Bilder aus dem Berlin von ehemals. Mittwoch 1. Januar 1851

Morgenblatt für gebildete Leser
Autor: Redaktion - Morgenblatt, Erscheinungsjahr: 1851
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Berlin, Aufklärung, Bildung, Literatur, Schriftsteller, Philosophie, Heriette Herz, Marcus Herz, Wilhelm von Humboldr, Alexander von Humboldt, Schleiermacher, Jean Paul, Friedrich Richter, Schlegel, Chamisso, Henrich Steffens, Lessing, Goethe, Mirabeau, Philipp Moritz, Gentz, David Friedländer, Moses Mendelssohn, Juden
Die neue Zeit ist so schlimm, dass man sich freut, einen Blick in die alte Zeit Berlins zurückwerfen zu können. Einen solchen, und einen sehr interessanten, verschafft uns der Biograph einer ausgezeichneten Frau, die, einst hochberühmt, vor wenigen Jahren hochbetagt, eine Achtzigerin, gestorben ist. Es ist dies die Hofrätin Henriette Herz, als schönste Frau ihrer Zeit gepriesen, tugendhaft, liebenswürdig, geistreich, der Mittelpunkt eines geistig geselligen Lebens, an der gleich wie am alten Nestor ganze Geschlechter vorübergegangen waren, und die ihr Biograph, Fürst, mit der berühmten Französin, Madame Recamier, vergleicht. Es kann uns nicht darauf ankommen, diese lange und nicht ohne Geist durchgeführte Parallele hier wieder zu geben, denn so viele Vergleichungsglieder sich finden, so viele Abweichungen ließen sich auch in der Regel entdecken, wenn es nicht eben die Aufgabe wäre sie unentdeckt zu lassen und da wo sie zum Vorschein kommen, zu Gunsten des thema probandum zu verhüllen. *)

Die Herz war jedenfalls eine bedeutende Erscheinung ihrer Zeit, auch wenn sie nicht mit der schönen und liebenswürdigen Recamier so viele Eigenschaften gemein gehabt hätte. Sie griff nicht in die Zeitein, aber sie empfing aufs lebhafteste alle Eindrücke derselben, und zog durch ihre Schönheit, Liebenswürdigkeit und ihre wohl angebrachten Kenntnisse alle bedeutenden Männer und Frauen in ihren Kreis.

*) Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Herausgegeben von J. Fürst. Berlin 1850. (Wilhelm Herz.)

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Da sie über 80 Jahre alt starb und von Jugend auf gefeiert, in ihrem hohen Alter noch geschätzt und anerkannt war, so konnte sich ein Zeitraum von über 60 Jahren in ihrem Leben spiegeln, und welcher Zeitraum, da sie als Jungfrau fast schon den Anfang der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erlebt, und lange nach der Thronbesteigung des gegenwärtigen Königs von Preußen noch gelebt hat! Die Gebrüder Humboldt waren ihre Jugendgespielen, und Alexander von Humboldt gedachte, als sie schon über 80 Jahre zählte der alten Freundin, und dass die Tage des Alters für sie nicht so glücklich waren als die sie verlebt, und er verschaffte ihr vom König für diese letzten Tage eine verhältnismäßig nicht unansehnliche Pension. Sie hatte Mirabeau gesehen und gekannt, lange vor seiner gewaltigen Tätigkeit, als er Gesandter in Berlin war, die Genlis, die Staël; Schleiermacher, lange er berühmt geworden, war ihres Hauses Freund gewesen, sie kannte die Schlegel, Jean Paul Friedrich Richter, Henrich Steffens, Chamisso. Eigentlich möchte man sagen, wen hat sie nicht gekannt? und jeder, der sie kannte, sagte nur Gutes von ihr. Sie war eine ebenso schöne und liebenswürdige als tugendhafte Frau.

Aber über sie selbst und das Buch als solches ist anderwärts schon viel gesagt, und wird auch wohl anderwärts noch viel gesagt werden. Wir nehmen es diesmal nur in die Hand, um einige der Spiegelbilder aus dem alten Berlin, dem noch nicht politischen, an uns vorübergleiten zu lassen. - Die Herz war die Gattin eines seiner Zeit sehr berühmten jüdischen Arztes Marcus Herz, und die Tochter eines auch berühmten Arztes, De Lamos, von portugiesischer Abkunft.

