Berlin und seine Rathäuser.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1866
Autor: Ferdinand Pflug Dr., Erscheinungsjahr: 1866

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Berlin, Rathaus, Residenz, Deutschland, Geschichte
Berlin trägt in Allem den Stempel einer neuen Stadt. Wie der preußische Staat selbst aus kleinen Anfängen sich in überraschender Schnelle zu seiner jetzigen Machtfülle und politischen Bedeutung entwickelt hat, so ist auch dessen Hauptstadt binnen wenig über zwei Jahrhunderten von der kleinen kurfürstlichen Residenz mit den ihr nach den furchtbaren Stürmen des dreißigjährigen Krieges nur noch verbliebenen 6.400 Einwohnern zu ihrem heutigen riesigen Umfange mit ihrer gegenwärtigen Bevölkerungszahl von weit über 600.000 Einwohnern herangewachsen. Nur einige, im Herzen der Stadt gelegene alte Kirchen und das alte Berliner Rathaus erinnern noch an das Mittelalter. Auch dieses letzte, für die jetzigen Verhältnisse viel zu kleine Gebäude steht jedoch eben im Begriff, dem neuen großen Rathause weichen zu müssen. Die Erbauung desselben hat die Stadt übernommen, und bereits ist die eine fertige Hälfte des mit allen Kräften geförderten Baues in Benützung gezogen worden und sieht derselbe binnen wenigen Jahren seiner Vollendung entgegen.

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Das neue Berliner Rathaus dürfte von wenigen andern Rathäusern erreicht, geschweige gar übertroffen werden. Um einen Begriff von der Größe und dem Umfange dieses prächtigen Gebäudes zu gewinnen, genügt, dass zu dessen Ausführung ein Häuserviereck von zusammen 52 Wohnhäusern niedergebrochen morden ist, wie dass die Kosten des Baues, ohne die der inneren Ausschmückung, sich auf über fünf Millionen belaufen werden.

Es würde indes; ein großer Irrtum sein, aus dem Mangel an alten Bauten in Berlin auch den einer großen und bedeutsamen Geschichte dieser Stadt voraussetzen zu wollen. Die Ursache hiervon bleibt vielmehr zunächst und in erster Reihe in dem Mangel des festen Materials zu suchen, mit welchem die Städte in Ober- und Mitteldeutschland ihre hohen gotischen Dome und ihre Quadersteinbauten ausführten. Der Sand und Lehm dieser öden Grenzmarken vermochte die unerschöpflichen Steinbrüche jener Länder nicht zu ersetzen. In ihren Erinnerungen, in der Größe und folgewichtigen Tragweite ihrer Geschichte, stehen dagegen eben diese Grenzmarken auch den stolzesten unter jenen anderen Landstrichen nicht nach. Jahrhunderte lang ist um ihren Besitz in einem erbarmungslosen Vernichtungskampfe zwischen den Deutschen und Slaven blutig gerungen worden, und auch nach dem haben bis in das späte Mittelalter die schwersten und uns große Interessen geführten Kriege in diesen Gegenden nicht aufgehört. Die Fehden zwischen dem raublustigen Adel und den Städten, der Streit zwischen den die Herrschaft in den letzteren beanspruchenden Patriziern und dem Zünften stehen dabei an blinder Wut und Hartnäckigkeit hinter den gleichen Vorgängen in den übrigen Teilen Deutschlands sicher nicht zurück. An all diesen Kämpfen aber hat Berlin einen hervorragenden Anteil genommen, denn der Periode als kurfürstliche Residenz geht in der Geschichte dieser Stadt eine andere voraus, in welcher sie sich allein aus eigener Kraft von dem in Sumpf und Moor versteckten Fischerdorfe zu dem Haupt des mächtigen märkischen Städtebundes und zum Glied der Hansa aufgeschwungen hatte. Die Schicksale Berlins sind deshalb auch fortgesetzt für das ganze Land entscheidend gewesen.

Die Geschichte der Städte knüpft an ihre Rathäuser an. Das eben zum Abbruch kommende alte Berliner Rathaus reicht indes in der Zeit seiner Errichtung mir bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts zurück. Das alte und ursprüngliche Rathaus der beiden vereinigten Städte Berlin und Köln war vielmehr auf einem schmalen Landrücken in der beide trennenden Spree gelegen. Dort tagten die Männer, welche die ersten Keime zu der Entwicklung der heutigen Weltstadt gepflanzt haben, und eine Fülle von geschichtlichen Erinnerungen knüpft sich an diese jetzt durch die Eindämmung des Flussbettes bis auf die letzte Spur ausgetilgte Stätte. Dort wurden 1348 von dem Berliner Rat die Boten des mit starker Heeresmacht vor Berlin erschienenen großen Dänenkönigs Waldemar mit Hohn abgewiesen, und die lange, fruchtlose Belagerung dieser Stadt wurde zugleich der Wendepunkt in dem Leben und der Siegesbahn dieses stolzen Fürsten. Vor der Pforte dieses Rathauses rollte in dem Streit der Patrizier mit den Gemeinen 1381 das Haupt des Bürgermeisters Thile Wardenberg in den Staub. Hier ward in der großen Versammlung der märkischen Städte von 1434 jener Zug zum Entsatz des nahen, von den Hussiten schwer bedrängten Bernaus beschlossen, welcher in der großen Schlacht unter den Mauern dieser Stadt am 25. April desselben Jahres die Vernichtung des ganzen hussitischen Heeres herbeiführte, und von eben diesem Rathause zogen 1412 die Bürger von Berlin zur Schlacht am Kremmer Damm, welche trotz ihres unglücklichen Ausgangs die Herrschaft der Hohenzollern in den Marken begründete. Hier endlich ratschlagten die stolzen Männer, welche, pochend auf ihre in so vielen Kämpfen errungene Unabhängigkeit und auf die Festigkeit ihrer noch von keinem Feinde bezwungenen Wälle, den beiden ersten Kurfürsten des hohenzollernschen Stammes, dem ersten und dem anderen Friedrich, das Öffnungsrecht verweigerten, und die 1442 und wiederholt 1448 in dem Streit wider den zweitgenannten Fürsten mehr noch ihrer eigenen Uneinigkeit erlagen, als dass sie von dessen Waffen zur Unterwerfung gezwungen worden wären.

