Briefe aus Mecklenburg (Mitte September 1875) 1. Rostock

Aus: Wochenblatt der Johanniter-Ordens-Bally Brandenburg, Band 16
Autor: redigiert von C. Herrlich in Berlin, Erscheinungsjahr: 1875
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Hansestadt Rostock, Warnemünde, Warnow, Hanse, Hansa, Blücher,
Unser Kaiser ist hier erwartet und auf acht Tage hin wird der stille Ostsee-Strand zu beiden Seiten der Warnow der Schauplatz kriegerischer Übungen und glänzender Ovationen sein. Gestatten Sie mir, Ihnen und Ihren Lesern Einiges von den Städten und Ortschaften zu erzählen, die jetzt schon von Waffen blitzen und über die, noch ehe diese Zeilen zum Druck gehen, der dumpfe Donner der Geschütze hinrollen wird. Ich beginne mit Rostock selbst, das von den Fremden, deren Ziel Warnemünde zu sein pflegt, häufiger passiert als besichtigt wird.

Die alten Hanse-Tage Rostocks waren auch seine kriegerischen Tage. Einige Straßen-Namen mahnen noch an jene historische Vergangenheit. Da ist die "Blut-Straße", beiläufig ein Name, bei dem es einen überrieselt. Die Dänen hatten einen unterirdischen gang gegraben und wollten in aller Frühe, inmitten der Stadt, plötzlich aus der Erde steigen, um die noch Schlafenden zu überraschen und zu bewältigen. Aber sie waren minder glücklich als die Griechen im hölzernen Pferd. Ein Gassenkehrer schlug den ersten Dänen, der aus der Tiefe stieg, mit seiner Hacke nieder, Geschrei weckte die Wachen, und in einem wütenden Handgemenge wurden die Dänen bezwungen. Die Stelle des Massacres führt den vorgenannten Gruselnamen.

Größere Gefahr drohte der Stadt von den Unruhen in ihrer eigenen Mitte, von den Kämpfen zwischen Patriciat und Plebejertum. Eine Art Jack Cade oder Wat Tyler, wie sie das Mittelalter überall erstehen sah, stellte sich an die Spitze des Volkes, stürzte das Patriciat, erlag aber endlich und bezahlte seine Auflehnung mit dem Leben. Sein Kopf wurde auf den Sims des Steintores gestellt; und jetzt (freilich im Bilde nur) blickt das Haupt des Demagogen auf die Stadt hernieder, eine stille Mahnung, auch das jetzige „Senatorentum“ in seinem Regimente nicht zu stören.

Die Lebensader dieser alten Hansestadt ist die Warnow, deren Breite und Tiefe es einer ganzen Flotte von Kauffahrern gestattet, zwei Meilen landeinwärts bis unmittelbar an die Speicher und Warenhäuser vorzudringen. In Wintertagen liegen hier, in Front der Stadt, 300 Schiffe. Die meisten derselben sind in Rostock selbst gebaut, das in Schiffbau und Reederei nach wie vor einen hochangesehenen Platz unter den Ostsee-Städten einnimmt. Im Sommer wechselt das Bild. Die Handelsschiffe sind meist hinaus, nur hier und dort weht ein Danebrog, oder flattern die Stars and Stripes der Union vom hohen Mast; der Handel, während er am geschäftigsten ist, scheint zu ruhen, und nur die Flussdampfer gehen auf und ab, die den Verkehr mit Warnemünde unterhalten.

Von diesem feinen Bollwerk, also von der Wasserseite her, präsentiert sich Rostock am besten; das Flussufer, der Häuserquai, der sich daran hinzieht, sind, wie in allen ähnlich gelegenen Orten, der eigentlich malerische Teil der Stadt. Freilich nicht der vornehme. Taverne drängt sich an Taverne, und die Schilder und Aufschriften, die sie tragen, geben am besten Auskunft über die Punkte, wohin der Handel geht. City of London, City of Falmouth; vor Allem aber tauchen schwedische Namen auf: Malmö, Kalmar, Wisby. In der Tat wird ein Hauptverkehr mit Schweden unterhalten. Die Beziehungen sind uralt. Saß doch ein Mecklenburger Herzog (König Albrecht, der bei Falköping gegen die dänische Margarethe unterlag) auf dem Schwedischen Thron.

Ein ganz anderes Rostock bietet sich uns, wenn wir den Fluss lassen, um, hügelan steigend, einen der ältesten Plätze der Stadt, den Hopfenmarkt zu besuchen. Hier erhebt sich die Universität (schon 1419 errichtet), hier steht die Blücher-Statue. Der letzteren zu Ehren, ist der alte Name dieser Stelle offiziell in „Blücher-Platz“ umgewandelt worden; das Volk aber, bei allem Respekt vor Vater Blücher, der noch dazu ein Rostocker Kind war, hält an seinem Hopfenmarkt fest.

Die Universität, neuerdings umgebaut und erweitert, ist in roten und gelben Ziegeln aufgeführt. Alle Neubauten, denen man in Mecklenburg begegnet (und ihre Zahl ist groß) haben gemeinschaftliche Züge, sind aus einer bestimmten Schule hervorgegangen. Sie verraten alle eine gewisse Munifizenz [Freizügigkeit/Freigebigkeit], sind mit Büsten und Statuen reich ornamentiert, und wirken eminent malerisch. Es ist Schinkelsche Schule, aber erheblich modifiziert unter dem Einfluss alt-mecklenburger Prachtbauten, namentlich des Güstrower und Schweriner Schlosses. Vielleicht dass Architekten-Rigorismus allerhand an diesen Mischbauten auszusetzen finden mag, auf den Laien wirken sie angenehm. Es gilt dies beispielsweise von allen Bahnhofsbauten der Friedrich-Franz-Bahn. Wenn etwas zu tadeln ist, so ist es vielleicht das, dass überall mehr getan ist, als nötig war. In unserer immer nach Zweck und Nützlichkeit fragenden Zeit, drängt sich’s dem Urteil gelegentlich auf: wozu?

