Arnstadt - Residenzstadt, Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen / Thüringen

Arnstadt, 900' ü. M., die zweite Residenzstadt des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen, fast in der Mitte des gesegneten Thüringens, am Fuße eines der Vorgebirge des „Waldes“, an der steilen Alteburg (1223' ü. M.) gelegen, wird von der für Gerbereien wichtigen, aus dem Jonasthal kommenden Weisse durchrieselt, einem Bächlein, das in die längs der Stadt nordöstlich hinströmende Gera fällt. Der Boden ist für den Frucht- und Gartenbau sehr geeignet, daher hier alle Feldfrüchte gut gedeihen, die anmuthigen Berggärten kultivirt sind, überhaupt die ganze Gegend mit einem großen Reichtum schöner Pflanzen ausgestattet ist. Die Salubrität des Ortes — keine Cholera, keine Ruhr; Typhus und Wechselfieber meist nur eingeschleppt; unter den 6.000 Einwohnern geringe Sterblichkeit, hohes Alter — bereits seit Jahrhunderten erkannt, ward aufs neue veranschlagt, als Arnstadt, wenn man ein durch Kälte imponirendes Gera-Flussbad abrechnet, im Jahre 1851 sich als Badestadt hervortat.

Den vielfachen Verdiensten, welche sich die Geologen und Salinisten um Auffindung des Steinsalzes in Thüringen erworben haben, verdankt auch Arnstadt seine Soolquelle (10° R. bei 916' Tiefe), welche unter Leitung des Ingenieur-Lieutenants Rost von August 1845 bis Mai 1849 erbohrt wurde. Der Betrieb des Werkes, eine halbe Stunde unterhalb der Stadt bei dem Dorfe Rudisleben, Arnshall genannt, geschieht durch Wasserkraft. Es befindet sich in den Händen einer Privatgesellschaft, des Soolbadevereins. Die Soole enthält in einem Pfunde 1406 Gran Chlornatrium, 71 Gran Chlorkalium, 64 Gran Chlormagnesium, 8 Gran schwefelsauren Kalk, dazu 1/10 Gran Brommagnesium und 6/100 Gran kohlensaures Eisenoxydul; ihre festen Bestandtheile variirten von 25 bis 15%, Schwankungen, welche nicht stattfinden würden, wenn das Bohrloch eine größere Tiefe hätte. Wegen dieser Ungleichmäßigkeit, die im Lauf der Jahre nicht wich, aber zum Nachteil der jungen Quelle vielfach ausgebeutet ward, bedient man sich des Aräometers, um die absolute Schwere der Soole bei jedem einzelnen Bade zu bestimmen.


