreit, wenn einen der Trubel New Yorks neuerlich umfängt.

Das weltbekannte amerikanische Staatsgefängnis Sing-Sing im Staat New York

Das weltbekannte amerikanische Staatsgefängnis Sing-Sing im Staat New York