An das andere zweite Rathaus von Berlin knüpfen sich hingegen nicht gleich große und erhebende Erinnerungen. Die Selbstständigkeit Berlins war mit dem Ereignis; von 1448 verloren gegangen und damit zugleich eine andere Zeit in die Marken eingezogen. Die Fürstenmacht erwuchs allmählich zu einer erdrückenden Allgewalt, und die Regungen des freien Bürgersinns mussten vor ihr und dem späteren ausschließlichen brandenburgisch-preußischen Militärstaate mehr und mehr zurücktreten. Nur an furchtbaren Erinnerungen sind diese finsteren Mauern reich. In ihnen spielte das entsetzliche Drama der mit der Verurteilung und Verbrennung von 38 Juden endenden Judenverfolgung von 1510. Von diesem Gebäude trat 1540 Michael Kohlhaas seinen Gang zur Richtstätte an, dieser letzte Repräsentant jener kühnen märkischen Männer, der, ein einfacher Bürger, weil ihm Unrecht geschehen, es gewagt hatte, zweien mächtigen Fürsten, dem Kurfürsten von Sachsen und seinem eignen Landesherrn, offene Fehde zu bieten. In den Kerkern dieses Hauses saß 1573 der Günstling des Kurfürsten Joachim II., der Münzjude Lippold, gefangen und wurde von dort zu seiner scheußlichen Hinrichtung geführt. Unter dem alten, an dem niedrigen vorspringenden Turme dieses Gebäudes befindlichen Wahrzeichen von Berlin, dem sogenannten Kolk, einem steinernen Vogel mit einem Ratsherrnkopf und Eselsohren, sind im Lause der Jahrhunderte zahllose Köpfe in den Sand gerollt. Unmittelbar nach gehegtem Gericht hielt dort der Henker seine blutige Ernte. Von der Erhebung Preußens zu einem Königtum galt vollends in diesen Räumen nur noch jener Spruch, welchem Preußen in dem Unglücksjahre 1806 seine tiefste Demütigung verdankte: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“
Auch der erneute Aufschwung des Bürgertums durch Erlass der Städteordnung von 1808 und die Erhebung des Jahres 1813 stehen zu diesem Gebäude in durchaus keiner Beziehung. Die Einzeichnung der 8.000 freiwilligen Streiter, welche Berlin in dem deutschen Erhebungsjahre zum Befreiungskampf stellte, erfolgte nicht hier, sondern in dem zweiten Kölnischen Rathause an der Breitenstraße, welches erst 1708 seinen jetzigen Ausbau erhielt und in dem seit 1808 auch die eigentlich beschließende und kontrollierende Behörde für Berlin, die Stadtverordneten - Versammlung, ihre Sitzungen hält. Dies Gebäude war es zugleich, das in der Berliner Märznacht vom 18. zum 19. März 1848 so lange und tapfer von den Volkskämpfern behauptet wurde, und noch tragen die Gemälde in seinen Sälen die Kugelspuren jenes hartnäckigen Kampfes.

Jede Zeit und die in ihr herrschende Richtung spiegelt sich in ihren Bauwerken wieder, und der Rathausbau von Berlin bleibt fürwahr für Preußen als ein echtes und wahres Symptom des endlich wieder erstarkten und zu neuer Kraft und einem nie geahnten Aufschwung erwachten Bürgertums zu erachten. Wieder liegt für Berlin der Ausdruck einer neuen Zeit in dem Bau eines neuen Rathauses ausgeprägt. Möge der Hauch der Freiheit in seinen lichten Räumen wehen, mögen Bildung, Recht, Gesittung und freier, stolzer Mannessinn in ihm sich ihre Stätte bereiten, mögen die Erinnerungen, welche sich einst an den jetzt neuen Bau zu knüpfen bestimmt sind, andere sein, als die, welche an dem finsteren und unheimlichen Gebäude haften, das es zu ersetzen bestimmt ist.

Das neue Berliner Rathaus

Das neue Berliner Rathaus