Erste Fortsetzung

„Gott", sprach sie, „wie wird sich der arme fremde Herr freuen, wenn ich ihm einen warmen Tee machen und morgen etwas Gutes kochen kann! Sie glauben nicht, lieber Herr, wie leid uns dieser Fremde tut; es geht ihnen so schlecht und er hat doch gewiss ein besseres Los verdient. Wir haben, so lange es ging, Alles mit ihm geteilt, aber sehen Sie, wir sind arme Arbeitsleute, denen es recht sauer wird, ihr Stückchen Brot zu verdienen, und die leider nicht viel zu teilen haben; heute Morgen nun haben wir die letzte Kopeke ausgegeben, und da wissen wir wirklich nicht. . ." Ein heftiges Schluchzen unterbrach die Frau, und man brauchte ihr nur ins Auge zu schauen, um sich zu überzeugen, dass diese Tränen, Tränen des schönsten Mitleids waren, die um so reichlicher flossen, je mehr sich das gute, teilnehmende Herz von der eigenen Hilflosigkeit überzeugte. Olga fügte ganz leise hinzu, dass die Mutter das letzte Geld verwendet hätte, um dem Fremden ein paar Eier kochen zu können. „Wo ist denn jener Fremde?" fragte ich.

„Dort im Nebenzimmer", antwortete Olga, „da sitzt er oft bis spät Nachts ohne Licht und grübelt darüber nach, wie er wieder nach seiner Heimat komme."


Es drängte mich, mit dem Manne, der diesen armen Russen so viel Mitleid einflößte, zu sprechen. Ich bat deshalb Olga, mich bei ihm zu melden. Rasch kehrte das junge Mädchen zurück, zündete eines mit Öl getränkten Holzspahn an und führte mich in das Nebenzimmer. Ein junger schlanker Mann von dreißig Jahren, ein deutscher Landsmann, begrüßte mich, und als ich ihm erzählt, wie ich hierher gekommen, teilte er mir auf meine Aufforderung seine Lage mit.

„O die Toren", begann er, „die sich durch Besprechungen und eitle Illusionen verleiten lassen, eine schöne Zeit ihres Lebens in dieser nordischen Wildnis unter tausend harten Entbehrungen nutzlos zu verbringen! Wie viele hat man nicht in dieses Land gelockt, und wohl dem, der nicht in allzu großer Armut und mit nicht allzu großer Verbitterung wieder heimziehen kann! Denken Sie nur an die große Menge fremder Arbeiter, die von gewissenlosen Agenten unter Versprechungen, die man ihnen gar nicht halten kann und die ein ehrlicher Russe auch gar nicht machen würde, alljährlich für Russland geworben werden. Sie ziehen hin voller Hoffnung und träumen sich wohl gar den Himmel auf Erden, haben sie indes erst einmal Alles, was ihnen daheim lieb und Wert und zur Gewohnheit geworden war, eine gewisse Zeit entbehren müssen und eine Einsicht in die Verhältnisse gewonnen, wie enttäuscht und wie arm ziehen sie heim! So habe auch ich mich durch glänzende Versprechungen und — ich bekenne es offen — durch Illusionen zur Auswanderung nach Russland verleiten lassen. Ich bin Architekt, und Protektionen von hochgestellten Personen meines Heimatstaates, warme Empfehlungen an hiesige einflussreiche Männer und die Versicherung derselben, Alles für mich tun zu wollen, was in ihren Kräften stehe, ließen mich hoffen, dass ich in einer Zeit, wo der Staat so großartige Bauten unternimmt und der fremden Kräfte mehr wie je bedarf, hier eher als im Vaterlande meinen Wirkungskreis finden würde. Aber ich habe gesehen, welchen Wert jene Versprechungen haben; nach langem Harren bin ich, da meine Barschaft nicht bedeutend und es mir bei redlichstem Bemühen nicht möglich war, mir meinen Unterhalt zu verdienen, in die äußerste Bedrängnis; gekommen und überzeugt, dass ich ohne diese brave russische Familie, bei der ich nun schon lange wohne, dem Hungertod nahe gewesen wäre." Und dann bestätigte er nicht nur alles das, was die Russin mir selbst erzählt hatte, sondern fügte unter Andern noch hinzu, wie er hinterher erfahren, dass seine Wirtin zuweilen alle ihre Wertstücke auf das Leihhaus getragen habe, bloß ein aus dem Erlöse für seine geringen Bedürfnisse sorgen zu können. Lange saßen wir so im Gespräche zusammen, endlich verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen. Kurz darauf wurde für die Heimkehr des Landsmannes durch Freunde und Bekannte gesorgt; die braven Russen und ein paar andere Freunde geleiteten ihn an Bord des Schiffes, und mit einem herzlichen „Habt Dank für eure Treue!" schied er von der in ihren Goldkuppeln strahlenden Residenz, die ihm wie so manchem Fremden eine Leidensstätte gewesen war. Die aufopfernde Liebe der Russen aber, von der ich hier erzählt, steht nicht allein, sie ist in allen Teilen Russlands zu finden. B.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auch eine Karriere in Russland.
007 St. Petersburg, Die Börse

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008 St. Petersburg, Der Kaiserliche Winterpalst

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009 St. Petersburg, Die Isaakskirche

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010 Volksleben in Petersburg

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011 St. Petersburg, Fest der Wasserweihe auf der Newa

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012 St. Petersburg, Droschke

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013 St. Petersburg, Der Narwa- Triumphbogen (Errichtet 1816)

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