Wer in jene Zeit zurückblickt, weiß, dass der Jude ein abgetrenntes Wesen von der andern Bevölkerung war. Man zog ihn nur hinein als Rarität, wenn er eine war, oder man besuchte seine Kreise, der Rarität wegen. Das aber taten nur Männer, die so auf der Bildung Höhen standen, dass sie es wagen durften. Die Herz aber lebte hinüber in eine ganz andere Zeit, die der extravaganten Genialität, wo die Fesseln des Herkommens und der Sitte abzuwerfen dem, der es tat, schon als Zeichen der inneren Genialität galt, wo man einerseits in Parodien, andererseits in Liederlichkeit sich erging, um sich nur von dem profanen Vulgus zu unterscheiden. Zu jener Zeit blühten die geistreichen Juden, die im Feuer der Romantik auch Sonette auf die Jungfrau Maria machten, und in jener Zeit konnten geistreiche Jüdinnen der Mittelpunkt des gesellschaftlichen und geistreichen Lebens sein, wie es in Berlin sich später nicht wieder gestalten wollte. Ästetik Politik, Philosophie und Religion schwammen damals bunt durcheinander auf den Höhen, nicht gerade der Menschheit, aber der Gesellschaft.

In zwei verschiedenen Zeitpunkten also war es der ausgezeichneten Frau gegeben, tiefe Blicke in das Leben der Geister der Zeit zu werfen, in jener aus subjektiver Abgeschlossenheit auf das bunte Leben außer ihr, in dieser als Mitlebende und Mitspielende, Wenn sie selbst| Memoiren geschrieben hätte, wäre es eine reiche Schatzgrube geworden; sie hat es nicht getan. Sie blieb, die Gefeierte, in reiner Weiblichkeit die ruhig teilnehmende Beobachterin. Aber gern von ihren Erfahrungen jüngeren Freunden später mitteilend, fand sie einen, der nach den Gesprächen mit ihr deren Inhalt, meist ihre Worte niederschrieb. Die sie näher gekannt, wollen indessen behaupten, es seien nicht ganz ihre Worte, und ihre Vorstellungen, selbst ihr Wesen sei in diesen Bildern nicht getreu wieder gegeben, vielmehr habe der Biograph von seinen eigenen Anschauungen vieles hinzugesetzt, und lasse die anspruchslose Frau eine Sprache reden, gegen die sie protestiert haben würde, da sie nie gelehrt, kritisch, richtend aufgetreten. Wie dem nun sei - wer kann überhaupt entscheiden, wie eine Frau, die jetzt bald neunzig Jahr alt wäre, zu den verschiedenen Zeiten ihres Lebens gesprochen, gedacht, geurteilt hat! - uns kommt es darauf nicht an, wir haben es hier nur mit dem Objekt, den Personen zu tun, welche sie oder ihr Biograph uns vorführen, und die interessanten Züge, die sie uns von ihnen geben, sind nicht erfunden.

Die Herz hatte schon als junge Frau, als das Haus ihres Gatten eines der angenehmsten und gesuchtesten war, das Erscheinen des „Götz und Werther“ erlebt. Sie schildert uns die allgemeine literarische Parteiung, die jene gewaltigen Erscheinungen hervorriefen. Ihr Gatte, ein reiner Verstandesmann und Anhänger und Freund Lessings, wies in der Literatur alles zurück, was nicht mit Lessingscher Klarheit und Durchsichtigkeit geschrieben war. Als David Friedländer ihn bat, ihm ein Goethisches Gedicht zu erklären, wies er ihn mit den Worten ab: „Gehen Sie zu meiner Frau, die versteht die Kunst, Unsinn zu erklären.“ Goethes Fischer war erschienen. Herz bat, es möchte ihm doch einer den Vers erklären: „Kühl bis an’s Herz hinan!“ – Philipp Moritz (Anton Reiser), der gegenwärtig war, legte den Zeigefinger an die Stirn und sprach: „Aber wer wird das Gedicht auch da verstehen wollen!“

