Aus dem Volke - Ein neuer Rock
Aus: Unterhaltungen am häuslichen Herd. Neue Folge. Band 4
Autor: Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist, Erscheinungsjahr: 1859
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg, Mecklenburger, Sitten, Charakter, Kulturgeschichte, Sittengeschichte, Mode, Handwerk, Schneider, Maßschneider
Ein Rock und Ein Gott! heißt der Titel eines kleinen Luftspiels, in welchem sich zwei Studenten in einen einzigen Frack teilen, der ihnen allein zu Gebote steht.
Aber ein einziger Frack lässt noch eine Pikesche, einen Jagdrock, einen gewöhnlichen Gehrock, einen Überzieher, einen Mantel zu.
Aber ein einziger Überrock als ganze Garderobe! . . .
Da ist allerdings die Frage eines neuanzuschaffenden Rocks eine Staats- und Kabinettsfrage.
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Aber ein einziger Frack lässt noch eine Pikesche, einen Jagdrock, einen gewöhnlichen Gehrock, einen Überzieher, einen Mantel zu.
Aber ein einziger Überrock als ganze Garderobe! . . .
Da ist allerdings die Frage eines neuanzuschaffenden Rocks eine Staats- und Kabinettsfrage.
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Niemand kann den Eindruck eines neuen Rocks auf den inneren Menschen und die durch ihn gehobene Stimmung und erhöhtere Selbstwertschätzung so begreifen, als wer nur einen einzigen Rock besitzt. Nur ein solcher wird es ganz verstehen, dass es für den Bruder Mecklenburger ein bedeutungsvoller Tag war als er von seinem Meister das letzte Wochenlohn empfing, das nebst einigen von früheren Wochenlöhnen gemachten Ersparnissen eben hinreicht, zu einem neuen Rocke den Stoff zu kaufen.
Sämtliche Gesellen der Werkstatt, in welcher der Bruder Mecklenburger arbeitet, der Bruder Schlesier und der Bruder Hannoveraner, der Bruder Bayer und der Bruder Württemberger verlassen Schraubstock und Ambos, um den Bruder Mecklenburger zu begleiten und beim Einkauf des Tuches ihr deutsch-einheitliches Gutachten abzugeben.
Dass der Bruder Schlesier sich für grün, der Bruder Bayer für blau, der Bruder Hannoveraner für meliert und der Bruder Württemberger sich für schwarz entscheidet, bestimmt den Bruder Mecklenburger, braun zu wählen.
Als das Tuch abgeschnitten bereits unterm Arme des Eigentümers ruht, ist man mit der Wahl desselben einverstanden und verlässt in Pleno das Verkaufsgewölbe.
Draußen vor demselben betrachtet der Inhaber des künftigen Rocks mit seinen Kameraden sich den Einkauf noch einmal, indem er das Tuch auseinanderrollt und es westlich gegen die Sonne und östlich gegen den Schatten spielen lässt, bis ein vier Treppen auf dem Blumenbrett stehender, überfeuchteter Nelkenstock einige mahnende Tropfen auf das neue Tuch fallen lässt, das der Bruder Mecklenburger unter lautem Protest gegen Blumenbretter säubert, zusammenrollt und wieder unter den Arm nimmt.
Dass fünf Menschen kommen und Tuch zu einem einzigen Rocke bringen, hat für den Schneider nichts Auffälliges. Meister Scheermann steht noch nicht auf dem Standpunkte akademischen Künstlertums, hält keinen Laden mit sich täglich vergrößernden, geschliffenen Glasscheiben und Rechnungen und führt noch das alte, seit lange überwundene, papierene Maß, in welches er die nur von Eingeweihten ganz enträtselten geheimnisvollen Einschnitte macht. Er arbeitet mit Frau und Tochter ohne alle Trigonometrie und ist ganz der Vertrauensmann für Leute wie der Bruder Mecklenburger, die in Bezug auf die langen Rechnungen, welche den fertigen Rock auch damit dokumentieren, dass sie mit liebenswürdigster Naivität aus der Seitentasche herausschauen, für akademische Standpunkte der neuzeitlichen Kleiderkünstler nicht eingenommen sind.
