Die Windstille. - Es war im September des Jahres 1844, als eine englische Brigg, nach Singapur bestimmt und von Sidney kommend, ...



Es war im September des Jahres 184–, als eine englische Brigg, nach Singapur bestimmt und von Sidney kommend, gegen einen leichten Nord an der australischen Küste aufkreuzte, um in die nördlich vom australischen Festland liegende Torresstraße einzulaufen und dadurch den weiten Weg um Neuholland herum abzuschneiden.


In dieser Jahreszeit war die Straße auch noch am leichtesten zu passieren, jedoch gehörte immer große Umsicht des Kapitäns dazu, da diese so genannten barrier reefs nur eine Reihe bis zur Oberfläche der See emporragender Korallenfelsen sind und wenig tiefe Eingänge haben. Ein Fahrzeug, das, mit diesen Klippen in Lee, von einem Oststurm überrascht wird, darf deshalb kaum hoffen zu entkommen.

Zahlreiche Schiffe sind auch schon an diesen barrier reefs gescheitert, an denen weder Bake noch Leuchtturm den Seemann vor der drohenden Gefahr warnt, aber der Zeitgewinn ist zu groß, den ein Segelschiff durch die Straße macht, und jährlich wagen deshalb eine Menge Kapitäne den Versuch.

Erst einmal innerhalb der Riffe angelangt, ist auch in der Tat die größte Gefahr überstanden; denn sollte sich dann wirklich noch ein Sturm erheben, so schützen diese Klippen, die es draußen bedrohten, das Schiff vor einer hohen See, und die Koralle bietet dabei fast überall von fünf zu zehn Faden guten und festen Ankergrund.

Die Torresstrait liegt außerdem an der Grenze der Sturmregion, denn zwischen 10 Grad nördlicher oder südlicher Breite, also bis zum 10. Grad vom Äquator, erhebt sich der Wind nur höchst selten zu einem wirklichen Sturm. Jener Strich heißt deshalb auch die Zone der Windstillen, da solche hier viel mehr vorherrschend sind als heftige Winde.

Die Betsy Ann von Liverpool kreuzte deshalb, wie schon gesagt, mit allen Bramsegeln auf, um so viel als möglich Fortgang zu machen, nach Norden, und der Kapitän ging, als gegen Mittag der Wind völlig einzuschlafen drohte, mit auf den Rücken gelegten Händen auf seinem Verdeck auf und ab und pfiff leise vor sich hin.

Seeleute pfeifen ja immer bei Windstille, weil sie dadurch den Wind herbeizurufen glauben.

Um zwölf Uhr schlief die leise Brise jedoch vollständig ein, und als Kapitän und Steuermann an dem fast wolkenleeren Himmel ihre Observation genommen, lag die See funkelnd im Sonnenlicht in Spiegelglätte um sie her.

Windstille – es gibt nichts Schrecklicheres, Monotoneres in der Welt für ein Segelschiff als eine Windstille. Ja für den Dampfer ist es gerade die beste Zeit, denn so viel wirksamer arbeitet die Maschine und keine entgegenprallende Woge hemmt den Gang des Bootes. Aber schwerfällig träumend, rollend und schaukelnd schwankt das auf seine Segel und den Wind angewiesene Fahrzeug auf der metallblinkenden Fläche.

„Reepschläger prügelt sich mit dem Segelmacher“, sagen die Matrosen, wenn die schlaffen Taue gegen die Segel und diese wieder ihrerseits schwerfällig gegen die Masten schlagen. Herüber und hinüber schwankt das Schiff, und wenn dann noch manchmal ein leichter Regen oder ein starker Tau während der Nacht fällt, so peitschen sich die Segel so ab, dass man die weißen Flocken herumfliegen sehen kann. Drei Tage Windstille ruinieren auch in der Tat die Segel mehr, als vierzehn Tage scharfes Segeln, und beschlagen kann man sie trotzdem nicht, denn jeden Augenblick mag sich eine leichte Brise erheben, die dann unbenutzt vorübergehen würde – und das Schiff macht ohnedies keinen Fortgang.

Alles Pfeifen half nichts; der Wind blieb aus, und zwar so vollständig, dass der Mann am Steuer, der trotzdem seine Wache halten musste, ebenfalls einschlief, und nur dann und wann emporfuhr, wenn das durch eine Woge zur Seite gedrängte Ruder einen Ruck tat und die Griffspeichen ihn trafen.