Nun kam die romantische Schule auf. Hier war für Marcus Herz natürlich alles unwahr und unverständlich. Beide Gatten quälten sich eines Tags über das Verständnis einer Stelle in Novalis. Er lächelte: „Wie sollen wir das verstehen, da du doch nicht glaubst, dass er selbst es verstanden hat!“ Wohin ist die Zeit, wo man sich um das Verständnis einer Stelle eines Dichters abmühte, und selbst die, welche der ganzen Dichtungsart entgegen waren! Man sprach es unbefangen aus: man habe das Bestreben sich zu bilden. Gelehrte trugen in geselligen und gemischten Kreisen vor, was heutige Gelehrte nur Studierten und Studierenden vorzutragen der Mühe wert erachten würden. Strenge Fachgelehrte erfreuten sich mit Frauen und Männern, die weit unter ihnen standen“ an den neuen Erzeugnisten der schönen Literatur. So erfahren wir von einer Lesegesellschaft, welche 1785 gebildet, alle Produkte der schönen Literatur sich vorlas, Frauen und Männer abwechselnd, und wer waren die Teilnehmer? Engel, der stets etwas pedantische Ramler, Moritz, Teller, Zöllner, Dohm, der berühmte Jurist Klein, Herz und seine Gattin. Und dazu kamen die beiden sechzehn- bis achtzehnjährigen Jünglinge Wilhelm und Alexander v. Humboldt, damals schon von feiner Sitte, lebendig, geistreich, durchaus liebenswürdig und von umfassendem Wissen. Nach dem frugalen Abendbrot ward getanzt und Alexander v. Humboldt lehrte die junge Herz eine neue Menuet à la Reine. In diesen Kreisen sehen wir später auch Ancillon und Gentz. Feßler gründete noch später eine andere Lesegesellschaft, wo wir Hirt, Shadow, Fleck finden. Der große Mime, der auf der Bühne alles hinreißend sprach, las dafür desto schlechter, was oft vorzukommen pflegte. Der Dämmerschein weniger Talglichter musste diese glänzende Gesellschaft erhellen.

Ein Schatzkästlein in dem Buche ist die Mitteilung über Dorothea v. Schlegel, die Tochter Moses Mendelssohns, einer innigen Jugendfreundin der Herz. In welche Kreise des Lebens, der Poesie, der religiösen Anschauung werden wir ganz gelegentlich geführt! Moses Mendelssohn wird uns als ein strenggläubiger Jude geschildert, der es blieb, trotz seines philosophischen und freigeistigen Umgangs, nicht aus Rücksichten, sondern aus Überzeugung. Seine geistig reich begabten Kinder teilten seinen Glauben nicht ohne anfänglich im Umgang der Freigeister, die das Haus besuchtem einen andern zu finden. Zwei Töchter, Dorothea und Henriette (später Erzieherin der unglücklichen Herzogin von Praslin), versenkten sich dafür später mit fanatischer Inbrunst in den neuromantischen Katholizismus, der in ihnen zur Wahrheit ward. Die Herz war die bewusste und doch schuldlose Vermittlerin, dass Dorothea sich von ihrem Gatten Veit trennte und Friedrich Schlegel folgte. Sie fand in ihm das warme Herz nicht, nach dem sie sich gesehnt. In der Blüte ihrer Liebeszeit, die von der Welt geächtet war, entstand Schlegels Lucinde, und Schleiermacher schrieb seine Briefe darüber, vielleicht mehr aus Opposition gegen das flache Urteil der Welt als aus selbsteigenem Drang. Wir erfahren, dass mehrere Briefe im Buche nicht von Schleiermacher selbst, sondern von einer Freundin desselben herrühren.