Beim Maßnehmen wiederholt sich die deutsche Einheit in der Verschiedenheit der Ansichten über Schnitt, Futter und Knöpfe. Der Bruder Bayer begutachtet eine weite, der Bruder Schlesier eine gemütlich enge Taille, der Bruder Hannoveraner schlägt blanke und der Bruder Württemberger übersponnene Knöpfe vor. . . . Meister Scheermann, der seine Nadel wie sein Talent zur unumschränkten Verfügung stellt, hat immer nur unmaßgebliche, einem Pariser Modeblatt vom vorigen Jahre entnommene Ansichten, die aber zuletzt doch die bestimmenden bleiben, der Rock erhält einen weiten Leib, damit die Natur des Bruder Mecklenburger sich nicht zu genieren braucht, wenn sie sich entwickeln will, und lange Schöße für die Wechselfälle, die auch die Existenz der „Unaussprechlichen“ erschüttern und diesen ein still „beschauliches“ Leben unterm Schutze langer Rockflügel zum Bedürfnis machen können.
Über Form von Kragen und Ärmel, Stoff des Unterfutters, Größe der Knöpfe, Länge der Taille — und die hundert Gleichgewichtsfragen eines zivilisierten Rocks wird noch des breiteren verhandelt, einige Abnormitäten, die sich die Natur bei der Schöpfung des Bruder Mecklenburger zu Schulden kommen ließ, werden mit einem Anflug errötender Verlegenheit eingestanden, damit Kunst und Watte nachhelfend ausgleichen können und allendlich, nachdem alles gegenseitig schon oft genug Besprochene und Gewünschte noch einmal repetiert wurde, verfügen sich die vereinigten Deutschen auf die Herberge, um den bestellten Rock wie eine geschehene große Tat zu betrinken.
Der nächste Tag ist zwar ein Sonntag, aber der Bruder Mecklenburger streicht ihn aus seinem Leben. Es ist für ihn der „Sylvester“ des alten Rocks, den er mit einer gewissen Indignation anlegt, sich selbst wundernd, wie dieser Rock bis heute in der Geschichte der Zivilisation und er in diesem Rocke habe existieren können. Der Bruder Mecklenburger besucht an diesem Sonntage weder den von ihm sonst frequentierten Tanzsaal, noch die Herberge. Alle neuen Röcke sind hohe Fest- und Feiertagserscheinungen und nächsten Sonntag ist Ostern. Er sucht seine verwandtschaftlichen Empfindungen für eine „alte Muhme“ auf und erneuert mit ihr bei einer Tasse Kaffee mit nur Sonntags und bei seltenen Besuchen gebräuchlichem Weißbrot und Zucker statt Sirups die Erinnerungen an seine selige Mutter und ihren eigenen, seligen Mann.
Vom Montag an hat der Bruder Mecklenburger die beruhigende Empfindung, dass der
Rock in Arbeit ist. Nach einigen Tagen fragt er bei Meister Scheermann an, wie weit der Rock vorgeschritten und kommt eben zurecht, um ihn anzuprobieren. Dass der Rücken zu breit, der Kragen zu hoch, die Ärmel zu lang, findet der Meister nicht auffallend; er kann nachhelfen, korrigieren und den Wuchs des Bruders Mecklenburger noch einmal wie Winckelmann die Antike studieren.
Nachdem der Bruder Mecklenburger noch einmal wegen des Futters, das andere mal wegen der Knopflöcher und endlich noch wegen wiederholten Anprobierens den Schneider besucht, kommt endlich der verheißungsvolle Sonnabend. Der
Schneider, der Rock und die von der Schneidertochter geschriebene Rechnung, die dem Bruder Mecklenburger, unbeschadet seiner Verehrung für das schöne Geschlecht, doch zu hoch erscheint, alles trifft, wie erwartet, ein.