Und es wurde Nacht – aber wie prachtvoll funkelte das Meer, das nicht allein die tausend Sterne widerspiegelte, sondern auch in Millionen Phosphorlichtern seinen eigenen Glanz entfaltete. Und wie geheimnisvoll sich das regte in der dunkeln Tiefe, wie blitzesschnell einzelne feurige Strahlen darin herüber- und hinüberschossen, wo ein größerer Fisch die Flut durchschnitt und in dem erregten Wasser einen Glutenstrom zurückließ. Und was für ein wunderbares, grün schillerndes Licht die weichen, eklen Quallen warfen, die wie atmende Blasen bald auftauchten, bald wieder langsam in die Tiefe sanken.

Weiter hinaus, wo die innere Bewegung nicht sichtbar war, blieb das Meer dunkel, aber plötzlich loderte es ordentlich empor, wie in einem lichten Feuerschein, als ein Walfisch oder Cajelot vielleicht sich aus der Tiefe emporschnellte und wieder zurückfallend auf das Wasser schlug, dass es wie Garbenlichter bei einem Feuerwerk auf- und auseinander spritzte.

Fast alle Mann an Bord lehnten an der Schanzkleidung und blickten auf das wunderbare Schauspiel hinaus; denn wenn sie das Leuchten des Meeres auch schon oft gesehen hatten, geschieht es doch nur sehr selten und unter besonders günstigen Verhältnissen, dass es sich in solcher Pracht dem Auge zeigt.

Aber endlich ermüdeten sie auch – die nicht auf Wache Befindlichen drückten sich in ihre Kojen, und die Wache selber lehnte schläfrig an Deck herum. Weshalb hätten sie auch munter bleiben sollen; Gefahr war wahrlich nicht zu fürchten.

So verging die Nacht, und im Osten färbte sich der Himmel lichtgrau – kaum zehn Minuten später zeigten die Nebelschichten dort drüben schon einen rosigen Rand, und ehe es noch völlig hell geworden war, stieg der obere Rand der Sonnenscheibe glühend über den Horizont herauf und goss Licht und frisches Leben in die Welt.

Aber trotzdem regte sich noch kein Lüftchen, und wie still sie indessen auf dem Meere gelegen, zeigte sich erst jetzt.

Gestern Abend, nach Dunkelwerden, hatte der Steward noch eine Kiste Wein ausgepackt und erst das Stroh und nachher die Kiste über Bord geworfen, und dort draußen, kaum zweihundert Schritt von dem Schiff entfernt, trieben noch Stroh und Kiste auf der wie öligen Flut, während ein paar Möwen schläfrig darumher kreuzten und dann in der Nähe auf die See auffielen, um die einzeln umherschwimmenden Strohteile zu untersuchen, ob sich nicht etwas Genießbares darunter fände.

Selbst die Möwen fühlen die erdrückende Monotonie einer solchen Zeit, und wie sie sonst, mit scharfem Flügelschlag dem wildesten Sturm trotzig in die Zähne, über den nach ihnen aufspritzenden Wogen kreisen, so faul und lässig zeigen sie sich während einer Windstille, dass sie den halben Tag oft auf dem Wasser schlafen.

Und wie wunderlich das Meer rings um das Schiff herum aussah – dort drüben schwamm die Kiste mit dem Stroh daneben, als ob der Steward den Wein dort an der Oberfläche des Wassers ausgepackt hätte; hier trieben Kohl- und Krautblätter herum, die der Koch hinausgeworfen, dort Flocken Werg oder Papier, und dort drüben sogar ein alter Strohhut mit halbem Rand, der ausgedient hatte und seinem Schicksal auf den Wellen überlassen war.

„Ein Hai!“, sagte der Mann am Steuer, der, wie es schien, eben zufällig erwacht war, und als er den Blick umherwarf, die scharfe dunkle Rückenflosse eines der tückischen Meerungeheuer entdeckte, das nach oben gekommen war, um die für ihn ausgestreuten Herrlichkeiten zu untersuchen. Misstrauisch schwamm er dort drüben um die Kiste herum und griff nach den Strohhalmen, glitt dann auf den Hut zu und legte sich schläfrig auf die Seite, um ihn fassen zu können, ließ ihn aber gleich wieder los und verzehrte dann von Kraut- und Kohlblättern, wie sonstigen Küchenresten, was er eben vorfand. Ein Hai kann alles brauchen.