Mit Moses Mendelssohn war in den Juden Berlins das Streben erwacht, sich deutsche Bildung und Gesittung anzueignen. Die Männer wandten sich zum Teil der Philosophie, die Frauen mit dem Feuer lebhafter Naturen der schönen Literatur zu. Es gab manche häusliche Kämpfe deshalb, die orthodoxen Familien fürchteten eine Bildung, die auf christlichem Boden ruhte. Schon 1773 ward in einer jüdischen Bankierfamilie vor Liebhabern aufgeführt, was? - eine Tragödie, und zwar Richard III. von Weisse. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts kostete es viele Kämpfe, ehe des großen Ludwig Devrient Wunsch in Erfüllung ging, Shakespeares Richard III. auf die Nationalbühne zu bringen. Man hielt das Publikum entweder nicht geeignet für das Stück, oder das Stück nicht für das Publikum. - Man lernte französisch voll Bewunderung für Voltaire und die Klassiker, trotzdem dass Lessing und seine Kritik auch bewundert ward; man lernte englisch, um Shakespeare besser kennen zu lernen und für die Romane der Engländer zu schwärmen, auch schon italienisch. Dieses Einpfropfen so vielen Wissens auf einen ursprünglichen Boden erzeugte eine geistige Üppigkeit, ein sich Hinaussetzen über hergebrachte Formen, „Die höchste Blüte dieses Geistes offenbarte sich später in Rachel Levin,“ auch eine, doch etwas jüngere Freundin der Herz. - In dieser Bildung standen die christlichen Familien Berlins jener Zeit den jüdischen weit nach. Es gab gelehrte Männer, aber sie waren von Geschäften überlastet, sie hielten nicht zusammen, was auch jetzt noch der Fall ist. Ihre Frauen, gute ehrsame Hausfrauen, hätten ihrem Berufe Eintrag zu tun geglaubt, wenn sie geistigen Interessen Raum gegönnt oder die gelehrten Gespräche ihrer Eheherrn durch ihre Gegenwart profaniert hätten. Wir finden übrigens durch sogenannte „Kränzchen“ jüdische und christliche Familien vereinigt. Unter den letzteren waren die Nicolais, des schon erwähnten berühmten Kriminalisten Klein, und eines zu jener Zeit berühmten Wundarztes, des Generalchirurgus Görcke. Ein eigentliches offenes Haus für Bekannte und Freunde machte unter den Gelehrten eigentlich nur Moses Mendelssohn, der nicht begütert war. Er war Disponent in einer Seidenwarenhandlung.

Die Verstorbene erschließt uns durch den Mund ihres Biographen, wie, im Gegensatz zu den christlich-bürgerlichen Kreisen, wo aus vielen Gründen Geist und Behaglichkeit nicht einkehren konnten, die jüdischen Kreise immer mehr gesucht wurden wegen des Geistes, der Unterhaltung, und zum Teil auch der schönen jungen Frauen wegen, die man dort fand. „Der Geist, welcher hier waltete, war der einer naiven Zeit.“ Die jungen Edelleute langweilten sich am Hofe, von den bürgerlichen Kreisen waren sie schroff getrennt; sie fanden Zerstreuung und Genuss in den jüdischen Familien und „der Geist ist ein gewaltiger Gleichmacher.“ Bald fand sich hier alles zusammen, was irgend bedeutendes von Jünglingen und jungen Männern in Berlin wohnte; auch geistesverwandte weibliche Angehörige und Freundinnen folgten ihnen, und freisinnige und reifere Männer, welche sich gleichfalls angezogen fühlten, bald auch die fremden Diplomaten. Später; wie man weiß; bewegte sich in diesen Kreisen mit Behagen auch ein königlicher Prinz; Prinz Louis Ferdinand.

Es ist nicht in diesem Buche zum erstenmal ausgesprochen; sondern es ist ein unbestreitbares Faktum; dass der in diesen jüdischen Kreisen geschaffene gesellige Ton und die literarische Bildung viel zur geselligen Bildung der Hauptstadt und zur Verfeinerung des Tons in den höhern Kreisen des Lebens beigetragen hat. Preußen; oder spezieller gesagt, Brandenburg verdankt einen Teil seiner Intelligenz und Bildung; durch welche sich das Land über das andere Deutschland und namentlich das weit früher gelehrt ausgebildete Sachsen; wenn nicht gerade hob; doch davon unterschied; sowohl der Einwanderung der französischen Refugiés als dem jüdischen Element. Der Esprit im Berliner Volkscharakter mag von jenen; die epigrammatischen Witzfunken; die selbst auf den Straßen knistern; mögen von diesen herstammen.