Meister Scheermann erwidert noch kein Wort. Mit dem Schweigen des Künstlerbewusstseins zieht er dem Bruder Mecklenburger nur die Arbeitsjacke herunter und den neuen Rock an. Wie nur erst der Gesell in den Rock hinein ist, stellt ihn der Schneider in die Mitte der Werkstatt zur allgemeinen Ansicht auf und wirft nur einen Blick eines über alle Kritik erhabenen Kunstbewusstseins um sich. Die Schraubstöcke ruhen, Hammer und Ambos feiern, der Blasebalg schweigt erwartungsvoll. Gegenüber den „Unaussprechlichen“ der Werkstatt, die der Bruder Mecklenburger nicht ablegen konnte, einer im Herunterkommen begriffenen Weste und des Vulkangesichts, erhält der Rock ein hohes Fest- und Feiertagsansehen. Der Bruder Mecklenburger empfindet schon jetzt solche Anwandlungen einer erhöhten Sonntagsstimmung, dass seine gegen die sehr gründliche Rechnung aufgestellten Monita schon bedeutend an Schärfe und Gründlichkeit verlieren. Als der Meister nun noch das schöne Tuch und den hübschen Wuchs des Gesellen lobt, dem der Rock wie „angegossen“ sitzt, da hat der Widerstand des Bruder Mecklenburger gegen die Rechnung seine Kraft verloren und der Meister entfernt sich, den vollen Betrag derselben minus einiger nur die Abrundung der Summe hindernden Neugroschen in der Tasche, mit dem frommen Wunsche: „Zerreißen Sie den Rock gesund!“
Der erste Gang des Bruders Mecklenburger am nächsten Sonntag morgen ist in die Kirche.
Die Sitte, neue Kleider zuerst für die Kirche anzuziehen, hat man schon bei den alten Germanen beobachten wollen. Unter dem brennenden Kronleuchter wird auch in der Tat der Glanz seines neuen Rocks für die Umstehenden erst recht bemerkbar, bis, gerade bei der Stelle, wo der Prediger die fünf törichten Jungfrauen schildert, die das Öl vergessen haben, ihm jemand bemerkt, dass er dafür die Anfänge zu einem Wachslicht auf dem Kragen seines neuen Rocks trägt. . . .
Dass dann auf der Straße ein Vorübereilender die lange Aschenspitze seiner Zigarre am neuen Rocke abstößt; dass in einer Restauration ein Billardspieler als alter Freund die Freude des Wiedersehens am neuen Rocke mit fünf Kreidefingern abdrückt; dass ein auf dem schlechten Pflaster der Straße Ausgleitender sich im Fallen an die Schöße des neuen Rocks anklammert und die Plötzlichkeit seines Falles dadurch hindert, dass die Schöße, an einer glücklicherweise versteckten Stelle, langsam aus den Nähten gehen — das sind jene unangenehmen Berührungen mit dem Leben, die uns da am öftersten kommen, wenn wir uns am meisten davor schützen wollen.
Die aufgegangene Naht wird von der Meisterin selbst wiederhergestellt, der Rock wird gereinigt, und so ist der Bruder Mecklenburger, als er nachmittags den Tanzsaal betritt, wieder der „Nette“ und „Schmucke“, der es schon wagen kann, ein bereits engagiertes Mädchen, das bei „Hofrats“ dient, „aufzuziehen“.
Der eigentliche Tänzer des Mädchens aber, ein Tischler, der, um eine Erfrischung zu holen, abseits gegangen war, kommt eben zurück. Der Bruder Mecklenburger ist im lustigen deutschen Walzer mit Hofrats Christel. Wie der Tischler dem Bruder Mecklenburger zornentbrannt ein Bein stellt und dieser im 3/8 Takt durch den Saal hinschießt immer mit der Nase am Fußboden und Hofrats Christel hinterdrein und sich diese Rohheit des Tischlers wiederholt, da ist gleich das Signal zum allgemeinen Aufstande gegeben. Der Bruder Mecklenburger gibt dem Tischler eine Ohrfeige.
