Briefe aus Mecklenburg (Mitte September 1875) 2. Warnemünde

Aus: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Bally Brandenburg, Band 16
Autor: redigiert von C. Herrlich in Berlin, Erscheinungsjahr: 1875
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Hansestadt Rostock, Hafen, Ostseebad Warnemünde, Seebad, Kurbad, Badegäste, Ostsee, Spill, Baustil
Warnemünde ist der Hafen von Rostock, zugleich sein Charlottenburg. Man erreicht es am bequemsten zu Schiff, auf einem jener vielen Wasser-Omnibusse, die den verkehr zwischen Mutter- und Tochterstadt unterhalten. Einer derselben, der alte Wundervogel „Phönix“, nimmt auch uns auf seinen Rücken und trägt uns, während ein leiser Regen fällt und der Regenbogen seine Brücke baut, die Warnow hinunter.

Warnemünde, seinem Renommé nach eine Art Aschenputtel unter den Badeplätzen, ist gar so übel nicht. Was nutzt es, auf alte Schuld rekurrieren und der Zeiten gedenken zu wollen, wo es hier nichts gab wie Flundern und klamme Betten; diese Zeit ist hin und die deutsche Bundesflagge weht jetzt von drei Hotel-Türmen über Gerechte und Ungerechte, über Rostocker und Berliner.

Rostocker und Berliner! Das führt uns auf die Einteilung Warnemündes in Viertel, oder Reihen, oder Quartiere. Es gibt eine „Rostocker Reihe“, an der Warnow hin, und eine „Berliner Reihe“ (die freilich zunächst noch den offiziellen Namen Seestraße führt), am Strande hin, - zwei Stadtteile, die so verschieden von einander sind wie ihre sommerlichen Insassen. Die Rostocker Reihe, wenn nicht gerade ein Nordost weht, liegt unterm Wind, die Warnow fließt eingedämmt daran vorüber, die Fischer spannen ihre Netze, und eine eigentümliche Bollwerksluft, in der sich, den ganzen Juli hindurch, Lindenblühte und Teer und Seetang eigentümlich mischen, zieht die Häuserfronten entlang. Wie anders die Berliner Reihe! Hier weht es beständig, das Wetter springt launenhaft um, Sommerjoppe und Winterpaletot wechseln des Tages viermal die Herrschaft und das Meer liegt weit offen da gegen Norden. Im Rostocker Viertel alles Stille und Behagen, auch eine gewisse Enge; im Berliner Viertel eine immer frische Briese und der Blick ins Weite.

Aber wie verschieden diese zwei Stadtteile nach Lage und Bewohner sind, so ähnlich sind sie doch in allem was Architektur angeht. Es gibt einen Warnemünder Baustil. Er besteht darin, dass man an die Fronten der Häuser einen Glaskasten anklebt, der unter den verschiedensten Namen auftauchend, als Balkon, Veranda, Pavillon, doch immer der alte Glaskasten bleibt, wovon das Sein oder Nichtsein aller Gäste und zuletzt auch ganz Warnemünde hängt. Mit dem Glaskasten steht es und fällt es. Diese gläsernen An- und Vorbaue geben dem Ort seinen Charakter und dem Badegast sein Behagen. Sie sind wirklich ein Schatz. Ob sie, nach der Seite der Kunst hin, noch eine Zukunft haben, muss abgewartet werden. Man behauptet, dass der Kristallpalast der 51er Weltausstellung einen ganz neuen Baustil geboren habe; möglich, das auch der Warnemünder Glaskasten ein erster Keim ist, aus dem ein künftiges Großes erwachsen wird.

Alle Glaskästen der Berliner Reihe blicken auf das Meer, und was beinahe noch wichtiger ist, auf das „Spill“. Was der Prater für die Wiener ist, die Theresienwiese für die Münchener, das ist das „Spill“ für die Warnemünder. Waren sie heute schon am „Spill“? Werden sie heute noch am „Spill“ sein? Um diese beiden Fragen dreht sich die hiesige Existenz. – Aber was ist denn nun eigentlich das „Spill“? Ursprünglich eine auf dem linken Molen-Arm befindliche Drehbasse oder Schiffswinde, die den Zweck hatte, kleinere Fahrzeuge behufs nötiger Kalfaterung auf die Seite zu drehen. Seit lange aber hat man die Bezeichnung des Teils auf das Ganze übertragen, und der ganze linke Steindamm der Mole, insonderheit der letzte Ausläufer derselben, - alles ist „Spill“. Hier sitzt man stundenlang, plaudernd wenn es sein muss, aber schweigend wenn es sein kann, und folgt dem Niedergang der Sonne, die immer roter glühend über dem Horizonte hängt; hier lauscht man der monotonen Musik der Wellen. Ein Träumen kommt über uns, jener süße Dämmer der Empfindung, der uns Leid und Freud nur wie verschiedene Formen ein und derselben Sache, wie die Bilder jener Maler erscheinen lässt, die abwechselnd Hochzeiten und Begräbnisse malen, die einen hell, die anderen dunkel, aber beides – Bilder. Das Lärmen und Streiten, das Rennen und Jagen, alle weckt nur die Frage: „Wozu“, und Krieg und Frieden, Fanatismus und Idyll, soweit sie laut und leise hörbar werden, ziehen in einem gewissen Gleichklang an uns vorüber, alles verklingend in dem ewigen Brausen des Meeres.

Rostock zur Zeit der Hanse, Holzschnitt

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Bademode um 1900 am Ostseestrand

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Sonne Sand und Meer

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Das verstehen wir unter

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Zeit für eine Bootspartie

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Jeder Korb eine Burg

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Strandspaziergang

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Rostock-Warnemünde, Alter Strom, Eisgang 1968

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