Das Armenkrankenhaus zu Heiligendamm.

Autor: Adolf Lange Dr. med., Erscheinungsjahr: 1887
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Heiligendamm, Seebad, Ostseebad, Kurbad, Armenkrankenhaus, Urlaub, Kur
Schon im Herbst 1845, als es mir an mir selbst gelang, einen verzweifelten Kampf mit einer schweren Zuckerharnruhr in dem damals noch Doberaner Seebad am heiligen Damm in unverhofft kurzer Zeit zum sichern, bis heute noch nicht wieder in Frage gestellten Abschluss zu bringen, lag es wohl nahe, dass ich nicht bloß eine hohe Meinung von der hygienischen Bedeutung dieses Seebades bekam, sondern auch den Wunsch festhielt, womöglich ihm näher zu treten. Wenige Jahre später ward dieser Wunsch durch meine Ernennung zum Badearzt erfüllt.
Schon in der ersten Saison ward ich darüber vollständig belehrt, wie wenig die praktische Medizin das Vertrauen teilte, welches ich selbst zu der Leistungsfähigkeit eines SOLCHEN Seebades gewonnen hatte. Die große Frequenz des Bades stand in keinem Verhältnis zu den geringen Kuraufgaben, welche ihm gestellt wurden.

Doch nichtsdestoweniger befestigte sich mein Vertrauen von Jahr zu Jahr mehr, und zwar vorzugsweise durch die Erfahrungen, welche ich in jeder Saison in dem meiner ärztlichen Leitung überwiesenen ARMENKRANKENHAUSE am heiligen Damm machen konnte; außerdem aber auch durch die Beobachtung der Erfolge an den, in der Tat mit ernsten Kurabsichten gekommenen, selbstständigen Kurgästen.
Das dankbarste Feld für Beobachtungen ernster Kuren im Seebad blieb natürlich das kleine Krankenhaus - ein i. J. 1810 gestiftetes Boarding-Haus für unbemittelte Kurgäste, welches in seinen knapp bemessenen Räumen nach seiner Reorganisation im Jahre 1852 schließlich doch den NOTWENDIGSTEN Platz zum gleichzeitigen Wohnen für 16 unbemittelte Kranke haben konnte. Die drei Sommermonate vom 21. Juli bis zum 20. September wurden in drei gleiche Wohnperioden geteilt, deren jede von je 16 zur Aufnahme geeignet befundenen Personen benutzt wird, welche je einen Monat lang unentgeltliche Wohnung, Beköstigung und Kur finden. Selbstverständlich wird in dem beschränkten Raum des Häuschens niemand gegen eine - wenn auch noch so hohe oder niedrige - Entschädigung aufgenommen; die Zahl der disponiblen Freistellen ist in der Regel schon für alle 3 Wohnperioden vor Ablauf des April besetzt.
In der von mir angeordneten, geleiteten und täglich genau kontrollierten Kur dieser 48 Personen während jeder Saison hatte ich in länger als 20 Jahren immerhin Gelegenheit, einige sichere Positionen für die balneologische Bedeutung eines wohlgerüsteten und zweckmäßig benutzten Seebades zu gewinnen. Denn der Leiden, welche ich hier gesehen, waren mancherlei; ihr Verzeichnis würde den größten Teil der bei uns landläufigen chronischen Krankheiten aufzuführen haben, mit Ausschluss einiger weniger, welche mit den Verhältnissen des Hauses unverträglich sind. Nach einer Richtung hin ist besonders eine scharfe Grenze gezogen, nämlich insofern niemandem sein Gesuch, auf Grund gewisser Atteste aufgenommen zu werden, bewilligt wird, wenn er nicht imstande ist, sich alle ihm nötigen Handreichungen selbst zu leisten; denn Wärter werden hier nicht gehalten; nur in seltenen Fällen, bei entsprechendem Zusammentreffen von günstigen Umständen, darf eine Ausnahme gemacht werden, und z. B. eine gesunde Mutter ihr krankes Kind begleiten.
Dass oft die Erfolge unsrer Kuren weit über jede Erwartung hinausgingen, liegt schon für viele Fälle aus dem Grunde nahe, weil unsre Kurgäste in meist diametrale Gegensätze mit den gewöhnlich trüberen Verhältnissen treten, welche sie zu Hause für einen Monat verlassen haben. Dort die Sorge um das tägliche Brot, hier - wenn auch in bescheidenstem Maße - das Märchen von „Tischlein decke dich“ verwirklicht; zu Hause Arbeit von früh bis spät, hier Ruhe, soviel - ja mehr als jeder zu bedürfen glaubt. Dort muss der mittellose Kranke zum Arzt und um seine Hilfe bitten, wenn die Not groß ist; hier kommt der Arzt ungerufen täglich zum Kranken, für dessen Bedürfnisse von vornherein möglichst gesorgt ist. - „Zu Hause“ lebten viele von ihnen in mangelhaft gelüfteten Räumen, in schlechter Luft und in zweifelhafter Reinlichkeit; hier schwelgt jeder in Seeluft und Waldluft, so viel es die Witterung gestattet; und kehrt er in sein Zimmerchen zurück, so findet er es gelüftet und gereinigt.
Die Bewohner des Krankenhauses, obgleich unbemittelt, sind nur sehr selten ganz arme Personen, die der Gemeinde zur Last fallen; die meisten leben von ihrer Arbeit, sind aber nicht in der Lage, eine Kur gegen ihre chronischen Krankheiten oder Siechtümer, für welche ihre Häuslichkeit ganz ungeeignet ist, auf eigne Kosten in einen passenden Kurort zu verlegen. Lehrer, Lehrerinnen, Handarbeiterinnen, Handwerker, Arbeitsleute, ihre Frauen und Kinder (wenn sie keiner Wartung bedürfen), erwachsene Schüler höherer Lehranstalten - sie sind es, welche die Räume des Häuschens für einen Monat für sich zu gewinnen trachten.

Heiligendamm, Kurhaus und Kolonnaden

Heiligendamm, Kurhaus und Kolonnaden

Heiligendamm Strandansicht

Heiligendamm Strandansicht