Leider erhält er zwei dafür zurück. . . . Eine bleibt Rest. . . .
Was ist zu tun? Um das Saldo auszugleichen, prügeln sich beide summarisch. Ein Dritter kommt hinzu und arbeitet zuerst auch am Tischler, ein vierter aber am Mecklenburger, ein Fünfter am Dritten und ein Sechster am Vierten. Der Wirt hämmert dann friedestiftend auf alle mit nachahmungswerter Unparteilichkeit ein, bis er selbst Prügel bekommt, die Musiker schweigen und „die Patrouille kommt. . . .“ Allgemeine Erstarrung Aber die Musiker spielen, geistesgegenwärtig plötzlich einen Walzer, das wirkt wie Hüon’s Horn, der Bruder Mecklenburger und Tischler, die sich eben an den Haaren haben, springen vom Boden auf und tanzen in dieser Situation vor, ein Schuster folgt mit einem Schneider, den er noch abklopft; hierauf ein Bäcker, der einen Blaufärber als Teig behandelte und so fort, bis endlich der Wirt solo den Reihen beschließt und die Ordnung hergestellt ist. Die Patrouille entfernt sich. Es ist das stillste Lokal der Stadt.
Aber der neue Rock!
Während der rechte Ärmel griechisch offen, ist der linke spanisch geschlitzt. Der rechte Flügel hat die Kürze eines altdeutschen Waffenrocks und der linke die Schnitt eines Frackschoßes aus der Zopfzeit. Der Rücken ist sanft auseinander gegangen und am Kragen schaut die graue Unterlage zwischen dem Tuche hervor.
Der Bruder Mecklenburger, als ihm ein schmaler Pfeilerspiegel sein Bild reflektiert, steht sehr betroffen. . . . Die Wünsche der besten Menschen lassen doch sonst so lange auf sich warten, wenn sie sich überhaupt erfüllen, und dieser gutgemeinte Wunsch des Schneiders „Zerreißen Sie den Rock gesund!“ wie schnell hat er sich verwirklicht!
Man lächelt darüber. . . .
Aber ein neuer Rock, die Frucht einer Jahresersparnis, ist im Volke mehr als ein neues Pferd, das man eben für 100 Louisdor kaufte und einige Tage darauf, weil es statisch ist, um 20 wieder abgeben muss; mehr als ein türkischer Shawl, der im Foyer der Oper vergessen wurde und gegen eine noch so angemessene Belohnung von keinem ehrlichen Finder zurückgebracht wird. . . .
Der Bruder Mecklenburger bedarf mindestens ein halbes Jahr, um mit seinem Dasein als zivilisierter Mensch des 19. Jahrhunderts wieder zufrieden zu sein.
Sämtliche Gesellen der Werkstatt, in welcher der Bruder Mecklenburger arbeitet, der Bruder Schlesier und der Bruder Hannoveraner, der Bruder Bayer und der Bruder Württemberger verlassen Schraubstock und Ambos, um den Bruder Mecklenburger zu begleiten und beim Einkauf des Tuches ihr deutsch-einheitliches Gutachten abzugeben.
Dass der Bruder Schlesier sich für grün, der Bruder Bayer für blau, der Bruder Hannoveraner für meliert und der Bruder Württemberger sich für schwarz entscheidet, bestimmt den Bruder Mecklenburger, braun zu wählen.
Als das Tuch abgeschnitten bereits unterm Arme des Eigentümers ruht, ist man mit der Wahl desselben einverstanden und verlässt in Pleno das Verkaufsgewölbe.
