Briefe auf einer Reise nach Petersburg - Rezension

an Freunde geschrieben von
Autor: Tarnow, Fanny (1783-1862), Erscheinungsjahr: 1819
Themenbereiche
Rezension aus: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allg. Literatur-Zeitung 17. Jahrgang, Band 1, Nummer 15, 1919

Der Nachsicht, welche die bescheidene Verfasserin in der Vorrede in Anspruch nimmt, bedarf sie nicht: denn ihre Reisebeschreibung ist eins der ausgezeichnetsten Produkte unserer neueren Literatur. In einem blühenden, aber edlen Stile theilt sie uns Ihre Bemerkungen über Russland, vorzüglich über Petersburg, dessen Bewohner, deren Sitten, Gewohnheiten, Vergnügungen mit. Nie verfällt sie in den ihrem Geschlechte sonst so gewöhnlichen Fehler, die Bilder der Naturscenen mit überladenen Beiwörtern ängstlich auszumalen, sondern zeichnet sie mit wenigen zarten aber kräftigen Pinselstrichen. Z.B.S. 6 – Eben so gelungen ist die Beschreibung der Gemälde in der Kaiserlichen Erimitage S 163. Während andere Reisebeschreiber uns durch ihre detaillirte Zergliederung der Kunstwerke, mit hochtönenden Ausdrücken reichlich durchwebt, langweiligen, da sich von Natur und Kunst nicht aus todten Beschreibungen, sondern einzig aus dem lebendigen Anschauen Genuss versprechen lässt: stellt uns die Verfasserin, sich mehr an die Gegenstände, als an die Ausführung haltend, mit der ihr eigenen Tiefe des Gemüts das Gemälde so lebendig dar, als es die Feder vermag. Z.B.S. 185. – Interessant ist auch die Übersicht der neuesten Russischen Literatur, welche sie liefert. In Absicht der neu zu bildenden Gemeinde Israelitischer Christen und der dessfalls kürzlich erschienenen Ukasen (S. 145) hätten wir nähere Aufklärung gewünscht. Mit Schaudern ließt man S. 142, dass sich der Geist der Mystik auch in den Norden verirrt hat, so dass eine dortige Fürstin – die sich durch Liebenswürdigkeit und Güte auszeichnet – geliebt von ihrem Gatten, Mutter hoffnungsvoller Kinder, von der religiösen Schwärmerei ergriffen, sich, um ihre Irdische Natur durch Schmerz zu läutern, zwei Finger in den Kohlen ihres Kamins freiwillig verbrannte; dann zur Nachahmung der Leiden Christi sich die Füße kreuzweis am Fußboden festnagelte; um ihren Kindern durch unschuldig erlittenen Schmerz Anspruch auf die Seligkeit zu verschaffen, diese aufs grausamste misshandelte usw. Mit hohem Enthusiasmus spricht Fanny von unserem Klinger, den übrigens jeder Deutsche nach Verdienst ehrt.

Höchst anziehend sind die Gemälde, welche sie von den Russischen Sitten, Volksfesten, Speisen, Gewohnheiten allenthalben liefert, und gern verweilt man bei den Bildern, welche sie von der jungen Kaiserin – diesem Engel der reinsten Güte, der fleckenlosesten Tugend – und der Kaiserlichen Familie macht; mit Meisterhand ist die Darstellung des Geistes der Russischen Nation, der Regierung und der Ahnungen der Zukunft, welche diese dem übrigen Europa bereiten, gezeichnet.

Unter die anziehendsten Schilderungen gehört die Beschreibung des Lustschlosses Pawlowsky; vorzüglich die des Familien-Bosketts, das aus Bäumen besteht, die bei der Geburt eines Sohnes oder einer Tochter des Kaiserhauses gepflanzt sind, und von den jeder den Namen dessen, dem er gepflanzt ist, auf einer kleinen Tafel trägt; des von der Kaiserin Maria ihrem Gemahle Kaiser Paul errichtete Grabmals; des Kasnaja Dalina oder schönen Tals, wo die Kaiserin Mutter jeden Besucher mit Milch usw. Bewirten lässt, des Rosen-Pavillons usw.

Wir wünschen, dass die edle Verfasserin unsere Lesewelt bald mit ähnlichen Geistesprodukten beschenkt.