Die Sool- und Mutterlaugenbäder zu Arnstadt wirken aufsaugend und zugleich stärkend, sowohl durch die günstigen Mischungsverhältnisse des kohlensauren Eisenoxyduls und der Chlor- und Kochsalzverbindungen, als durch die nervenstählende Reinheit der Luft und des Sonnenlichtes. Der Aufenthalt ist daher für Skrofulose geschaffen, ganz besonders für skrofulose Kinder, von dem Ergriffensein der Lymph-, Bronchial-, Gekrösdrüsen bis zur Knochenhaut, den Knochen und Gelenken. In der zweiten und dritten Woche des Badens zeigt sich gewöhnlich heftige Reizung des Hautorgans, ein eigentümliches Fressen und anhaltendes Jucken: Folge der ungewohnten Einwirkung auf die Haut, sowie einer gesteigerten funktionellen Thätigkeit derselben. Es tritt dann öfters allgemeine fieberhafte Reaktion hinzu: Misbehagen und Verstimmung, Abneigung gegen die Bäder, Kopfweh, Appetitmangel, Mattigkeit, gesättigter Harn, Verstopfung. Diesen Vorläufern folgt nun eine Hauteruption, welche in kleinen Knötchen oder in größeren Pusteln besteht, in unbedeutender Abschilferung oder in furunkuloser Geschwürs - und Milchschorfbildung. Am besten wirken die Soolbäder kühl genommen und nicht zu kurze Zeit, z. B. 25 — 26° R. ½ Stunde lang, natürlich stets nach ärzlicher Bestimmung des individuellen Falles. Vor dem Beginn der Kur ein einfaches Wasserbad. Dr. Niebergall lässt in seinem Badehause in der Regel die Soolbäder bis 3, höchstens 4% nehmen, den Zusatz von Mutterlauge bis 3, höchstens 6 Quart zu dem Wasser- oder Soolquantum. Die Ärzte verordnen zu hohe Prozente, weil sie weder die Wirkungen der Soolbäder studiert haben, noch wissen, wie örtlicher Überfluss oder Mangel die Brunnenärzte die Dosen motivieren lehrte. Dr. Niebergall hat in der „Riedquelle“ eine wesentliche Unterstützung zu den Soolbädern gefunden. Man versteht hierunter die salinische Trinkquelle auf dem Ried, zwischen Dosdorf und Plaue bei Schierholz' Massenmühle — eine Soolquelle, die in einem Pfunde 26 Gran Kochsalz enthält, 3 Gran schwefelsauren Kalk, l ½ Gran schwefelsaures Natron und 1 Gran kohlensauren Kalk —, deren sich jener Arzt in Gemisch mit der Arnstädter Soole zu Trinkkuren bedient: ein gelindes Abführmittel bei torpider Skrofulosis für schwächliche Personen und Kinder. Nicht zu verwechseln ist hiermit das „Riethwasser“ in Arnstadt selbst, welches am Fuß der Alteburg entspringend den Rieth, Kohlenmarkt und Holzmarkt, d. i. die untere Stadt mit Trinkwasser versorgt, im Gegensatz zum Trinkwasser der oberen Stadt, das dorthin von der Quelle auf dem Schönbrunnen (1526) mittelst Pumpwerk getrieben wird. Jenes frischere Riethwasser hat weniger Kalkteile, wird deshalb als Trinkwasser vorgezogen und besonders betont, weil nämlich das Arnstädter Wasser, reichlich Kalk- und Tuffteile enthaltend, zwar diejenigen, welche habituell und vollends auf Reisen zu Diarrhoe neigen, sicherstellt, dagegen die Mehrzahl der mit Verstopfung behafteten Gäste desto ärger belästigt, so dass um deswillen schon mancher „pedantische“ Professor in seinem Ferien-farniente, manche „lebensmüde“ Wittwe, die der Diät recht con amore leben wollte, zum „Marienbader-Kreuz“ greifen musste, — denn, um von Honigkuchen und saurer Milch zu schweigen, die milden Magnesia-Pastillen wie der erprobte „Kannenwurf“ versagten ihre Dienste. Und solche Abführung wider Willen ist hier um so empfindlicher, weil Gemüth und Geblüt, das durch die eigenartigen Umgebungen der Stadt mit ihren freundlichen Bewohnern an Naturgenüssen täglich erstarkt, nicht erregt und in Wallung gesetzt werden will.

Die Badeliste, welche im ersten Jahre 150 Personen aufführte, ist nach 10 Jahren höchstens bis auf 300 angewachsen: ein Resultat, welches tief blicken lässt in die Differenz zwischen den günstigen Mitteln und der lässigen Verwendung. Kein öffentliches Badehaus, kein Kursaal, keine Kaffeestation; weder Staat noch Stadt hat die Soolquelle für die Kurgäste zum Nutzen und der romantischen Gegend zur Folie verwertet; während der letzteren Jahre aber ist „der Zopf bis zur Sohle heruntergerückt“, so dass Dr. Niebergall mit seinem Privatbadehaus 1860 ein Deus ex machina erschien (dem 1863 die Villa Hamann gefolgt ist), ohne welchen des isolierten Arnstadt Sommergäste in Passanten für Rudolstadt, Ilmenau und Elgersburg verwandelt wären. Durch Verwendung des Dr. Häring, welcher hier sein Asyl gefunden zu haben wähnte, hielten zwar die Frankfurter Schnellzüge in der von Arnstadt l ½ Meilen entfernten Station, der Herrnhuter - Kolonie Neudietendorf an, aber die Thurnundtaxisschen Postwägen (richtiger „Postkästen“) blieben eng und schmutzig. Die Kochkunst ferner steht annoch auf niedriger Stufe; so dass, vollends bei den köstlichen Zutaten der saftigen Gemüse und des billigen Fleisches, die eigene Menage zu empfehlen wäre, die zugleich dem leidigen Gespräch über „hartes Fleisch“, „mit Leinkuchen gefütterte gekochte Tauben“, über „Mohnöl-Salat“ (molto aceto, ma com' ogliata!) und „Kompot ohne Zucker“ — die goldene Henne heißt das Hotel, außer denen Eisenachs das beste in Thüringen — ein Ende machte, wenn nicht gerade in dem Loskommen von den Dienstleuten und den häuslichen Nergeleien für viele Hausfrauen die Würze der Reise und Waldrast bestände. Überhaupt kommt ein gut Teil der Geschmacklosigkeit auf die Thüringer — daher die erwähnten Mängel sämtlichen dortigen Fichtennadelbädern ankleben —, die noch heute sind wie sie Lewes aus der Zeit Göthes, welcher ihre Hässlichkeit dem häufigen Kuchengenuss — (etwa Zwiebelkuchen?) zuschrieb, treffend konterfeit hat.