Draußen vor demselben betrachtet der Inhaber des künftigen Rocks mit seinen Kameraden sich den Einkauf noch einmal, indem er das Tuch auseinanderrollt und es westlich gegen die Sonne und östlich gegen den Schatten spielen lässt, bis ein vier Treppen auf dem Blumenbrett stehender, überfeuchteter Nelkenstock einige mahnende Tropfen auf das neue Tuch fallen lässt, das der Bruder Mecklenburger unter lautem Protest gegen Blumenbretter säubert, zusammenrollt und wieder unter den Arm nimmt.
Dass fünf Menschen kommen und Tuch zu einem einzigen Rocke bringen, hat für den Schneider nichts Auffälliges. Meister Scheermann steht noch nicht auf dem Standpunkte akademischen Künstlertums, hält keinen Laden mit sich täglich vergrößernden, geschliffenen Glasscheiben und Rechnungen und führt noch das alte, seit lange überwundene, papierene Maß, in welches er die nur von Eingeweihten ganz enträtselten geheimnisvollen Einschnitte macht. Er arbeitet mit Frau und Tochter ohne alle Trigonometrie und ist ganz der Vertrauensmann für Leute wie der Bruder Mecklenburger, die in Bezug auf die langen Rechnungen, welche den fertigen Rock auch damit dokumentieren, dass sie mit liebenswürdigster Naivität aus der Seitentasche herausschauen, für akademische Standpunkte der neuzeitlichen Kleiderkünstler nicht eingenommen sind.
Beim Maßnehmen wiederholt sich die deutsche Einheit in der Verschiedenheit der Ansichten über Schnitt, Futter und Knöpfe. Der Bruder Bayer begutachtet eine weite, der Bruder Schlesier eine gemütlich enge Taille, der Bruder Hannoveraner schlägt blanke und der Bruder Württemberger übersponnene Knöpfe vor. . . . Meister Scheermann, der seine Nadel wie sein Talent zur unumschränkten Verfügung stellt, hat immer nur unmaßgebliche, einem Pariser Modeblatt vom vorigen Jahre entnommene Ansichten, die aber zuletzt doch die bestimmenden bleiben, der Rock erhält einen weiten Leib, damit die Natur des Bruder Mecklenburger sich nicht zu genieren braucht, wenn sie sich entwickeln will, und lange Schöße für die Wechselfälle, die auch die Existenz der „Unaussprechlichen“ erschüttern und diesen ein still „beschauliches“ Leben unterm Schutze langer Rockflügel zum Bedürfnis machen können.
Über Form von Kragen und Ärmel, Stoff des Unterfutters, Größe der Knöpfe, Länge der Taille — und die hundert Gleichgewichtsfragen eines zivilisierten Rocks wird noch des breiteren verhandelt, einige Abnormitäten, die sich die Natur bei der Schöpfung des Bruder Mecklenburger zu Schulden kommen ließ, werden mit einem Anflug errötender Verlegenheit eingestanden, damit Kunst und Watte nachhelfend ausgleichen können und allendlich, nachdem alles gegenseitig schon oft genug Besprochene und Gewünschte noch einmal repetiert wurde, verfügen sich die vereinigten Deutschen auf die Herberge, um den bestellten Rock wie eine geschehene große Tat zu betrinken.
Der nächste Tag ist zwar ein Sonntag, aber der Bruder Mecklenburger streicht ihn aus seinem Leben. Es ist für ihn der „Sylvester“ des alten Rocks, den er mit einer gewissen Indignation anlegt, sich selbst wundernd, wie dieser Rock bis heute in der Geschichte der Zivilisation und er in diesem Rocke habe existieren können. Der Bruder Mecklenburger besucht an diesem Sonntage weder den von ihm sonst frequentierten Tanzsaal, noch die Herberge. Alle neuen Röcke sind hohe Fest- und Feiertagserscheinungen und nächsten Sonntag ist Ostern. Er sucht seine verwandtschaftlichen Empfindungen für eine „alte Muhme“ auf und erneuert mit ihr bei einer Tasse Kaffee mit nur Sonntags und bei seltenen Besuchen gebräuchlichem Weißbrot und Zucker statt Sirups die Erinnerungen an seine selige Mutter und ihren eigenen, seligen Mann.
