Das Proletariat als nächster Gegenstand und Entstehungsgrund des Sozialismus, dessen Ursachen und unterscheidender Charakter

Aus: Vorlesung über Sozialismus und soziale Fragen
Autor: Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist und Professor für Philosophie, Erscheinungsjahr: 1847
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gesellschaft, Politik, Bildung, Philosophen, Sozialismus, Proletariat, Sozialdemokrat,
Die nächste und dringendste Veranlassung zum Entstehen des Sozialismus ist jedenfalls die in neuerer Zeit überall immer mehr überhandnehmende Not und Verarmung einer ganzen großen Klasse der Gesellschaft gewesen. Es wird daher wohl das Zweckmäßigste sein, wenn ich mit der Betrachtung dieser Erscheinung beginne und erst von da zu den andern, höher und ferner liegenden Aufgaben des Sozialismus hinaufsteige.

Man bezeichnet die Erscheinung, von der ich jetzt sprechen will, gewöhnlich mit dem Namen des Pauperismus oder des Proletariats *). Was ist das Proletariat? welches ist sein Charakter? welches sind seine Ursachen? wie unterscheidet es sich von andern Erscheinungen ähnlicher Art?

*) Der Name Proletarier stammt aus der Geschichte des römischen Staats. Dort nannte man nämlich diejenige Klasse der Bürger, welche zu arm war, um Steuern zu zahlen oder sonst Etwas zu den Staatslasten beizutragen, Proletarier, weil sie dem Staate bloß durch ihre Kinder (prole sua) nützten. Damals war nämlich eine starke Nachkommenschaft, insbesondere eine männliche, ein Verdienst um den Staat, der viel Arme, namentlich für seine Kriege, brauchte, demgemäß eine Ehre und ein Glück für die Eltern. Jetzt ist leider der Besitz von viel Kindern eine Last und ein Unglück für den Proletarier, und man möchte daher diesen Namen heutzutage lieber so auslegen: Proletarier ist Einer, der viel Kinder, aber sonst Nichts und weder für sich noch für diese hinreichend zu leben hat.

Armut, Not, Elend hat es fast zu allen Zeiten, auf allen Kulturstufen gegeben, etwa die allerfrühesten ausgenommen. In der klassischen Zeit, im Mittelalter, in den Anfängen der Neuzeit, immer gab es eine Klasse von Armen, immer gab es von Zeit zu Zeit einen förmlichen, mehr oder weniger weit ausgedehnten Notstand, gab es Zeiten der Hungersnot, zum Teil in noch höherem Grade, als wir sie jetzt kennen.

Allein, was jene Erscheinungsformen der Not und Verarmung von dieser neusten, die wir mit dem Namen Pauperismus zu bezeichnen pflegen, wesentlich unterscheidet, ist Dies, dass jene teils nur vorübergehend und von zufälligen Ursachen, z. B. einer missratenen Ernte oder der Verheerung eines Landes durch Krieg, bedingt, teils die Folge unvollkommener politischer Zustände, einer rechtswidrigen Unterdrückung und Brandschatzung der Schwächeren durch die Stärkeren waren. Der Pauperismus dagegen, wie er in neuester Zeit und namentlich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts beinahe in allen kultivierten, ganz besonders aber in den vorzugsweise Gewerbe und Handel treibenden Ländern sich entwickelt und in furchtbarer Progression fort und fort gesteigert hat, dieser Pauperismus ist keine vereinzelte, hier und dort einmal auftauchende, aber bald wieder verschwindende oder doch leicht zu beseitigende Erscheinung, er ist vielmehr ein bleibendes, ein allgemeines, ein massenhaft auftretendes Übel, und, was das Schlimmste ist, er scheint mit dem Wesen unserer Kulturentwicklung und namentlich unsres gewerblichen Fortschritts so fest verwachsen, dass jede Steigerung dieses Fortschritts, jeder neue Schritt, den wir auf der Bahn der Zivilisation vorwärts tun, auch die Macht und den Umfang jenes Übels verstärkt. Der Pauperismus heftet sich wie ein furchtbares Gespenst an die Sohlen der Zivilisation, er zerstört mit seinem Gifthauch die schönsten Blüten derselben oder raubt ihnen doch Farbe und Duft, macht den Menschengeist irre an sich selbst, indem er die Siege, die dieser auf der Bahn der Kulturentwicklung erringt, in Trauer- und Jammerszenen für einen ganzen großen Teil der Menschheit verwandelt, und erstickt die Begeisterung des Menschenfreundes über die stete Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Gesellschaft unter der stummen Verzweiflung über die Mängel der menschlichen Natur und aller menschlichen Einrichtungen, Mängel, welche jeder wahren Vervollkommnung zu spotten scheinen.

Das eben ist das Eigentümliche des modernen Pauperismus, dass, wie durch eine grausame Ironie des Schicksals, alle die Mittel, die man anwendet, um durch Entwickelung der menschlichen Kräfte, durch Benutzung aller Hilfsquellen der Natur die Menschheit auf eine höhere Stufe von Vollkommenheit und Glückseligkeit zu erheben, dass alle diese Mittel mehr oder weniger zu Übeln für einen großen Teil der Menschen werden. Das ist’s, was den Pauperismus zu einer so gefahrdrohenden Erscheinung macht und der Frage desselben eine ganz andere Bedeutung gibt, als die einer bloßen Linderung oder Beseitigung vorübergehender Not.

Um das Wesen und die Wirkungen des Pauperismus oder des Proletariats recht kennen zu lernen, müssen wir auf dessen Ursachen zurückgehen. Diese sind hauptsächlich von dreierlei Art. Zuerst eine physische: das Missverhältnis, in welchem die vorhandenen natürlichen Quellen und Mittel der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, namentlich der ersten Lebensbedürfnisse, zu der vorhandenen Menschenmenge stehen, mit andern Worten: die sogenannte Übervölkerung. Zweitens eine ökonomische oder im eigentlichen Sinne soziale, nämlich die ungleiche Verteilung der Arbeiten und Genüsse. Drittens endlich eine politische, nämlich das Missverhältnis, welches zwischen der rechtlichen Freiheit und Gleichstellung der untern Klassen mit den oberen, und ihrer ökonomischen Unfreiheit und gänzlichen Abhängigkeit von diesen letzteren stattfindet, ein Missverhältnis, welches zwar die unglückliche Lage der ärmeren Klassen oder der sogenannten Proletarier nicht direkt verschlimmert, wohl aber das peinigende Gefühl derselben, schärft, indem es die Proletarier zu vergleichenden Betrachtungen auffordert über ihre Lage und die der andern Klassen, über ihre scheinbare Gleichstellung mit jenen vor dem Gesetz, und zugleich über die große Ungleichheit, die in der Wirklichkeit zwischen den Reichen und den Armen, den Besitzenden und den Mittellosen besteht.

Ich will jetzt versuchen, jedes dieser drei Momente näher zu entwickeln.

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie

Biedermann, Friedrich Karl (1812-1901) Politiker, Publizist, Professor für Philosophie