Aber trotz alledem und alledem bietet Arnstadt — der Lage nach das „Soden“ von Thüringen, die Mitte haltend zwischen Flachland und Hochwald wie zwischen Einöde und Strassenlärm — eine Freistätte für den afficirten Grossstädter: diese lichte „Rosen-“ und schattige „Lindenstadt“, oder um des Kunstverständigen Panofka Witz zu wiederholen „die Arnostadt, ein anderes Firenze“, mit ihren Kunst- und Handelsgärten, Spaziergängen und Parkanlagen, Denkwürdigkeiten und Stillleben. Als der Abt des Franziskanerklosters, wo die Geistlichen von Erfurt abzusteigen pflegten, Dr. Luthern nahe der Schwedenschanze auf die die Stadt beherrschende Alteburg führte, und die roten Dächer, im Grün versteckt, ihm entgegenleuchteten, soll der Reformator das Gleichnis erfunden haben, das komme ihm vor wie eine Schüssel mit Krebsen in Petersilie; heutzutage würde er des von dem Schützenpark „Schönbrunnen“ (1475) aufsteigenden Dampfes der Bratwürste — mit dem Weizenbier (1617) für die Fremden „unvermeidlich“ für Stammgäste „unvergleichlich“ — nicht unerwähnt gelassen haben. Als lebensvolle Tradition aus jener Zeit schlagen die katholischen Glocken der geplünderten gothischen Liebfrauenkirche, welche fort und fort verwittert, das „Ave Maria“ an, wie die wandelnden Choräle als reinste Mahntöne des verblichenen Luthertums durch die Gassen ziehen: beide Reminiscenzen tun wohl, tragen ihr Urgepräge, bleiben bis zur Stunde in der rationalistischen Reformationswiege latent. Von dem Fürstenberg, einer der Stadt nahen Anhöhe, tritt jene Bezeichnung Luthers lieblicher hervor, noch malerischer von den östlichen Höhen, wo das thurmreiche Städtchen in seiner kesselartigen Lage von einem mächtigen Bergkastell überragt scheint — eine perspektivische Täuschung: denn der Kegel, auf dem sich eine der „Gleichen“ erhebt, die Wachsenburg (Waffenburg), liegt eine gute Stunde nordwestlich in die Ebene hinein. Aber die Aussicht von jenem Fürstenberg rechtfertigt die Benennung Arnstadts „Pforte zum Thüringerwalde“, wenn man nach rückwärts in den Plauischen Grund mit üppigem Wiesenteppich und blendenden Weizenfeldern schaut: das Gerathal — unabweislich an das Karlsbader Tepelthal hinter dem „Freundschaftssaal“ gen Hammer erinnernd — mit den schönen Linien seiner Uferberge, der Ehrenburg, dieser aufragenden Wächterin des tieferen Thales, und der Hinterdekoration des thüringer Hochwaldes, dem Schneekopf, der Schmücke und dem Beerberg. Waldluft mit Gartenduft! sammetartige Weiche — „als wenn die Lungen auf Plüsch gingen“, wie Dr. Hammer, der humoristische Physikus, von Berlin kommend, empfand.

In Arnstadt wurde der Dichter der Gesundbrunnen, Dr. Neubeck, geboren (1765); Palleske, der durch sein „Schillers Leben und Werke“ beim Nationalfest 1859 den Vogel — den Adler der Gegenwarts-Zweifel — abschoss, weilte daselbst vor seiner Übersiedelung nach Weimar; Wilibald Alexis nahm bei seinem ersten Besuch (1851) so für die Vorzüge Arnstadts Partei, dass er es allmälig zur zweiten Heimat machte. Sein „Bild aus Thüringen“, welches er hier entwarf — eine der gelungensten Zeichnungen dieses „preussischen Walter Scott“ — charakterisiert Stadt und Land vortrefflich.


Arnstadt, Alte Stadtmauer

Arnstadt, Alte Stadtmauer

Arnstadt, Bismarckbrunnen

Arnstadt, Bismarckbrunnen

Arnstadt, Marktplatz

Arnstadt, Marktplatz

Arnstadt, Oberversicherungsamt

Arnstadt, Oberversicherungsamt

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