Die Blücher-Statue, eine Arbeit Schadows, die unmittelbar nach dem Kriege begonnen und 1819 errichtet wurde, ist ein eigentümliches Werk. Ich kann nicht sagen, dass es mich voll befriedigt. Hätte man Schadow freie Hand gelassen, so wäre es gewiss besser geworden. Aber der alte Goethe redete ihm zu viel hinein. Dieser vertrat die Anschauungen, die wenigstens heute nicht mehr gelten. So fiel sonderbarerweise gerade Schadow, der schon 20 Jahre früher in seinem Zieten und alten Dessauer die Bahn des Realismus beschritten hatte, in eine gewisse Klassizität zurück. Sehr zur Unzeit. Zu dem modernen Säbel und den realistischen Reiterstiefeln will der römische Rock nicht recht passen, noch weniger das als Mantel dienende Löwenfell. Am meisten Fragen und Zweifel werden aber durch die Reliefdarstellungen angeregt, die den Sockel umgeben. Schadow hat hier einen Versuch gemacht, Hergänge, die der Zeit nach (wenn auch nur um Minuten) auseinanderliegend, auf ein und derselben Tafel darzustellen. So finden wir auf dem einen Sockelfelde den bekannten kritischen Moment aus der Schlacht bei Liguy (Blüchers Sturz) in drei Streifen dargestellt: Französische Kürassiere rufen zur Attacke; Preußische Ulanen weichen der Übermacht, Blücher liegt unterm Pferde, - Nostitz, als Schutzengel, deckt ihn mit dem Schilde. Dabei sind es nicht einmal drei getrennte Streifen, sondern die trennenden Linien fehlen, so dass ein gewisses Durcheinander entsteht und der Beschauer an die jetzt in Mode gekommenen Puppenbogen erinnert wird, die einem die Pflicht auflegen, aus Kopf und Kleid, aus Hut und Schirm sich die Kaiserin Eugenie zusammen zu setzen. Ich glaube nicht, dass wir diese Art von Reliefdarstellungen zu rechtfertigen ist; auch hat sie, meines Wissens, nicht Nachahmung gefunden. Das gleichzeitige Symbolisieren aber wirkt gerade komisch. Belle-Alliance, um ein Beispiel zu geben, wird dadurch ausgedrückt, dass sich zwei nackte Engel, Preußen und England, die Hand reichen. Sie sehen aus wie badende Sekundaner. Um sie zu charakterisieren, ist der eine mit einem Dreizack, der andere mit einem eisernen Kreuz bekleidet.

Die Rückseite des Sockels trägt die bekannte Inschrift, die, auf Ansuchen der Stadt Rostock, Goethe für dies Blücher-Standbild anfertigte:

      In Harren und Krieg,
      In Sturz und Sieg,
      Bewusst und groß,
      So riss er uns von Feinden los.

Es zählt dies zu den schönsten Inschriften, und man kann sagen, Goethe habe durch dieselbe wieder gut gemacht, was er als Kunstberater verdorben hatte. Sonderbarer Weise sollen gerade die Rostocker an diesen einfach schönen Worten herummäkeln. Und doch, wer hätte Besseres zu sagen gewusst!

Blücher selber würde damit zufrieden sein, wie er sich freuen würde, das „deutsche Volk in Waffen“ zu sehn, das jetzt in stattlichen Regimentern unsere Stadt und ihre Umgebungen füllt.

Rostock - Markt, Marienkirche und Blutstraße

Rostock - Markt, Marienkirche und Blutstraße

Hansestadt Rostock - Stadtansicht

Hansestadt Rostock - Stadtansicht

Rostock - Giebelhäuser bei der Nicolaikirche

Rostock - Giebelhäuser bei der Nicolaikirche

Hansestadt Rostock, Große Wasserstraße mit Kerkhoffhaus (1470) Sommer 1968

Hansestadt Rostock, Große Wasserstraße mit Kerkhoffhaus (1470) Sommer 1968

Rostock, Neuer Markt mit Ladenzeile 1967

Rostock, Neuer Markt mit Ladenzeile 1967

Hansestadt Rostock, Giebelhäuser und Marienkirche

Hansestadt Rostock, Giebelhäuser und Marienkirche

Rostock - Kröpeliner Tor

Rostock - Kröpeliner Tor

Rostock, Lange Straße, Marienkirche in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Rostock, Lange Straße, Marienkirche in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Rostock - Petrikirche mit Petritor

Rostock - Petrikirche mit Petritor

Rostock vor dem Steintor

Rostock vor dem Steintor

Hansestadt Rostock, Neuer Markt (zum Zeitpunkt der Aufnahme: Erst-Thälmann-Platz) 1967

Hansestadt Rostock, Neuer Markt (zum Zeitpunkt der Aufnahme: Erst-Thälmann-Platz) 1967

Rostock, Neuer Markt mit Blick auf Marienkirche

Rostock, Neuer Markt mit Blick auf Marienkirche