Unter den längst dahingegangenen Geistern; deren Erinnerung sogar für manchen jetzt Lebenden schon erloschen ist; freuen wir uns den originellen Philipp Moritz von der Herz zitiert zu sehen. Der Verfasser des psychologischen Romans Anton Reiser (der von der jetzigen Lesewelt immer wieder in die Hand genommen werden sollte); der Mann; dessen tiefpoetischen Wert Goethe zuerst erkannt hat; nachdem seine Mitwelt ihn; den Vorläufer des großen Dichters in warmer und sonniger Naturanschauung nur als Rätsel und Original zu betrachten gewohnt war; gehörte zu den Hausfreunden der Herz. Ihr Mann; der Arzt; rettete einst Moritz durch eines der merkwürdigsten psychologischen Experimente vom Tode, Moritz ward wirklich gefährlich krank; weil seine Phantasie ihn mit Todesgedanken quälte; und Marcus Herz ergriff das gewagte Mittel; ihm zu erklären; dass er sterben müsse; sich also auf den Tod vorzubereiten habe. Der Schreck der Wirklichkeit verjagte in Moritz die Macht der Phantasie; er bereitete sich zum Tode vor und - genas in diesen Vorbereitungen. Der Fall ist von Moritz selbst in seine Erfahrungsseelenkunde aufgenommen worden.

Es ist zu bedauern; dass die Herz so wenig Erinnerung von Mirabeau behalten hatte; Erinnerungen an seine äußere Gestalt; denn er war von Gesicht der hässlichste Mensch; und dass; wenn er sprach; er alles mit sich fortriss; leider aber entsann sie sich nicht mehr; was er gesprochen. Doch wusste sie sehr wohl; dass er schon zu jener Zeit den Eindruck eines höchst bedeutenden Menschen gemacht; und dass; als er der Heros der französischen Revolution ward; sie sich ganz und gar nicht darüber verwunderte. Man hatte es ihm zugetraut. Mirabeau ward von Dr. Herz in sein Haus eingeführt; die Genlis suchte die Herz später auf, als sie in Berlin im Exil lebte, und nahm bei ihr französisch Unterricht. Das Bild, welches sie von ihr entwirft, ist keineswegs liebenswürdig.

Noch später kam die Staël nach der preußischen Hauptstadt, gefeiert, im Glanz ihres Gefolges, ihres sprühenden Geistes, ihrer unendlichen Wissbegier, alles an sich reißend und in ihrer flüchtigen Art zerreißend. Man glaubt diese interessante Frau in der Schilderung der Herz vor sich sitzen, aufspringen, das Gespräch an sich reißen, es lenken und beendigen zu sehen. Haschend nach allem Ausgezeichneten, weiß sie hier August Wilhelm Schlegel für ihr Gefolge zu kapern.

Friedrich v. Gentz ist so vielfach besprochen worden und noch täglich der Gegenstand des Gesprächs, das auf politische Notabilitäten und Grundsätze sich bezieht, dass Notizen über ihn aus seinen Anfängen und der Urteilsspruch einer unbefangenen, in die Politik nicht verwickelten Dame über seinen Charakter von doppeltem Wert sind, besonders seitdem der Scharfsinn sich abgemüht hat, einen Mann auch sittlich in ein helleres Licht zu stellen, von dessen Sitte man bis da nichts wusste, und dessen geistvolle Dienstfertigkeit für ein Prinzip und Männer, die Deutschland durch ein aufgedrungenes System der Revolution überliefert hatten, einen traurigen Fluch auf sein Andenken gelacht haben. Die Herz kannte ihn von Jugend auf und deckte den Schleier, mit dem man seine Sittlichkeit verdeckt hat, schonungslos ab.