Vom Montag an hat der Bruder Mecklenburger die beruhigende Empfindung, dass der
Rock in Arbeit ist. Nach einigen Tagen fragt er bei Meister Scheermann an, wie weit der Rock vorgeschritten und kommt eben zurecht, um ihn anzuprobieren. Dass der Rücken zu breit, der Kragen zu hoch, die Ärmel zu lang, findet der Meister nicht auffallend; er kann nachhelfen, korrigieren und den Wuchs des Bruders Mecklenburger noch einmal wie Winckelmann die Antike studieren.
Nachdem der Bruder Mecklenburger noch einmal wegen des Futters, das andere mal wegen der Knopflöcher und endlich noch wegen wiederholten Anprobierens den Schneider besucht, kommt endlich der verheißungsvolle Sonnabend. Der
Schneider, der Rock und die von der Schneidertochter geschriebene Rechnung, die dem Bruder Mecklenburger, unbeschadet seiner Verehrung für das schöne Geschlecht, doch zu hoch erscheint, alles trifft, wie erwartet, ein.
Meister Scheermann erwidert noch kein Wort. Mit dem Schweigen des Künstlerbewusstseins zieht er dem Bruder Mecklenburger nur die Arbeitsjacke herunter und den neuen Rock an. Wie nur erst der Gesell in den Rock hinein ist, stellt ihn der Schneider in die Mitte der Werkstatt zur allgemeinen Ansicht auf und wirft nur einen Blick eines über alle Kritik erhabenen Kunstbewusstseins um sich. Die Schraubstöcke ruhen, Hammer und Ambos feiern, der Blasebalg schweigt erwartungsvoll. Gegenüber den „Unaussprechlichen“ der Werkstatt, die der Bruder Mecklenburger nicht ablegen konnte, einer im Herunterkommen begriffenen Weste und des Vulkangesichts, erhält der Rock ein hohes Fest- und Feiertagsansehen. Der Bruder Mecklenburger empfindet schon jetzt solche Anwandlungen einer erhöhten Sonntagsstimmung, dass seine gegen die sehr gründliche Rechnung aufgestellten Monita schon bedeutend an Schärfe und Gründlichkeit verlieren. Als der Meister nun noch das schöne Tuch und den hübschen Wuchs des Gesellen lobt, dem der Rock wie „angegossen“ sitzt, da hat der Widerstand des Bruder Mecklenburger gegen die Rechnung seine Kraft verloren und der Meister entfernt sich, den vollen Betrag derselben minus einiger nur die Abrundung der Summe hindernden Neugroschen in der Tasche, mit dem frommen Wunsche: „Zerreißen Sie den Rock gesund!“
Der erste Gang des Bruders Mecklenburger am nächsten Sonntag morgen ist in die Kirche.
Die Sitte, neue Kleider zuerst für die Kirche anzuziehen, hat man schon bei den alten Germanen beobachten wollen. Unter dem brennenden Kronleuchter wird auch in der Tat der Glanz seines neuen Rocks für die Umstehenden erst recht bemerkbar, bis, gerade bei der Stelle, wo der Prediger die fünf törichten Jungfrauen schildert, die das Öl vergessen haben, ihm jemand bemerkt, dass er dafür die Anfänge zu einem Wachslicht auf dem Kragen seines neuen Rocks trägt. . . .
Dass dann auf der Straße ein Vorübereilender die lange Aschenspitze seiner Zigarre am neuen Rocke abstößt; dass in einer Restauration ein Billardspieler als alter Freund die Freude des Wiedersehens am neuen Rocke mit fünf Kreidefingern abdrückt; dass ein auf dem schlechten Pflaster der Straße Ausgleitender sich im Fallen an die Schöße des neuen Rocks anklammert und die Plötzlichkeit seines Falles dadurch hindert, dass die Schöße, an einer glücklicherweise versteckten Stelle, langsam aus den Nähten gehen — das sind jene unangenehmen Berührungen mit dem Leben, die uns da am öftersten kommen, wenn wir uns am meisten davor schützen wollen.