Das aber brachte Leben in die Mannschaft, denn es war die einzige Unterhaltung, die ihnen ja von außenher geboten wurde. Der zweite Steuermann stieg rasch in die Kajüte hinunter, um einen Haken heraufzuholen, der Steward besorgte indessen freigebig ein Stück Speck, und an ein ziemlich starkes Tau geschlagen, das in dem klaren Seewasser ordentlich einen Regenbogenrand bekam, trieb der Haken bald darauf, von dem leichten Speck etwas gehoben, hinter dem Schiff aus, um die Zeit abzuwarten, bis der Hai seine Revision beendet haben und dann das Schiff jedenfalls auch besuchen würde.

Deutlich konnten sie dabei an der dreieckigen Rückenflosse erkennen, wo er sich befand, wie er bald da-, bald dorthinüber glitt, aber immer langsam, immer faul, denn was er hier im Wasser fand, lief ihm ja nicht fort; es schwamm und trieb so träge umher wie er selber.

Jetzt wandte er sich gegen das Schiff, das ihm gerade mit dem Bug zugekehrt lag, und deutlich konnten die Leute an Bord erkennen, wie zwei Lotsenfische, kleine gestreifte reizende Dinger, vor ihm herstrichen und nach rechts und links alles genau untersuchten, was etwa auf dem Wasser trieb. Sie kreuzten ihm dabei ein paar Mal dicht vor dem Rachen auf und ab, aber er machte nie auch nur einen Versuch, nach ihnen zu schnappen, so gierig und gefräßig er auch sonst sich zeigt. Ob er wusste, dass sie ihm zu schnell waren? – Aber er selber ist so rasch in seinen Bewegungen, wenn er will, dass er sogar den Delphin einholt – Ob sie ihm wirklich dazu dienten, seinen Raub anzuzeigen? – Wer weiß es; es ist das noch eins von den unergründeten Geheimnissen der Tiefe, von welchen der Mensch viel zu wenig zu sehen bekommt, um sich ein bestimmtes Urteil darüber anzumaßen.

Genug, die Lotsenfische sind da; sie begleiten den Hai, wohin er geht, oft sechs oder sieben derselben zu gleicher Zeit, und man hat beobachtet, dass sie zurück zu ihm schwimmen, wenn sie irgendeinen Gegenstand finden, der zu groß für sie ist. Welchen Nutzen sie aber dabei haben können, wenn er den Bissen verschlingt, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben.

Am Bug trieb sich der Hai eine Weile umher, und oben von der Back aus konnten die Leute deutlich das grünschillernde Ungeheuer mit den kleinen tückisch blitzenden Augen in der Kristallflut erkennen, wie es behaglich in seinem Element dahinruderte, und lässig bald nach rechts, bald nach links hinübersteuerte.

Die kleinen Lotsenfische waren indes verschwunden, aber bald da, bald dort aufgetaucht, und einer von ihnen musste auch wohl den am Ruder ausgehangenen Brocken gefunden haben, denn er stellte sich bald darauf wieder bei seinem gefräßigen Begleiter ein, und dieser schwamm jetzt langsam zu Larbord des Schiffes nach hinten, wo ihm der weiß und silbern blitzende Speck nicht entgehen konnte. Aber er war auch hier nicht in Eile. Ob ihm das Tau daran nicht gefiel? Er roch daran, drehte sich dann um und schwamm fort; aber der Bissen war doch zu delikat, um ihn so ganz ohne weiteres aufzugeben. Er kehrte zurück, und da er jetzt von der andern Seite kam, wo ihm das Tau nicht im Wege hing, drehte er sich bald auf die Seite, öffnete faul den breiten Rachen und – weg war der Speck.

„Haul on board!“, rief der Kapitän, der selber mit besonderem Interesse die faulen Bewegungen des Fisches beobachtet hatte, während der Steuermann das Tau, das aber mit seinem Ende wohl befestigt war, in der Hand hielt, und die umstehenden Matrosen genau aufpassten, dass sie nicht, bei einem plötzlichen Fluchtversuch des Hais, mit den Füßen in das Tau gerieten, denn gar nicht selten ist schon dadurch ein Unglück geschehen.