Sie protestiert dagegen, dass Gentz in seinem Leben ein Mann von Gesinnung gewesen. Möge man die „ohne Scheu affichierten Ausschweifungen seiner alten Tage mild beurteilen,“ und die unvertilgbare innere Jugendlichkeit des Mannes beloben, den sie schon vor der „bekannt gewordenen zärtlichen Liaison als einen Graukopf mit zitternden Händen“ in Wien wieder gesehen; aber Niemand solle ihr das Umspringen aus einem Erzliberalen in einen Konservativen als eine achtungswerte Folge geänderter innerer Überzeugung darstellen wollen.

Gentz war von den Anfängen der französischen Revolution hingerissen und selbst hinreißend. Er besaß eine Gewalt der Rede, gegen die selbst seine Schreibart zurückblieb. Daher seine großen Erfolge bei den Frauen. Hübsch war er nicht, und von Gemüt keine Rede; durch seine Leidenschaftlichkeit eroberte er im Sturme. Seine Genusssucht verleitete ihn zu „allbekannten Perfidien und stürzte ihn in eben so bekannte Geldverlegenheiten. Bonvivant in jeder Beziehung, ohne Gewissen, war in solchen Augenblicken jedes Mittel, aus diesen Verlegenheiten sich loszureißen, ihm gleichgültig. „So zog er einmal einer Frau meiner Bekanntschaft (wir müssen hier buchstäblich die Worte wiederholen), auf deren Nachsicht er glauben mochte ein Recht zu haben, bei einem Besuche einen kostbaren Diamantring vom Finger. Vergebens stellte sie ihm vor, dass das Fehlen dieses Ringes ihr die empfindlichsten häuslichen Ungelegenheiten zuziehen würde.“ Nur nach langem Flehen, und man darf glauben durch pekuniäre Opfer, gelang es ihr, den Ring wieder zu erhalten.

Trotz der drückendsten Geldverlegenheit blieb er der freisinnigste Mund. Auch nachdem seine Vorliebe für die französische Revolution schon erkaltet war, schwärmte er noch für Pressefreiheit, wie sein Memoire bei der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II. beweist. Aber an einem schönen Morgen, sagt die Herz, war plötzlich seine sehr bekannte Geldnot - wenn auch nicht ganz gehoben, doch sehr gemindert, und - seine Freisinnigkeit verschwunden. Eine österreichische Pension hatte beide Wunder bewirkt. Graf Stadion, der österreichische Gesandte, und das Wiener Kabinett, von diesem darauf aufmerksam gemacht, hatten seine Brauchbarkeit und was ihn bewegen könne, erkannt und rasch gehandelt, wie die österreichische Diplomatie darin so geschickt ist. Gentz schrieb von nun an, was das Wiener Kabinett forderte, als königlich preußischer Kriegsrat, angestellt beim Generaldirektorium. Und man wusste es, und entließ ihn nicht! Er selbst aber, als seine Stellung immer zweifelhafter wurde, hielt sich denn endlich doch selbst gedrungen, seinen Abschied zu nehmen und nach Wien überzusiedeln. Von Freisinnigkeit war damals keine Spur mehr in ihm und er verließ Berlin, wie man damals sagte, „als eingefleischter Aristokrat.“

Ein anderer Gentz ist nicht wieder geboren, an Konvertiten seiner Art fehlt es indessen nicht; aber das ist wohl zu merken, und ein erfreuliches Charakteristikum unserer Zeit, dass trotz der offenkundigen Tatsachen und Aktenstücke ein Gentz damals noch zu einem gewissen Ansehen, und wenn auch nicht zu Ehren, doch zu einer Autorität im Publikum kommen konnte. Wer sich heut wie Gentz erkaufen lässt ist moralisch in Deutschland verloren, obgleich wir einen Überzeugungswechsel gelten lassen. In Frankreich ist es anders.

Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832) Dichter, Schriftsteller und Staatsmann

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Humboldt, Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von (1769-1859) deutscher Naturforscher

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Alexander von Humboldt

Alexander von Humboldt

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), wichtigster Dichter der deutschen Aufklärung

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Moses Mendelssohn (1729-1786), deutsch-jüdischer Philosoph im Zeitalter der Aufklärung

Moses Mendelssohn (1729-1786), deutsch-jüdischer Philosoph im Zeitalter der Aufklärung