Die aufgegangene Naht wird von der Meisterin selbst wiederhergestellt, der Rock wird gereinigt, und so ist der Bruder Mecklenburger, als er nachmittags den Tanzsaal betritt, wieder der „Nette“ und „Schmucke“, der es schon wagen kann, ein bereits engagiertes Mädchen, das bei „Hofrats“ dient, „aufzuziehen“.
Der eigentliche Tänzer des Mädchens aber, ein Tischler, der, um eine Erfrischung zu holen, abseits gegangen war, kommt eben zurück. Der Bruder Mecklenburger ist im lustigen deutschen Walzer mit Hofrats Christel. Wie der Tischler dem Bruder Mecklenburger zornentbrannt ein Bein stellt und dieser im 3/8 Takt durch den Saal hinschießt immer mit der Nase am Fußboden und Hofrats Christel hinterdrein und sich diese Rohheit des Tischlers wiederholt, da ist gleich das Signal zum allgemeinen Aufstande gegeben. Der Bruder Mecklenburger gibt dem Tischler eine Ohrfeige.
Leider erhält er zwei dafür zurück. . . . Eine bleibt Rest. . . .
Was ist zu tun? Um das Saldo auszugleichen, prügeln sich beide summarisch. Ein Dritter kommt hinzu und arbeitet zuerst auch am Tischler, ein vierter aber am Mecklenburger, ein Fünfter am Dritten und ein Sechster am Vierten. Der Wirt hämmert dann friedestiftend auf alle mit nachahmungswerter Unparteilichkeit ein, bis er selbst Prügel bekommt, die Musiker schweigen und „die Patrouille kommt. . . .“ Allgemeine Erstarrung Aber die Musiker spielen, geistesgegenwärtig plötzlich einen Walzer, das wirkt wie Hüon’s Horn, der Bruder Mecklenburger und Tischler, die sich eben an den Haaren haben, springen vom Boden auf und tanzen in dieser Situation vor, ein Schuster folgt mit einem Schneider, den er noch abklopft; hierauf ein Bäcker, der einen Blaufärber als Teig behandelte und so fort, bis endlich der Wirt solo den Reihen beschließt und die Ordnung hergestellt ist. Die Patrouille entfernt sich. Es ist das stillste Lokal der Stadt.
Aber der neue Rock!
Während der rechte Ärmel griechisch offen, ist der linke spanisch geschlitzt. Der rechte Flügel hat die Kürze eines altdeutschen Waffenrocks und der linke die Schnitt eines Frackschoßes aus der Zopfzeit. Der Rücken ist sanft auseinander gegangen und am Kragen schaut die graue Unterlage zwischen dem Tuche hervor.
Der Bruder Mecklenburger, als ihm ein schmaler Pfeilerspiegel sein Bild reflektiert, steht sehr betroffen. . . . Die Wünsche der besten Menschen lassen doch sonst so lange auf sich warten, wenn sie sich überhaupt erfüllen, und dieser gutgemeinte Wunsch des Schneiders „Zerreißen Sie den Rock gesund!“ wie schnell hat er sich verwirklicht!
Man lächelt darüber. . . .
Aber ein neuer Rock, die Frucht einer Jahresersparnis, ist im Volke mehr als ein neues Pferd, das man eben für 100 Louisdor kaufte und einige Tage darauf, weil es statisch ist, um 20 wieder abgeben muss; mehr als ein türkischer Shawl, der im Foyer der Oper vergessen wurde und gegen eine noch so angemessene Belohnung von keinem ehrlichen Finder zurückgebracht wird. . . .
Der Bruder Mecklenburger bedarf mindestens ein halbes Jahr, um mit seinem Dasein als zivilisierter Mensch des 19. Jahrhunderts wieder zufrieden zu sein.