Das Tau wurde angezogen und der Fisch fühlte den Haken. Eine solche Gewalt hat aber das Ungetüm im eigenen Element, wo es seiner freien Bewegungen noch nicht beraubt ist, dass der Hai den neun das Tau haltenden Männern dieses, wie von Dampfkraft getrieben, aus der Hand riss, dass sie kaum schnell genug loslassen konnten, und es dann anspannte, dass es klang. – Aber es hielt und der Haken saß, und jedes andere lebende Wesen, wie gerade ein Fisch, wäre durch den furchtbaren Ruck selber bewusstlos geworden – nicht so der Hai. Er fühlte, er könne nicht fort, und während ihm der mit seinen Riemen ausgehaltene Stoß nicht die geringste Unbequemlichkeit zu verursachen schien, schoss er jetzt, so weit ihn das Tau ließ, herüber und hinüber und peitschte mit seinem Schwanz die Flut zu Schaum.

Aber er kam nicht mehr los; die jubelnden Matrosen ließen ihn noch eine Weile hin- und herarbeiten, bis selbst seine Kräfte nachließen, dann zogen sie langsam und allmählich das Tau an, aber dabei immer noch vorsichtig einen Rundschlag um die Pinnen nehmend, bis sie an einer der Pardunen einen Block befestigt hatten, durch diesen das jetzt freie Ende brachten, rasch nachholten und nun mit einem lauten „Oh jolly men, hoy!“ den Fisch gewaltsam aus seinem Element herauf und zum Schwingen brachten. Jetzt hatte er seine Kraft verloren, das Gewicht wurde leicht bewältigt, und wenige Minuten später lag er, mit einer durch den Rachen gestoßenen Handspeiche, auf Deck, wo ihm der Koch rasch mit einem schon bereitgehaltenen Beil den Schwanz einhackte und abschlug.

Noch waren die Matrosen damit beschäftigt, dem nun getöteten Hai teils das Rückgrat auszulösen, das sie zu Spazierstöcken verarbeiten, teils die mit den vielfachen Zahnreihen bewehrten Kinnladen auszuschneiden und auch wohl Stücke der rauen Haut – das beste Chagrain – abzutrennen, als sie der Ruf des Kapitäns davon abstehen machte.

Im Süden, wo bis jetzt ein düsterer Nebel gelagert hatte, wurde ein breiter dunkler Wolkensaum sichtbar, der rasch höher und höher stieg. Dort kam eine Brise auf, und zwar gerade daher, von wo man sie am besten brauchen konnte, und es war deshalb nötig, die Vorbereitungen dazu zu treffen.

Die Rahen waren allerdings schon vierkant gebrasst, und das Schiff lag auch noch halbwegs seinen Kurs, sodass man die Brise fangen konnte. Aber niemand wusste, wie stark sie plötzlich ausbrechen konnte, und die leichten Segel mussten deshalb eingenommen werden. Die aufsteigende Wolke sah düster genug dazu aus, und jetzt zuckte es sogar wie Wetterleuchten darin auf.

Befehl folgte nun auf Befehl, rasch und hastig und ebenso ausgeführt. Die Bramsegel wurden geborgen; die Schoten des großen Segels, die aufgegeit hingen, blieben vor der Hand noch so; die Marsrahen wurden niedergelassen und die Marssegel gerefft – der Außenklüver war lange eingeholt, und auf Deck umher, um und über den toten Hai hin, lagen wild zerstreut und unordentlich die abgeworfenen Falle.

Und jetzt kam sie heran – dunkelblau, fast schwarz färbte sich das Wasser, wo es der Wind zuerst fasste und zu kleinen, winzigen Wellen emporkräuselte –, immer näher kam es, immer rascher, und nun blähten die Segel auf; unter dem Bug schäumte die Flut, und das Schiff gehorchte zum ersten Mal wieder dem Steuer.

Der erste Anprall des Windes war auch ein ziemlich heftiger, und die schlanke Brigg neigte sich unter dem Druck desselben auf die Seite; Blitz und Donner folgten bald danach und der Regen goss in Strömen nieder. Wie aber das eigentliche Gewitter erst vorübergestürmt war, nahm auch die Brise eine festere und mehr stete Haltung an und wehte jetzt, ohne nachzulassen, als der Himmel wieder sein blaues Antlitz zeigte, unvermindert von Süden fort.

Gegen Abend noch ging die Betsy Ann, mit Leesegeln an beiden Seiten, vor dem Wind elf Knoten die Stunde ihre Bahn.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das Wrack des Piraten